Wenn man den Fernsehkrimis glaubt, ist Mord die mit Abstand häufigste Straftat. Selbst in den abgelegensten Dörfern an der Küste oder in den Alpen geht der Serienmörder um. In der Realität kommen Mord und Totschlag mit einem statistischen Anteil von 0,1 Prozent nur höchst selten vor. Nicht der Mörder beschäftigt die Gerichte, sondern der Hühner- und Eierdieb. Die Spitzenreiter der jährlich knapp sechs Millionen erfassten Straftaten sind folgende: 14
Der einfache Diebstahl ist mit ca. 17 Prozent aller begangenen Diebstähle das Topdelikt. Meist handelt es sich um Ladendiebstahl. Über 250 000 Ladendiebstähle werden jährlich in Deutschland angezeigt. Allerdings gibt es eine hohe Dunkelziffer von mindestens 98 Prozent. Zur Anzeige gebracht wird der Diebstahl nur, wenn er sofort bemerkt wird und die Personalien des Täters festgestellt werden können. Doch nur zu oft wird der Warenschwund erst später im Rahmen einer Inventur bemerkt.
Aus Richtersicht sind Ladendiebstähle einfache Fälle, denn die Beweislage ist sehr gut. Meist hat der Ladendetektiv den Dieb zunächst auf der Videoüberwachungsanlage beobachtet. Moderne Geschäfte haben an ihren Decken eine ganze Batterie Kameras, die die gesamte Ladenfläche abdecken. Auf dem Video ist zu sehen, wie der Täter die Ware aussucht, sich sichernd umschaut und sie dann in Jacke oder Rucksack steckt. Wenig später ist er zu sehen, wie er, ohne zu bezahlen, die Kasse passiert. Am Ausgang wird er schon vom Ladendetektiv erwartet und ins Büro geführt. Es wird ein Diebstahlsprotokoll aufgenommen und es werden Fotos der Diebesbeute gemacht. Die meisten Ladendiebe versuchen gar nicht erst, die Tat zu bestreiten.
Ladendiebstähle werden meist mit Geldstrafen belegt.
Auch Fahrraddiebstähle sind ein Massendelikt. Im Jahr 2021 wurden der Polizei 233 584 Fälle angezeigt. 15 Es gibt allerdings eine hohe Dunkelziffer, da die Bestohlenen eine Strafanzeige angesichts einer mageren Aufklärungsquote von 10 Prozent nur erstatten, wenn sie sie zur Vorlage bei der Versicherung brauchen. Ist das Fahrrad wie so oft nicht versichert, sparen sie sich die Mühe.
Muss vor der Mitnahme ein Fahrradschloss geknackt werden, handelt es sich um einen besonders schweren Fall des Diebstahls gemäß § 243 Strafgesetzbuch, der mit einer Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu zehn Jahren bestraft wird.
Die Lehrerin Gesine Tietze, 46 Jahre, sieht aus einem Fenster im dritten Stock des Gymnasiums, wie ein Mann sich an einem Fahrrad auf dem Schulhof zu schaffen macht. Sie geht runter. Als sie sich ihm nähert, erkennt sie, dass er gerade dabei ist, mit einem Bolzenschneider die Kette durchzuschneiden, mit der das Rad am Ständer angeschlossen ist. Den jungen Mann schätzt sie auf Anfang zwanzig, und er ist offensichtlich kein Schüler.
»Was machen Sie da?«, fragte Tietze.
Ich wünschte, ich hätte auch Lehramt studiert, damit mir eine so clevere Frage einfällt.
»Meine Nichte hat ihren Schlüssel versumst. Ich soll das Fahrrad losmachen und ihr bringen.«
Inzwischen hat der Mann die Kette durchtrennt und zieht das Rad aus dem Ständer.
Die Lehrerin schiebt ihre Brille den Nasenrücken hoch in die korrekte Position.
»In welche Klasse geht Ihre Nichte?«
»In die vierte.«
»Am Gymnasium gibt es keine vierte Klasse.«
Der Fahrraddieb erkennt, dass er aufgeflogen ist. Er steigt auf das Fahrrad auf, um davonzufahren.
