Mit einem Bein im Gefängnis zu stehen ist schlimm genug. Manchem Angeklagten reicht das aber nicht. Er versucht alles, um seine Lage durch störendes Verhalten noch mehr zu verschlimmern. Störungen durch Anwälte werden hier einbezogen, weil sie im Namen ihrer Mandanten handeln.
Etwa ein Drittel meiner Verhandlungen kann nicht zur festgesetzten Zeit oder überhaupt nicht stattfinden. Am häufigsten liegt das an säumigen Angeklagten. In ihrer schlichten Denkungsweise hoffen sie, dass sie einer Bestrafung entgehen können, wenn sie die Verhandlung einfach ignorieren. Oder sie machen sich überhaupt keine Gedanken. Das Gericht wartet erst einmal eine Viertelstunde ab. Die Hoffnung ist, dass sich der Angeklagte nur verspätet hat. Wenn er nicht pünktlich erscheint, kommt er jedoch meist gar nicht. Als Richter kann ich beim Fernbleiben des Angeklagten seine sofortige polizeiliche Vorführung anordnen. Ein Streifenwagen wird zu seiner Wohnung geschickt. Doch wer sich der Verhandlung entziehen will, wird nicht zu Hause auf die Polizei warten. Scheitert die polizeiliche Vorführung, kann ein Haftbefehl gegen den Angeklagten erlassen werden. Irgendwann wird er festgenommen und muss in der Justizvollzugsanstalt auf seine Verhandlung warten. Die aktuelle Verhandlung ist damit geplatzt. Alle Anwesenden werden nach Hause geschickt.
Am zweithäufigsten erscheinen Zeugen nicht, obwohl es ihre staatsbürgerliche Pflicht ist, vor Gericht zu erscheinen. Sie können für Fernbleiben mit einem Ordnungsgeld bis zu 1000 Euro belegt und auch polizeilich vorgeführt werden.
So beginnen Verhandlungen immer öfter damit, silberblaue Taxis zu Angeklagten und Zeugen zu schicken.
In den letzten Jahren beobachte ich ganz allgemein eine abnehmende Zuverlässigkeit der Menschen. So kommt es, dass auch andere Verfahrensbeteiligte fehlen, wie Schöffen, Verteidiger und sogar Staatsanwälte. Das hat es früher nicht gegeben. Da sind jedenfalls die noch zuverlässig erschienen.
Eine Unsitte ist der Handyanruf fünf Minuten vor Beginn der Verhandlung. »Habe verschlafen«, »Stehe im Stau«, »Finde keinen Parkplatz« und »Habe den Zug verpasst« sind die üblichen Ausreden dafür, nicht ausreichend für ein rechtzeitiges Erscheinen vor Gericht vorgesorgt zu haben. Wenn sich zum Beispiel ein Verteidiger verspätet, warten Vorsitzender, zwei Schöffen, eine Staatsanwältin, eine Protokollantin, möglicherweise ein Sachverständiger sowie Zeugen. Sie alle verschwenden ihre Arbeitszeit, die sie anderweitig sinnvoller nutzen könnten. Würde man ihre Stundenlöhne zusammenrechnen, würde das ein paar Hundert Euro ergeben.
Bei Verspätungen gerät der Zeitplan des Gerichts durcheinander. Alles verschiebt sich entsprechend nach hinten. Die Durchführung der späteren Verhandlungen gerät in Gefahr. Fällt die Verhandlung aus, war die Terminvorbereitung umsonst. Kommt es Monate später zu einem neuen Versuch, habe ich die Details längst vergessen und muss mich neu einlesen. Leerlauf und doppelte Terminvorbereitung sind angesichts der allgemeinen Überlastung ärgerlich.
So besteht ein Teil des Gerichtsalltags im Warten. Ausharren auf verspätete Angeklagte und Zeugen, abwarten des Ergebnisses des Vorführungsversuchs. Meine Geduld wird dadurch manchmal überstrapaziert. In solchen Momenten wünsche ich mir, Zeitdiebstahl wäre auch strafbar.
