9

Falsche Geständnisse, lügende Zeugen und andere Beweismittel

Die Wahrheitssuche vor Gericht ist gar nicht so einfach. In diesem Kapitel widmen wir uns der Frage, welche Beweismittel es überhaupt gibt und welche Bedeutung sie haben.

Der CSI-Effekt

Die Täter wollten morgens um 3.05 Uhr den Geldautomaten einer Sparkasse aufsprengen. Sie hatten eine Propangasflasche mit Schlauch sowie eine Autobatterie mit Kabel mitgebracht. Beim Aufbohren des Automaten lösten sie Alarm aus und flohen. Zur Sprengung kam es nicht mehr. Als die Polizei wenige Minuten später erschien, traf sie niemanden mehr an. Die Täter ließen nur die Autobatterie mit Kabel zurück.

Die Kripo übernahm den Fall. Zeugen gab es keine. Die Überwachungskamera des Supermarktes gegenüber zeigte schemenhaft zwei Personen, die in den Raum mit dem Geldautomaten gingen und sich an ihm zu schaffen machten. Identifizierbar waren die Personen wegen der miserablen Bildqualität nicht. Später im Labor wurde an einem Klebestreifen eine DNA-Spur gesichert. Sie konnte Dmitri Petrow zugeordnet werden, und er wurde wegen der versuchten Geldautomatensprengung angeklagt.

Dmitri Petrow ließ über seine Verteidigerin die Tat abstreiten. Das einzige gegen ihn sprechende Indiz war der Klebestreifen mit seiner DNA-Spur. Doch keiner der Kripobeamten konnte angeben, wo er gefunden wurde. Wäre er beispielsweise zur Befestigung des Zündkabels am Geldautomaten verwendet worden, könnte man daraus auf eine Täterschaft des Angeklagten schließen. Was aber, wenn er einfach nur auf dem Supermarktparkplatz herumgelegen hatte? Um aus dem Klebestreifen Honig zu saugen, musste ein Zusammenhang zur versuchten Automatensprengung hergestellt werden, was aber misslang.

Ich erwog einen Freispruch. Die beiden Schöffen waren dagegen. Sie fragten nach weiteren Beweisen. Ob wir das Überwachungsvideo nicht »schärfer machen könnten«. Das hatte die Kripo schon erfolglos versucht. Aus einer grobkörnigen Aufnahme aus einiger Entfernung nachts kann auch der beste Techniker kein scharfes Bild zaubern. Sie schlugen vor, den Tatort noch mal mit dieser Speziallampe abzusuchen, mit der auch kleinste Spuren gefunden werden können. Diese Speziallampe gibt es nicht. Dann fragten sie nach einer Satellitenaufnahme. In den US-Serien und Filmen kreisen ständig Satelliten über uns, die bei Bedarf nachträglich Luftbilder von jedem beliebigen Ort zu jeder beliebigen Zeit liefern. Dann würde man bestimmt das Kennzeichen des Fluchtfahrzeugs ablesen können, meinte ein Schöffe. In der Wirklichkeit gibt es diese flächendeckende Satellitenüberwachung, auf die die Ermittlungsbehörden jederzeit Zugriff haben, nicht.

Nachdem ich den Schöffen all das erklärt hatte, konnten wir die Beweisaufnahme beenden und den Angeklagten freisprechen.

Wer regelmäßig CSI: Den Tätern auf der Spur und ähnliche Serien sieht, glaubt wahrscheinlich, Verbrechen lassen sich mithilfe modernster Forensik in wenigen Stunden aufklären. Ein Ermittler mit Adleraugen entdeckt kurz nach dem Eintreffen am Tatort ein Haar auf dem Teppichboden. Eine Stunde später ist das Ergebnis da. Der Täter ist durch die DNA-Analyse so gut wie überführt. In der Wirklichkeit wird eine Spurensicherung nur bei schweren Straftaten durchgeführt. In der Masse der Fälle werden keine Spuren gesichert, die im Labor kriminaltechnisch untersucht werden könnten. Unrealistisch ist auch das Testergebnis binnen einer Stunde. Die Labore sind überlastet, und es dauert Monate, bis ein Ergebnis vorliegt. Ein anderes Beispiel ist die Auswertung von Überwachungsaufnahmen. In den Serien können die Bilder beliebig vergrößert werden, während sie in der Wirklichkeit schnell verpixelt sind. In der Menschenmenge entdeckt der Ermittler dann klein und ganz am Rand eine verdächtige Person. Ein Computer, wie ihn die NASA gern hätte, identifiziert den Verdächtigen dann in Sekundenbruchteilen. Im wirklichen Leben gibt es keinen Polizeicomputer mit einer Datenbank, in der die Gesichter aller Bürger eingespeichert sind. Gott sei Dank kann man da nur sagen.