Die resolute Lehrerin macht gleichzeitig zweierlei. Mit der linken Hand hält sie das Fahrrad am Lenker fest und holt mit der rechten ihr Smartphone aus ihrer Umhängetasche. Sie hält ihm ihr Handy vors Gesicht und macht ein Foto.
Der junge Mann holt mit dem Bolzenschneider aus und trifft Gesine Tietze an der Schläfe. Sie lässt das Rad los und taumelt zurück.
Der junge Mann tritt in die Pedale und flüchtet.
Tietze läuft noch Blut von der Schläfe über die Wange und tropft auf das bordeauxfarbene Kleid, als der Streifenwagen eintrifft. Stolz präsentiert sie das Täterfoto.
»Das ist Marvin Kruse«, erkennt der Polizist. Er hatte wegen Drogendelikten schon mal mit ihm zu tun.
Als die Polizisten Marvin Kruse zehn Minuten später in seiner Wohnung aufsuchen, ist er gerade dabei, das entwendete Fahrrad zu zerlegen.
Er wird wegen räuberischen Diebstahls zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten auf Bewährung verurteilt.
Dem Täter genügt erstaunlicherweise oft ein Schraubenzieher, um eine Tür oder ein Fenster aufzuhebeln. Im Gebäude sucht er dann nach stehlenswerten Sachen. Strafrechtlich ist auch dies ein besonders schwerer Fall des Diebstahls gemäß § 243 Strafgesetzbuch. Handelt es sich um eine ständig bewohnte Wohnung, ist es ein Wohnungseinbruchdiebstahl mit einer Mindestfreiheitsstrafe von einem Jahr, § 244 Abs. 4 Strafgesetzbuch.
Einbrüche traumatisieren die Opfer oft erheblich. In einem von mir verhandelten Fall wachte die Wohnungsbesitzerin nachts davon auf, dass der Einbrecher direkt neben ihrem Bett den Nachttisch durchsuchte. Dauerhafte Albträume und Schlafstörungen waren die Folge.
Im Straßenverkehr kann auch der unbescholtene Bürger schnell mal zum Straftäter werden. Dies liegt daran, dass die meisten auch fahrlässig begehbar sind. Verkehrsübertretungen kommen massenhaft vor, dabei kann die Schwelle zur Strafbarkeit schnell überschritten werden.
Ab 1,1 Promille liegt eine absolute Fahruntüchtigkeit vor. Die Folge ist in der Regel eine Geldstrafe von meistens 30 Tagessätzen, das heißt ein monatliches Nettogehalt, und Führerscheinentzug für mindestens sechs Monate. Die Tücke dieses Straftatbestandes liegt darin, dass Alkohol am Steuer nicht grundsätzlich verboten ist. Es gibt abgestufte Promillegrenzen. Bereits ab 0,3 Promille kann eine relative Fahruntüchtigkeit des Fahrers vorliegen, wenn er alkoholtypische Ausfallerscheinungen zeigt, also zum Beispiel Schlangenlinien fährt. Ab 0,5 Promille liegt eine Ordnungswidrigkeit vor. Und spätestens ab 1,1 Promille macht sich der Fahrer strafbar. Doch nur wenige Autofahrer haben eine realistische Vorstellung darüber, welche Menge Alkohol welche Promillewerte ergibt. Auf der Anklagebank sagen fast alle, sie hätten nicht gedacht, dass »die paar Bier« zu so hohen Promillewerten führen.
Lars Breuer wohnt in Dessau-Nord und will an dem jährlichen Schifferfest in Roßlau teilnehmen. Die beiden kleinen Städte liegen fünf Kilometer auseinander. Lars Breuer weiß von vorangegangenen Besuchen, dass es auf dem Fest feuchtfröhlich zugehen wird. Also lässt er sein Auto stehen und nimmt sein Fahrrad, um keinen Ärger mit der Polizei zu bekommen.
Nachdem Feuerwerk und Musik gegen 23.00 Uhr verklungen sind, macht er sich auf seinem Fahrrad auf den Heimweg. Es waren einige Biere und noch ein paar Schnäpse, doch er fühlt sich gut. Er schätzt, dass er in 15 Minuten zu Hause sein wird. Auf dem Radweg entlang der Bundesstraße erreicht er problemlos Dessau. Gleich habe ich es geschafft, denkt er.