Der 28-jährige Max Kurzhals war wegen unerlaubten Drogenanbaus angeklagt. Er wohnte noch bei seiner Mutter und hatte sein Kinderzimmer in eine Cannabis-Indoorplantage verwandelt. Auf den Polizeifotos sah es aus wie ein kleiner grüner Urwald. Außer einer Matratze auf dem Boden war wirklich alles mit Cannabispflanzen in verschiedenen Wachstumsstadien vollgestellt.
Max Kurzhals erschien nicht. Wir warteten 15 Minuten ab, er kam weiterhin nicht. Also schickte ich ein silberblaues Taxi zu ihm. Nach 30 Minuten rief die Polizei an. Der Angeklagte hätte sich heftig gewehrt, die beiden Beamten seien zu Boden gegangen. Sie fragten, was sie tun sollten. Interessante Frage. Die Vorführung vergessen und Kaffee trinken? »Holen Sie Verstärkung«, schlug ich vor.
Nach weiteren 30 Minuten kam der nächste Anruf. Sie hätten Kurzhals im Polizeitransporter vor der Tür, er würde sich aber weigern, mit ins Gericht zu kommen. Also begab ich mich nach draußen. Kurzhals hockte mit Handschellen auf dem Rücken im Wagen und schimpfte vor sich hin. Die Polizei hatte ihn aus dem Schlaf gerissen, und er wisse überhaupt nicht, worum es gehe. Gutes Zureden von mir, wir würden die Sache im Gerichtssaal klären, half nichts. Ich bat die inzwischen fünf Beamten, den Angeklagten in den Saal zu bringen.
»Fickt euch!«, rief Max Kurzhals, als er in den Saal geführt wurde. Er weigerte sich, sich hinzusetzen. Normalerweise lasse ich die Handschellen im Saal abnehmen, aber bei ihm erschien mir das zu gefährlich. Auf meine Bitte stand die Staatsanwältin auf und begann, die Anklage zu verlesen. »Die soll aufhören, solche Lügen zu erzählen«, rief Kurzhals dazwischen. Als ich ihn aufforderte, das zu unterlassen, sagte er: »Du Penner hast hier gar nichts zu sagen.« Die Staatsanwältin setzte die Verlesung der Anklageschrift fort. »Die durchgeknallte Tante soll damit aufhören! Sofort!«, brüllte er. Doch die Anklagevertreterin las stoisch weiter. Kurzhals schaffte es, seine auf dem Rücken gefesselten Hände nach vorne zu bringen und seine Jeans zu öffnen. Sie rutschte ein Stück herunter und entblößte seinen Penis. Unterwäsche trug er nicht. »Jetzt muss ich nackt vor ihnen stehen. Das ist menschenunwürdig.« Er drehte sich einmal im Halbkreis, damit auch ja jeder seinen Penis sehen konnte. Die Staatsanwältin war schockiert und hörte mit der Verlesung auf.
Mir drängte sich angesichts seines Auftretens die Frage auf, ob er überhaupt verhandlungsfähig war. Er wirkte wie von Sinnen. Möglicherweise konsumierte er auch härtere Drogen als Cannabis. Ich fragte die Polizisten, ob sie einen Drogenschnelltest dabeihätten, was sie bejahten. Die Speichelprobe verweigerte Kurzhals. Wieder fragten die Polizeibeamten, was sie tun sollten. Vielleicht ihn provozieren, damit er sie anspuckt? Ich schlug die Speichelprobenentnahme mittels einfacher körperlicher Gewalt vor. Die Polizisten brachten den Angeklagten zu viert zu Boden, der fünfte entnahm die Speichelprobe. Währenddessen schrie der Angeklagte, er werde vergewaltigt. Nach wenigen Minuten lag das Testergebnis vor. Es war positiv für drei von fünf Drogenarten.
Nach Beratung mit den Schöffen erließ ich einen Haftbefehl und setzte einen neuen Termin vier Wochen später fest. Die geplatzte Verhandlung, in der nicht einmal die Anklageschrift hatte verlesen werden können, hatte mich und die anderen Prozessbeteiligten 2 Stunden 15 Minuten gekostet. Zu dem nächsten Termin wurde der Angeklagte zwangsläufig drogenfrei vorgeführt. Er entschuldigte sich sogar für sein Verhalten, und es war eine ganz normale Verhandlung möglich.