Der Konsument entwickelt durch das CSI-Phänomen unrealistische Erwartungen an die Beweisführung auch im Strafprozess. Immer wieder fragen Schöffen mich, warum bestimmte forensische Untersuchungen nicht gemacht wurden, warum keine Laborergebnisse vorliegen usw. Weil es all dies nur im Fernsehen gibt. In der Realität sind die Beweismittel ziemlich old school. Oder sie fehlen ganz.

Das Geständnis

Es gilt als die Königin der Beweismittel. Insbesondere wenn Täterwissen offenbart wird, kann sich der Richter sicher sein, dass der Angeklagte wirklich schuldig ist. Wenn er Tatangaben macht, die nur dem Täter bekannt sein können, wird er auch die Tat begangen haben.

Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs muss das Gericht, selbst wenn ein Geständnis des Angeklagten vorliegt, dieses auf seine Glaubhaftigkeit hin überprüfen, denn es sind schon falsche Geständnisse vorgekommen. Beispielsweise um den wahren Täter zu schützen. So hat der Schauspieler Günther Kaufmann den Überfall und die Tötung des Steuerberaters Hartmut Hagen gestanden. 21 Tatsächlich hatte seine kranke Ehefrau drei Männer zu der Tat angestiftet. Kaufmann wollte sie schützen und wurde aufgrund seines falschen Geständnisses zu 15 Jahren Haft verurteilt. Daneben gibt es taktische Geständnisse. Der Angeklagte gesteht, damit er endlich aus der U-Haft entlassen wird. Oder er fürchtet eine unbedingte Freiheitsstrafe und gesteht, um wenigstens Bewährung zu bekommen.

Jedenfalls verkürzt ein frühzeitiges Geständnis die Beweisaufnahme erheblich. Dem Angeklagten bringt es eine deutliche Strafmilderung ein. Ein Geständnis wird als erster Schritt zur Reue angesehen. Doch es kann schwierig werden, wenn der Angeklagte mehrere, der jeweiligen Prozesssituation angepasste Geständnisse ablegt, wie der folgende Fall zeigt.

Der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke wurde am 1. Juni 2019 auf der Terrasse seines Hauses erschossen. 22 In Verdacht geriet der Rechtsextremist Stephan Ernst. Lübcke hatte sich 2015 für die Aufnahme von Flüchtlingen eingesetzt und war dadurch in den Fokus von rechten Kreisen geraten.

Stephan Ernst gestand den Mord vor der Polizei. Er habe die Tat allein verübt. Er sei wütend über Lübckes Aussagen zur Flüchtlingspolitik gewesen.

Vor dem Ermittlungsrichter am Bundesgerichtshof widerrief Ernst sein Geständnis.

In einem zweiten Geständnis stellte er seinen Helfer Markus H. als ausführenden Täter dar. Dieser und nicht er selbst habe den tödlichen Schuss abgefeuert. In der Hauptverhandlung gestand er jedoch, er habe selbst geschossen. Markus H. sei zwar mit dabei gewesen, hätte aber nicht geschossen.

In dem Mordfall Lübcke lagen gleich drei verschiedene Geständnisse vor. Das warf für das Gericht die Frage auf, welches das glaubhafteste war. Letztlich kam es für das Oberlandesgericht Frankfurt am Main bei der Verurteilung darauf nicht an, da DNA-Spuren am Hemd von Lübcke sowie an Pistole und Munition Ernst als Mörder überführten. Er wurde für den Mord an Walter Lübcke zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Markus H. dagegen wurde freigesprochen.

Zeugen

Zeugen sind gleichzeitig das häufigste wie auch das unzuverlässigste Beweismittel. Sie sind das häufigste Beweismittel, weil es meist keine anderen gibt. In den Massenfällen der Alltagskriminalität rückt die Spurensicherung erst gar nicht aus. Die Polizei beschränkt sich auf das Aufnehmen von Zeugenaussagen.

Zeugen sind das unzuverlässigste Beweismittel. Die Wahrnehmung ist subjektiv. Der Mensch nimmt Geschehen nicht objektiv, sondern durch den Filter seiner Persönlichkeit selektiv und subjektiv wahr. Das Gehirn kann nicht jedes Erlebnis dauerhaft korrekt abspeichern. Mit der Zeit verblasst die Erinnerung. Unbewusst können Erinnerungslücken mit tatsächlich so nicht Erlebtem gefüllt werden.