Kurz hinter dem Ortseingang halten ihn zwei Polizisten an einer Bushaltestelle an.
»Haben Sie alkoholische Getränke getrunken?«, will ein Polizist wissen.
Blöde Frage, denkt Lars Breuer. Jeder, der um diese Uhrzeit vom Schifferfest auf dem Heimweg ist, hat getrunken. Das werden auch die Polizisten wissen. Welchen anderen Grund sollte es für sie geben, genau jetzt an dieser vereinsamten Bushaltestelle Radfahrern aufzulauern?
Nachdem Lars Breuer die Frage bejaht hat, wird er zur Blutprobenentnahme ins Krankenhaus gebracht.
Einige Wochen später bekommt er einen Strafbefehl. Der Vorwurf lautet Trunkenheit im Verkehr, denn er hatte 1,7 Promille Alkohol im Blut. Er soll eine Geldstrafe in Höhe eines Monatsgehalts zahlen und den Führerschein abgeben. Lars Breuer versteht die Welt nicht mehr. Er hatte doch extra das Auto stehen lassen und ist mit dem Rad zum Fest gefahren, um genau das zu vermeiden. Wütend legt er Einspruch ein.
Als Lars Breuer auf der Anklagebank sitzt, erkläre ich ihm die Rechtslage. Eine Trunkenheit im Verkehr begeht nicht nur, wer ein Kraftfahrzeug führt. Auch ein Fahrradfahrer mit 1,6 Promille oder mehr ist absolut fahruntüchtig und begeht eine Straftat. Der Führerschein kann selbst dann eingezogen werden, wenn man die Trunkenheitsfahrt gar nicht mit einem Auto begangen hat.
Ich glaube dem Angeklagten, dass er all das nicht gewusst und sich reinen Gewissens auf sein Fahrrad gesetzt hat. Mir selbst erscheint die Strafe zu hart. Ich habe schon Dutzende solcher Fälle verhandelt, aber noch nie hat ein betrunkener Radfahrer jemand anderen als sich selbst gefährdet oder verletzt. Sie stürzen schlimmstenfalls und bleiben verletzt im Straßengraben liegen, bis der Rettungswagen sie einsammelt. Mir scheint von promillegeschwängerten Radlern keine große Gefahr für die Allgemeinheit auszugehen. Ich frage die Amtsanwältin, ob sie sich eine geringere Strafe als die im Strafbefehl vorgesehene oder gar eine Einstellung gegen Geldauflage vorstellen kann. »Selbstverständlich nicht«, antwortet sie entrüstet. Ich kenne auch die Rechtsprechung des Landgerichts in diesen Fällen. Wenn ich von der Strafe des Strafbefehls erheblich nach unten abweiche, wird das Urteil voraussichtlich einkassiert werden. Nachdem ich dem Angeklagten erklärt habe, dass ich wenig machen kann, nimmt er zähneknirschend seinen Einspruch zurück.
Ganz ähnlich kann es den Fahrern von E-Scootern gehen. Viele wissen nicht, dass für E-Scooter die gleichen Promillewerte wie für Autos gelten. Dafür weiß aber die Polizei, dass die meisten, die nachts mit dem E-Scooter unterwegs sind, alkoholisiert sind. Interessante Rechtskundeveranstaltungen in Gerichtssälen sind damit vorprogrammiert.