In der Regel ist der Angeklagte erst mal nur ein Name in der Akte. Ich kenne ihn nicht, und es existieren auch keine Fotos von ihm in der Akte. Sobald er den Gerichtssaal betritt, wird aus dem gesichtslosen Angeklagten ein echter Mensch. Mit dem Tragen gerichtsgeeigneter Kleidung könnte er ein paar Pluspunkte sammeln. Man könnte eine Strafverhandlung auch als Vorstellungsgespräch für die eigene Freiheit auffassen und sich entsprechend kleiden. Viele nutzen diese Chance nicht. Die meisten erscheinen in salopper Freizeitkleidung. T-Shirt und Shorts im Sommer, Kapuzenjacke und Jeans im Winter müssen reichen. Dazu zertretene Turnschuhe. Die verkehrt herum getragene Baseballkappe wird im Saal erst auf meine Aufforderung hin abgesetzt. Stolz wird die Kleidung so gewählt, dass sie möglichst viele der zahlreichen Tätowierungen entblößt. Warum nur legen es die Angeklagten darauf an, von Anfang an einen schlechten Eindruck zu machen?
Weibliche Angeklagte verwechseln die Gerichtsverhandlung mit einem Casting für Germany’s Next Topmodel . Sie zeigen ein tief ausgeschnittenes Dekolleté, ihren nackten Bauch oder von einem Minirock kaum verhüllte Beine. Als wenn viel nackte Haut Pluspunkte beim Strafmaß bringen würde.
Manche Anwälte passen sich über die Jahre kleidungstechnisch ihrer Klientel an. Sie erscheinen zum Beispiel ohne Robe. Oder sie werfen eine zerknitterte, abgewetzte Robe über ihre Freizeitkleidung, die sich kaum von der des Angeklagten unterscheidet. Mein Favorit ist ein feuerwehrrotes Hemd, das sich bedrohlich über einen gewaltigen Bauch spannt. Dazu bindet sich der Verteidiger eine Micky-Maus-Krawatte um. Die Robe kann der Anwalt wegen seines Bauchs nicht mehr schließen, sodass Micky-Maus auf rotem Hintergrund mir während der ganzen Verhandlung zuwinkt. Aber auch mit solchen Klamaukanwälten muss man leben. Ich persönlich finde, ein Anwalt sollte aussehen wie ein Anwalt. Darunter verstehe ich einen Anzug mit weißem Hemd und neutraler Krawatte unter der Robe.
Selbstverständlich gilt im Saal ein Handyverbot. Schilder weisen darauf hin. Es sollte beim Betreten des Gerichtssaales ausgeschaltet werden. Aber gerade für jüngere Leute ist ein Handy wie ein Zweithirn, auf das sie nicht verzichten können. So wird manche Verhandlung durch eine laut klingelnde Taschenplärre unterbrochen. Die Klingeltöne sind Spiegel ihrer Persönlichkeit. Was beispielsweise will ein Angeklagter seiner Umwelt mit der Terminator -Melodie mitteilen? Oder ein Anwalt, der sich der Filmmusik aus Der Pate bedient? Tödlich für Verhandlungen sind Smartphones in Handtaschen. Sie sind mit dem Kofferrauminhalt eines VW Golf gefüllt, und die Besitzerin braucht ewig, bis sie ihres ganz unten in der Tasche gefunden, herausgeholt und abgestellt hat. Die wirkliche Krönung ist, wenn der Angerufene den Anruf auch noch entgegennimmt und den Gerichtssaal mit den Worten »Sorry, muss mal kurz telefonieren« verlässt. So als ob dies keine Gerichtsverhandlung, sondern ein zwangloses Treffen ist, das man verlassen und zu dem man wiederkommen kann, wie man will.
Immer häufiger erscheinen Angeklagte mit XXL-Wasserflaschen und eingepackten Schnitten, die sie vor sich auf den Tisch stellen. Was glauben sie, was das hier ist? Ein Picknick? Sobald sie zur Flasche oder Schnitte greifen, muss ich sie ernsthaft ermahnen, dass während der Gerichtsverhandlung nicht gegessen und getrunken wird.