Da gibt es Autofahrer, die hatten noch nie einen Führerschein. Andere haben ihn durch eine Trunkenheitsfahrt oder ein anderes Verkehrsdelikt verloren. Oder ein hoher Punktestand in Flensburg hat zum Führerscheinverlust geführt. Auf das Autofahren wollen diese Menschen trotzdem nicht verzichten. Eine beliebte Einlassung ist: »Ich brauche keinen Führerschein, denn ich bin ein guter Fahrer.«
Pascal Steinecke kommt zehn Minuten verspätet zu seiner Verhandlung. Als ich ihn nach dem Grund dafür frage, sagt er, er habe keinen Parkplatz gefunden. Er fügt noch an, er habe sein Auto direkt vor dem Gericht im Parkverbot abgestellt, um nicht noch später zu erscheinen. Interessiert begebe ich mich zum Fenster. Direkt vor dem Gericht steht ein alter silberner VW Golf. Es ist der gleiche, in dem der Angeklagte vor ein paar Wochen von einer Radarfalle fotografiert worden war, was zu der Anklage wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis geführt hatte. Seinen Führerschein hatte er letztes Jahr wegen zu vielen Punkten in Flensburg verloren. Danach war er einfach weiter Auto gefahren und schon fünfmal deswegen verurteilt worden. Er gab die Tat zu, bat aber wortreich um eine letzte Chance, sprich noch mal Bewährung. Die Staatsanwältin verstand keinen Spaß und beantragte vier Monate ohne Bewährung. So lautete dann auch das Urteil. Außerdem leitete sie wegen der führerscheinlosen Fahrt zum Gericht ein neues Ermittlungsverfahren ein.
Auch dies ist ein Jedermannsdelikt. Häufigster Fall ist der Parkplatzrempler. Manchmal hat der Fahrer den Anstoß tatsächlich nicht bemerkt. Über die Bemerkbarkeit schreibt später ein Sachverständiger lange und schlaue Gutachten. Oder er hält ihn für eine Bagatelle und nicht für einen Unfall. So kann auch der unbescholtene Bürger wegen eines Missgeschicks auf der Anklagebank landen. In letzter Zeit sehe ich dort öfter Senioren von über 80 Jahren mit dicken Brillengläsern und Hörgerät sitzen. Wenn sie behaupten, sie hätten das rauchende Autowrack hinter sich nicht gesehen, bin ich fast geneigt, das zu glauben. Eine ganz andere Frage ist, ob man noch Auto fahren sollte, wenn man fast blind und taub ist. Jüngere sind dagegen mit Alkohol oder ohne Führerschein unterwegs und wollen deswegen keine Polizei rufen. Aber ein aufmerksamer Bürger hat den Unfall gesehen und sich das Kennzeichen des davonrasenden Autos gemerkt.
Häufig landet der eBay-Betrug vor Gericht. Der Verkäufer stellt eine sogenannte »Kauffalle« auf. Er inseriert eine gefragte Ware, zum Beispiel ein hochwertiges Handy. Das Angebot wirkt seriös. Der Käufer leistet Vorkasse. Doch der Verkäufer versendet die Ware niemals. Oft besitzt er die Ware gar nicht. Sobald das Geld bei ihm eingegangen ist, reagiert er nicht mehr auf Nachrichten des Käufers. Doch die Spur des Geldes führt zu seinem Konto.
Die umgekehrte Variante besteht im Versandhandelsbetrug. Der Käufer bestellt im Internet Waren, bekommt sie, bezahlt sie aber nicht. Oftmals werden die Bestellungen unter falschen Namen aufgegeben und falsche Klingelschilder angebracht, um die wahre Identität zu verschleiern.
Sie ist mit 11 Prozent eine der häufigsten Straftaten. Oft ist sie Begleittat einer anderen Straftat. Der Einbrecher begeht sie zwangsläufig, wenn er Türen aufbricht oder Fenster einschlägt. Eigenständige Sachbeschädigungen kommen in Form des Vandalismus vor. Männliche Jugendliche leben ihre Aggressionen und ihren Frust aus, indem sie blindwütig Sachen zerstören. Oder sie fühlen sich künstlerisch talentiert und verzieren ungefragt Gebäude mit Graffiti.
Wem die Argumente ausgehen, der greift gerne zur Gewalt. Sie kann von der einfachen Ohrfeige bis zum Messerstich reichen. Entsprechend abgestuft sind auch die Körperverletzungsdelikte.
§ 229 Strafgesetzbuch Fahrlässige Körperverletzung: Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe
Sie liegt vor, wenn der Täter unabsichtlich jemanden verletzt. So etwa der Autofahrer, der einen Fußgänger auf dem Zebrastreifen übersieht und ihn auf den Kühler nimmt.
§ 223 Strafgesetzbuch Körperverletzung: Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe
Sie begeht der Täter, der das Opfer absichtlich verletzen will, zum Beispiel durch eine Ohrfeige oder einen Faustschlag.