Traditionell erheben sich alle Anwesenden beim Eintreten des Gerichts, bei Vereidigungen und bei der Urteilsverkündung. Mit dem Aufstehen sollen der Ernst und die Bedeutung einer Strafverhandlung unterstrichen werden. Doch manche Angeklagte bleiben sitzen. Meist reicht es, sie finster anzublicken, um sie zum Aufstehen zu bewegen. Irgendwann merken sie, dass sie als Einzige noch sitzen. Falls nicht, muss ich dazu auffordern.
Der Richter hat die Verhandlungsleitung. Er muss für einen geordneten Ablauf der Verhandlung und die Einhaltung aller Förmlichkeiten sorgen. Außerdem gehört es zu seinem Selbstverständnis, der Chef im Gerichtssaal zu sein. Deshalb schätzt er es gar nicht, unterbrochen zu werden.
Einige Angeklagte finden, es sei eine gute Idee, dem Vorsitzenden ständig ins Wort zu fallen. Manche steigern sich in ein ununterbrochenes Schimpfen hinein. Nichts, was der Richter sagt, bleibt ohne ihren Widerspruch. Die Stimmung im Saal wird dann schnell gereizt, und die Verhandlung zieht sich dahin.
Krawallverteidiger neigen ebenfalls zum Dazwischenreden und zu Zwischenrufen. Mit ihrem lauten Stimmorgan kritisieren sie die Anordnungen des Richters und kommentieren Erklärungen der Verfahrensbeteiligten. Manche steigern sich in ein cholerisches Schreien hinein. In mehreren Verfahren hatte ich es mit einem Verteidiger mit einer lauten Feldwebelstimme zu tun, der mich ständig unterbrach. Am Ende lagen die Nerven aller Verfahrensbeteiligten blank.
Als Richter muss man dem Angeklagten viele Fragen stellen, zum Beispiel nach seinen Personalien, nach Familienstand, Beruf, Einkommen usw. Und nach der vorgeworfenen Tat, sofern der Angeklagte nicht von seinem Schweigerecht Gebrauch macht. Das wäre die Gelegenheit für den Angeklagten, sich selbst und die Tat in einem günstigen Licht erscheinen zu lassen. Doch weit gefehlt. Eine beliebte Gegenfrage ist: »Warum wollen Sie das wissen?« Weil mir langweilig ist? Weil ich krankhaft neugierig bin? Weil ich persönliche Daten sammle und an die CIA oder Facebook verkaufe? Unausrottbar ist auch der Einwand: »Können Sie nicht lesen? Das steht doch alles in der Akte.« »Nein, ich bin Analphabet«, möchte ich spontan antworten. Leider besagt das Mündlichkeitsprinzip gemäß § 261 Strafprozessordnung, dass das Urteil nur auf dem beruhen darf, was in der Hauptverhandlung mündlich erörtert wurde. Deshalb müssen Informationen aus der Akte mündlich in die Verhandlung eingeführt werden.
Keine Pluspunkte bringt es auch, wenn der Angeklagte auf meine Frage »Bereuen Sie die Tat?« mit »Nö« antwortet.
Manchmal besteht die Verteidigungsstrategie von Anwälten in einer Verzögerungstaktik. Neben zahlreichen Beweis- und Befangenheitsanträgen zeigt sich diese in dem häufigen Wunsch nach Pausen. Mit schöner Regelmäßigkeit werden Toiletten-, Raucher-, Beratungs- und Kaffeepausen beantragt. Auf Nachfrage werden diese natürlich weitschweifig mit Blasenschwäche, Nikotin- bzw. Koffeinabhängigkeit usw. begründet. In Coronazeiten sind auch Lüftungspausen beliebt geworden. Kaum eine Stunde kann noch durchverhandelt werden, ohne dass eine Pause verlangt wird. Und nicht selten werden die Pausen auch noch erheblich überzogen. Hat man es mit einem Pausenbettler zu tun, weiß man, man kann seinen Verhandlungsplan vergessen, und es wird ein langer Tag.
Es gibt Angeklagte, die werfen mit Beleidigungen nur so um sich. Die Verlesung der Anklageschrift kommentieren sie in Richtung Staatsanwältin mit »Die lügt, die blöde Kuh«. Drohe ich darauf Ordnungsmittel an, kontern sie mit »Scheiß drauf, du Wichser«. Die Aussage einer Belastungszeugin unterbrechen sie mit »Die Schlampe soll aufhören, hier so rumzulügen«. Polizisten halten sie grundsätzlich für »korrupt« oder »brutale Schläger«. Natürlich lügen auch sie wie gedruckt. Sind sie mit meiner Verhandlungsleitung unzufrieden, rufen sie: »Du befangenes Stück Scheiße!« Ich werde als »Vollidiot« oder »Rechtsbeuger« betitelt. Mit meiner Entscheidung würde ich ganz klar eine »massive Rechtsbeugung« begehen. Manche Angeklagte meinen, »sie wären beim Volksgerichtshof« oder ich sei wie Roland Freisler. Als Strafrichter muss man sich schon ein ziemlich dickes Fell zulegen. Einer meiner früheren Vorgesetzten meinte, das sei alles mit dem monatlichen Schmerzensgeld, sprich dem Gehalt, abgegolten.
Anlässlich einer Durchsuchung seiner Zelle hatte Erik Brozek einen Beamten als »Nazi« und »Hitler« beschimpft. Außerdem werde er dessen Frau und Kinder »ficken«. Brozek saß wegen eines bewaffneten Raubüberfalls eine siebenjährige Freiheitsstrafe ab. Zur Verhandlung über den Beleidigungsvorwurf wurde er in Handschellen aus dem Gefängnis vorgeführt. Brozek ist ein kleiner, stämmiger Mann mit kahl rasiertem Schädel. Unter dem Ärmel seines schwarzen T-Shirts lugt ein Totenkopf-Tattoo hervor. Außerdem hatte er vier Aktenordner dabei. Das ließ mich Böses ahnen. Den Staatsanwalt unterbrach er bei der Verlesung der Anklageschrift mehrfach: »Dieser Justizpinguin soll aufhören, hier solche Lügen über mich zu verbreiten.« Sobald ich ihm das Wort erteilte, legte er los. Er sei ein Justizopfer. Er fing an, in den Aktenordnern zu blättern, die diverse Anzeigen und Beschwerden gegenüber der Justizvollzugsanstalt und anderen Stellen enthielten, und begann daraus zu zitieren. Er sitze zu Unrecht ein und werde dort Repressalien ausgesetzt. Ich wies den Angeklagten darauf hin, dass dies keine Anhörung über die Haftbedingungen, sondern eine Hauptverhandlung über den Vorwurf einer Beamtenbeleidigung sei. Er meinte, falls er »Nazi« und »Hitler« gesagt hätte, was er abstritt, sei die »kleine Missgeburt« noch sehr gut damit weggekommen. Das mit dem »Ficken« hätte er nicht ernst gemeint, denn »wahrscheinlich ist die Alte von dem Schließer fett und scheiße hässlich«. Als ich Brozek zur Mäßigung ermahnte, schimpfte er in meine Richtung: »Wegen solch inkontinenten Wichsern wie dir sitze ich überhaupt im Knast.«
Die beiden Vollzugsbeamten wurden als Zeugen gehört und bestätigten die Beleidigung. Auf meine Frage, ob Brozek öfter ausfällig werde, antwortete einer, eigentlich könnte er jeden Tag Strafanzeige gegen Brozek erstatten, nur würde er dann zu nichts anderem mehr kommen. Im konkreten Fall hatte er das nur getan, weil es auch gegen seine Frau und seine Kinder ging. Das war ihm dann zu weit gegangen.
»Jetzt erzählt dieser Bastard schon wieder solche Lügen über mich«, kommentierte Brozek das Plädoyer des Staatsanwalts. Sein Pflichtverteidiger sagte wenig und bat um eine milde Bestrafung. In seinem letzten Wort überschüttete Brozek noch einmal mich, den Staatsanwalt und die JVA-Beamten mit Vorwürfen. Die Wahrheit sei darin verborgen, er klopfte bedeutungsvoll auf seine Aktenordner, und werde irgendwann ans Licht kommen.
Erik Brozek bekam einen Nachschlag von sechs Monaten Freiheitsstrafe. »Was für ein Scheiß-Rechtsstaat«, schimpfte er, als er abgeführt wurde.