§ 224 Strafgesetzbuch Gefährliche Körperverletzung: Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren
Ihr häufigster Fall ist die Verwendung einer Waffe oder eines gefährlichen Werkzeugs. Waffe kann ein Küchenmesser, gefährliches Werkzeug eine über den Schädel gezogene Glasflasche sein. Ab jetzt gibt es keine Geldstrafe mehr.
§ 226 Strafgesetzbuch Schwere Körperverletzung: Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren
Sie ist bei schweren Folgeschäden, wie Verlust des Augenlichts, eines wichtigen Gliedes des Körpers oder bei dauerhafter Entstellung, zu bejahen.
§ 227 Strafgesetzbuch Körperverletzung mit Todesfolge: Freiheitsstrafe von drei Jahren bis zu fünfzehn Jahren
Bei einem Messerstich in die Brust könnte man an versuchten Mord oder Totschlag denken, denn so eine Stichverletzung ist potenziell lebensgefährlich. Doch auch solche Fälle werden meist als gefährliche Körperverletzung beim Amtsgericht beerdigt.
Die Beweisaufnahmen können schwierig sein. Wer hat zuerst geschlagen oder zugestochen? Hat sich der Angeklagte nur verteidigt, also in Notwehr gehandelt? Geraten Gruppen aneinander, ist zu klären, wer überhaupt was gemacht hat.
Drogen aller Art beschäftigen Strafrichter massiv. Alkohol, Nikotin und Koffein sind noch erlaubt, alles andere ist verboten. Während die Justiz bei Besitz von Kleinmengen für den Eigenkonsum oft noch ein Auge zudrückt, wird der Drogenhandel mit hohen Freiheitsstrafen geahndet. Richtig bekämpfen lässt sich der Drogenhandel aber auch mit drakonischen Strafen nicht. Fängt man einen Dealer weg und sperrt ihn für Jahre ins Gefängnis, stehen an derselben Stelle morgen drei andere Dealer. Auch der Betäubungsmittelabhängige lässt sich durch Strafen nicht abschrecken. Seine Sucht zwingt ihn zu weiterem Konsum.
Die Drogenabhängigen sind Stammkunden der Justiz. Sie kommen nur schwer wieder von ihrer Sucht los. Zudem müssen sie im Prinzip täglich Straftaten begehen, um ihren Stoff zu finanzieren. Eine Tagesdosis harter Drogen wie Kokain oder Crystal Meth kostet den meist Arbeitslosen 70 bis 100 Euro – Geld, das er nicht hat. So ist ein Großteil der oben geschilderten Diebstähle nichts anderes als Beschaffungskriminalität. Das Leben der Drogensüchtigen ist ein ständiger Kreislauf aus Straftaten, Drogenbeschaffung und Rausch.
Schwarzfahren fällt unter Erschleichen von Leistungen gemäß § 265a Strafgesetzbuch. Erfahrungsgemäß besitzen drei Prozent aller Fahrgäste keinen gültigen Fahrschein. Den Verkehrsunternehmen entsteht hierdurch ein Schaden in dreistelliger Millionenhöhe jedes Jahr. Schwarzfahren wird regelmäßig mit einer Geldstrafe geahndet. Wenn die nicht bezahlt wird, kommt der Schwarzfahrer ins Gefängnis.
Das sind beispielsweise die verbotene Einreise ohne Visum oder der Aufenthalt ohne Aufenthaltserlaubnis sowie Verstöße gegen die Residenzpflicht. Vieles davon wird im Strafbefehlswege erledigt. Kommt es zur Verhandlung, ist oft ein Dolmetscher notwendig. Ein Problem ist, den richtigen Namen und das richtige Geburtsdatum des Angeklagten herauszufinden. Mehrere Aliasnamen und offensichtlich willkürlich festgelegte Geburtsdaten sind häufig. Die Einlassungen der Ausländer sind oft kreativ und von einer völligen Ahnungslosigkeit des deutschen Rechts geprägt.