Manche Angeklagte bringen ihren Fanclub, bestehend aus Familie, Freunden und Bekannten, zur Verhandlung mit. Diese lümmeln sich hinten auf den Zuschauerbänken und kommentieren das Geschehen. Es fängt harmlos mit Gesten wie Daumen rauf oder runter an. Die Verlesung der Anklageschrift oder die Aussagen von Belastungszeugen bedenken sie mit Buhrufen. Hält sich der Angeklagte für unschuldig oder hat ein Entlastungszeuge ausgesagt, applaudieren sie. Der Angeklagte freut sich sichtbar über die Unterstützung seines Fanclubs. Nach dem jahrelangen Konsum von Barbara Salesch & Co. halten sie Gerichtssitzungen für Klaumaukveranstaltungen. In ihrer Einfalt erkennen sie nicht, dass sie letztlich nur dem Angeklagten schaden, auf den ihr störendes Verhalten zurückfällt.
Der Angeklagte hat das Recht zu lügen, denn es gilt der Grundsatz, dass sich niemand selbst belasten muss. Wenn es nur nicht die immer gleichen dummdreisten Ausreden wären. Der Angeklagte versucht, seinen Kopf durch eine Ausrede aus der Schlinge zu ziehen. Doch meist macht er es nur schlimmer, denn mit solchen Ausreden beleidigt er die Intelligenz des Richters.
»Das war ich nicht!«
Das ist die Standardausrede bei allen Straftaten. Sie wird selbst dann gebracht, wenn es scharfe Tatvideos gibt, auf denen der Angeklagte deutlich zu erkennen ist. Oder auch wenn der Angeklagte durch DNA-Spuren überführt wurde.
»Ich habe nur zwei Bier getrunken.«
Auch wenn ein Autofahrer mehr Promille als sein Auto Hubraum hat, waren es stets nur zwei Bier. Gern wird auch die Ausrede »Betrunken fahre ich viel besser als nüchtern« genommen.
»Habe ich gefunden.«
Wenn bei jemandem Diebesgut sichergestellt wird, hat er es selbstverständlich nicht selbst geklaut, sondern er hat es gefunden. Im Unterschied zu uns weniger glücklichen Zeitgenossen findet er ständig Wertsachen auf dem Bürgersteig. Er lagert sie nur zu Hause zwischen, bis er die Adresse des Fundbüros herausgefunden hat.
»Er schuldete mir Geld.«
Die Ausrede wird gerne bei Raubüberfällen im Milieu gebraucht. Das Opfer hatte angeblich Drogenschulden beim Täter.
»Ich wollte ja bezahlen.«
Der Ladendieb will keiner gewesen sein. Irgendwie hat er die in seinen Rucksack eingesteckten Waren nur vergessen, als er schnellen Schrittes die Kasse passierte.
»Ich habe nicht geschlagen. Wenn ich wirklich geschlagen hätte, dann wäre er für Wochen im Krankenhaus.«
Wenn keine Gesichtsknochen gesplittert sind, kann der schlagkräftige Angeklagte es nicht gewesen sein. Das überzeugt natürlich auch den Richter.
»Die Drogen haben mir die Bullen untergeschoben.«
Das ist eine typische Einlassung, wenn beim Angeklagten Betäubungsmittel gefunden werden. Wie das weiße Pulver an ihre Nase und ihre Fingerabdrücke auf die Drogenpackung gekommen sind, können sie dann weniger gut erklären.
»Das Auto wollte ich zurückbringen.«
Heute klaut ja keiner mehr Autos. Sie werden nur für eine kurze Spritztour, die auch mehrere Monate dauern kann, ausgeliehen.
»Ich war nicht der Fahrer.«
Häufige Ausrede nach einer Trunkenheitsfahrt mit Crash. Der wahre Fahrer hätte unter Schock gestanden und sei gleich weggelaufen. Nein, seinen Namen kenne man nicht.
»Das Strafgesetzbuch gilt nicht.«
Inzwischen auch schon ein Klassiker ist die Reichsdeppen-Ausrede. Danach besteht das Deutsche Reich fort, und die Bundesrepublik Deutschland existiert überhaupt nicht. Deshalb gelten auch alle deutschen Gesetze gar nicht.
»Ich wusste nichts von den Kinderpornos. Die hat ein Dritter auf meinen Computer geladen.«
Der unbekannte Dritte war dann noch so umsichtig, den passenden Ordner für Kinderpornos auf der Festplatte zu suchen und ein paar Unterordner anzulegen.
Die fadenscheinigen Ausreden werden gerne mit den Worten »ich schwöre« bekräftigt. Da der Angeklagte keinen Eid ablegen kann, bleibt sein falsches Schwören folgenlos.
Gern werden auch Amnesien behauptet. Die Tat ist schließlich schon so lange her. Außerdem hätten sie unter Alkohol- oder Drogeneinfluss gestanden. Sie können sich deshalb nicht an den genauen Verlauf ihrer Taten erinnern. Genau zur Tatzeit hätten sie einen Filmriss oder einen Blackout. Alle mildernden Umstände können sie dafür aber umso detaillierter schildern: von der schlechten Kindheit über falsche Freunde bis hin zu Drogen. Ein Richter weiß sehr wohl, was er von einer selektiven Erinnerung zu halten hat.
Regel Nr. 9: Mit dummdreisten Ausreden macht der Angeklagte es nur schlimmer.
Eine verbreitete Unsitte von Verteidigern sind ehrenrührige Fragen an Zeugen. Dies wird mit der angeblichen Prüfung der Glaubwürdigkeit der Zeugen bemäntelt. Männer werden nach ihrer kriminellen Vergangenheit befragt, wobei unterstellt wird, wer schon mal eine Straftat begangen hat, sagt vor Gericht immer die Unwahrheit. Opfer von Sexualstraftaten werden ausufernd nach ihren sexuellen Gewohnheiten befragt. Wie viele Männer sie schon hatte, wie schnell es nach dem Kennenlernen Geschlechtsverkehr gab. Ziel dieser inquisitorischen Befragung ist es, der Zeugin einen lockeren Lebenswandel anzudichten. Sie sei eine, »die mit jedem ins Bett geht«. Also war es keine Vergewaltigung, sondern einvernehmlicher Sex.
Zum gelungenen Gerichtsauftritt gehört ein guter Abgang. Sobald der Urteilstenor verlesen wurde, springt der Angeklagte erregt auf und ruft: »Diesen Schwachsinn höre ich mir nicht länger an.« Beliebt sind auch Schimpftiraden, in denen die Worte »Unrecht« und »Willkür« vorkommen. Dann stürmt er aus dem Saal und wirft hinter sich die Tür knallend zu.
Wie reagiert man als Richter auf solche Störungen? Wenn es ganz kunterbunt wird, könnte ich damit drohen, den Saal räumen zulassen. »Ruhe! Oder ich lasse den Saal räumen!« Einmal in meinem Richterleben möchte ich das in den Saal rufen. Aber ich weiß, es gibt an meinem Gericht keine Wachtmeister, die das umsetzen könnten. Ich könnte natürlich beim Polizeirevier anrufen, ob sie sich gerade langweilen und mal vorbeischauen könnten.
Das Gerichtsverfassungsgesetz sieht bei ungebührlichem Verhalten vor Gericht die Verhängung eines Ordnungsgeldes von bis zu 1000 Euro oder Ordnungshaft bis zu einer Woche vor. Doch das Prozedere ist kompliziert, hält die Verhandlung weiter auf, provoziert oft weitere Ausfälligkeiten, und der Beschluss kann auch noch angefochten werden.
Manche Richter lassen es einfach zu, dass sich die Angeklagten und ihre Anwälte nach Herzenslust danebenbenehmen. Irgendwann geht ihnen die Puste aus, und sie hören von selbst auf. Im Geiste addieren die Richter Monat um Monat zu der Strafe, solange die Störungen andauern. In seiner Freude über den aggressiven Auftritt seines Verteidigers merkt der Angeklagte gar nicht, wie sehr er ihm bei der Strafzumessung schaden wird. Schlechtes Benehmen kann strafschärfend berücksichtigt werden, obwohl das nie ein Richter so sagen würde.
Regel Nr. 10: Schlechtes Benehmen wird strafschärfend berücksichtigt.