Zu ihnen kommt es, wenn ein Unternehmen in die wirtschaftliche Krise gerät. In der Not werden nur noch Lieferanten bezahlt, weil man ohne Ware den Betrieb gleich schließen müsste. Nicht mehr gezahlt werden dagegen die Sozialversicherungsbeiträge der Mitarbeiter. Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt lautet dazu der § 266a im Strafgesetzbuch. Auch Steuerzahlungen werden eingestellt, und damit wird eine Steuerhinterziehung gemäß § 370 Abgabenordnung verwirklicht. Daran schließen sich zwanglos Insolvenzdelikte, wie Insolvenzverschleppung oder Bankrott, an. Solche Fälle sind bei Richtern unbeliebt. In der Krise hat der Unternehmer diverse Straftatbestände durch Dutzende Taten verwirklicht. Lange Anklageschriften sind die Folge. Dazu ist oft die Beweislage schwierig. Eine ordnungsgemäße Buchhaltung existiert in der Regel nicht. Buchhalter und Steuerberater haben mit als die Ersten ihre Mitarbeit aufgekündigt, nachdem sie nicht mehr bezahlt wurden. Die Polizei hat im Betrieb Festmeter Unterlagen und alle Computer beschlagnahmt sowie Kontoauszüge bei Banken gesichert. In der Folge werden dem Richter ein oder mehrere Umzugskartons Beweismittel ins Dienstzimmer gestellt, die er bitte auswerten möchte. Das sind die Momente, in denen auch harte Richter beginnen, über eine Verständigung nachzudenken.
Sexualdelikte sind häufig, aber schwierig nachzuweisen. Hört man von einer Vergewaltigung, denkt man an einen maskierten Täter, der eine Frau nachts auf dem Heimweg anfällt und in ein Gebüsch zerrt. Doch der unbekannte Täter ist nur ein Mythos. Die meisten Vergewaltigungen finden in Beziehungen und fast immer in der eigenen Wohnung statt. Mann und Frau kannten sich. Der Angeklagte behauptet, es habe sich um einen einvernehmlichen Geschlechtsverkehr gehandelt. Die Frau lässt die Vergewaltigung meist über sich ergehen. Es gibt deshalb keine objektiven Spuren wie Abwehrverletzungen. Typisch für diese Fälle ist auch, dass sie von der Geschädigten nicht sofort, sondern erst nach einer gewissen Überlegungsfrist angezeigt werden. Zwischen der Tat und der Anzeige wird mindestens einmal ausgiebig geduscht, damit die Frau sich nicht mehr schmutzig fühlt. Verständlich, aber ein Rechtsmediziner kann dann nichts mehr feststellen. Und im heimischen Schlafzimmer gab es auch keine Zeugen. Solche Fälle laufen regelmäßig auf Aussage gegen Aussage hinaus. Hinzu kommt, dass die Mindeststrafe für eine Vergewaltigung zwei Jahre beträgt. Solche Fälle sind der Horror für den Richter.
Ich hatte eine Vergewaltigung in der Ehe zu verhandeln. Das Paar lebte bereits getrennt und stritt sich vor Gericht um Haus, Vermögen und Tochter. Die Frau war mit ihrer Tochter nach der Trennung in dem gemeinsamen Einfamilienhaus verblieben, der Mann hatte sich eine Zweizimmerwohnung gemietet.
Die Frau hatte ihren Mann angezeigt. Er hätte sie eines Abends besucht, um einige Dinge zu besprechen. Aus heiterem Himmel hätte er sie in der Küche niedergeschlagen und auf dem Fußboden vergewaltigt. Die Staatsanwaltschaft erhob Anklage zum Schöffengericht. Die Mindeststrafe für eine Vergewaltigung beträgt zwei Jahre Freiheitsstrafe, § 177 Abs. 6 Strafgesetzbuch.
Die Beweislage lief auf eine Aussage-gegen-Aussage-Konstellation hinaus. Das Paar hatte sich alleine in dem Haus befunden, sodass es keine weiteren Zeugen gab. Die Frau hatte erst mal eine Nacht darüber geschlafen, am nächsten Tag ein Vollbad genommen und sich mit ihrer Mutter besprochen. Erst am Nachmittag des Folgetages war sie zur Polizei gegangen, die sie zur Untersuchung ins Krankenhaus brachte. Die Rechtsmedizinerin konnte keine Spuren einer Vergewaltigung oder auch nur eines Geschlechtsverkehrs am Körper der Frau mehr feststellen. Einziger Befund war ein Hämatom an ihrem Kopf. Die Rechtsmedizinerin konnte weder dessen Entstehungszeitpunkt bestimmen – sie schätzte dessen Alter auf ein bis vier Tage – noch eine Aussage machen, wodurch es entstanden war. Sie konnte einen Schlag durch den Mann am Vortag weder bestätigen noch ausschließen.
Der Angeklagte war ein Geschäftsmann Anfang fünfzig; er erschien im dunkelgrauen Anzug zur Verhandlung. Er sah durch und durch seriös aus. Er schilderte den Abend gänzlich anders. Sie hatten sich zusammengesetzt, um über das Haus zu sprechen. Die Frau wünschte, dauerhaft darin wohnen zu bleiben. Es war allerdings finanziert, und die Frau würde es mit ihren Einkünften nicht abbezahlen können. Der Mann wiederum sah nicht ein, weiter Raten für ein Haus zu zahlen, in dem er nicht mehr lebte. Sie hätten zu diesem Punkt keine Einigung erzielt. Er sei dann gegangen. Eine Vergewaltigung in der Küche hätte nicht stattgefunden. Wozu auch? Sie würden schon ein Jahr getrennt leben, und alle früheren Gefühle seien längst erkaltet. Sein Verteidiger fügte hinzu, die Frau habe sich die Vergewaltigung womöglich nur ausgedacht, um bessere Karten in dem sich anbahnenden Rosenkrieg vor dem Familiengericht zu haben. Unter anderem stritten sie dort um das Sorgerecht für die Tochter.
Die Frau wiederholte in der Verhandlung ihre bereits vor der Polizei gemachte Aussage. Sie hielt den Vorwurf einer Vergewaltigung aufrecht. Sie wirkte ruhig und gefasst, und ich konnte auch keinen Belastungseifer bei ihr erkennen. Sie ließ sich auch durch kritische Nachfragen des Verteidigers nicht von ihrer Aussage abbringen.
Die Staatsanwältin forderte drei Jahre Freiheitsstrafe, der Verteidiger plädierte auf Freispruch. Ich zog mich mit meinen Schöffen zur Urteilsberatung zurück. Wir waren alle drei ratlos. Die Aussage der Frau war isoliert betrachtet nachvollziehbar und glaubhaft, aber genauso die Aussage des Mannes. Es gab nichts Objektives, mit dem wir eine der Aussagen bekräftigen oder widerlegen hätten können. Wir taten uns schwer, den Geschäftsmann zu einer Freiheitsstrafe zu verurteilen, obwohl wir nicht hundertprozentig von seiner Schuld überzeugt waren. Sie hätte seine bürgerliche Existenz vernichtet, und mit über fünfzig würde er sich davon auch nicht mehr erholen. Auf der anderen Seite tat uns aber auch die Frau leid. Wenn es diese Vergewaltigung wirklich gegeben hat und wir den Angeklagten freisprechen, würden wir ihr dadurch ein zweites Trauma zufügen. Wie furchtbar muss es sein, vergewaltigt worden zu sein und vom Gericht für eine Lügnerin gehalten zu werden. Wir sprachen den Angeklagten schließlich nach dem Grundsatz »in dubio pro reo – im Zweifel für den Angeklagten« frei.
Die Geschichte ist aber hier noch nicht zu Ende. Die Staatsanwaltschaft legte Berufung ein. Das Landgericht rollte den Fall neu auf. Die Frau und der Mann wiederholten ihre schon beim Amtsgericht gemachten Aussagen. Neue Beweismittel gab es keine. Doch diesmal verurteilte das Landgericht den Angeklagten zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren auf Bewährung.
Der Fall liegt schon ein paar Jahre zurück, er geistert aber weiter durch meinen Kopf. Ich frage mich, ob wir mit dem Freispruch einen Fehler gemacht haben oder ob das Landgericht möglicherweise einen Unschuldigen verurteilt hat.
Wie schwierig der Tatnachweis bei Vergewaltigungen ist, zeigt auch die Freispruchquote von 25 Prozent, die damit fast zehnmal höher als die durchschnittliche Freispruchquote von 3 Prozent ist. 16