Exemplarisch für die Unzuverlässigkeit von Zeugenaussagen sind für mich Verkehrsunfälle. Zwei Autos krachen mitten auf der Kreuzung zusammen. Es gibt nicht nur die Fahrzeuginsassen, sondern auch zufällig an der Kreuzung anwesende unbeteiligte Zeugen. Jeder schildert den Unfall ein bisschen anders. Manchmal kommen sie schon bei der Frage nach dem Fahrzeugtyp ins Schwimmen. Die Ampel war mal rot, mal grün, mal gelb. Manchmal frage ich mich, ob die Zeugen überhaupt den gleichen Unfall schildern. Die Krönung sind dann die sogenannten Knallzeugen. Sie sind erst durch das Kollisionsgeräusch auf den Unfall aufmerksam geworden und haben sich zu ihm umgedreht. Aber statt zuzugeben, dass sie den Unfall selbst überhaupt nicht gesehen haben, ziehen sie aus der Endstellung der Fahrzeuge Schlussfolgerungen, wie der Unfall zustande gekommen sein muss.

Darüber hinaus sind die meisten Zeugen nicht unbeteiligt und damit neutral, sondern stehen im Lager eines der Beteiligten.

Da gibt es die Belastungszeugen. Bei ihnen handelt es sich um den Geschädigten und ihm nahestehende Personen. Das Tatopfer hat meist auch Strafanzeige erstattet und damit das Ermittlungsverfahren erst in Gang gesetzt. Es will den Täter hinter Gitter sehen. Entsprechend negativ fällt seine Aussage für den Angeklagten aus. Der Opferzeuge kann die Tat und die Folgen für ihn übertrieben schildern. Erst recht, wenn er gleichzeitig Adhäsionsklage erhoben hat und sich ein hohes Schmerzensgeld erhofft.

Entlastungszeugen stammen meist aus dem Umfeld des Angeklagten. Mutter, Ehefrau und Freunde des Angeklagten sind gerne bereit, mit einem Alibi oder zumindest einem guten Leumund auszuhelfen. Den Satz »Mein Sohn macht so etwas nicht« habe ich Mütter schon dutzendfach sagen hören.

Dann gibt es noch die unwilligen Zeugen. Sie haben keine Lust, vor Gericht auszusagen. Sie ziehen sich darauf zurück, sich an nichts mehr zu erinnern. Morbus Alzheimer ist schon bei 20-Jährigen erschreckend weit verbreitet. Therapeutisch wende ich gegen Erinnerungsverluste die Beugehaft mit erstaunlich hohen Heilungsraten an. Andere unkooperative Zeugen antworten pampig, sie hätten schon alles bei der Polizei gesagt. Gerne erläutere ich ihnen den Mündlichkeitsgrundsatz, nach dem sämtlicher Akteninhalt in die Hauptverhandlung eingeführt werden muss, um für die Entscheidung verwertet werden zu können.

Ein Trick bei sich nicht erinnernden Zeugen ist der Vorhalt. Der Richter liest ihm seine damalige Aussage bei der Polizei vor. »Erinnern Sie sich jetzt wieder?«, fragt er anschließend. »Wenn ich das damals so gesagt habe, war das auch so«, antwortet der Zeuge häufig. Und schon liegt trotz Erinnerungsverlusten eine verwertbare Zeugenaussage vor.

Schließlich sind da noch die lügenden Zeugen. Es ist nicht immer einfach, eine Lüge zu erkennen. Anzeichen für eine unwahre Aussage können sein:

Ein ohrenbetäubender Knall zerriss um zwei Uhr morgens die nächtliche Stille in Dessau-Nord. Steven Böttcher hatte aus dem Inhalt mehrerer Polenböller eine Sprengladung gebastelt und diese in den Ausgabeschacht eines Zigarettenautomaten gesteckt. Der Automat wurde durch die Wucht der Explosion von der Wand gerissen und auf die andere Straßenseite katapultiert. Zigarettenschachteln und Bargeld waren über die Straße verteilt. Steven Böttcher machte sich daran, seine Beute einzusammeln. Doch durch den Knall waren die Bewohner der umliegenden Häuser aus den Betten geworfen worden. Drei von ihnen erkannten Steven Böttcher, der in der Nachbarschaft wohnte.

Ein paar Monate später saß Steven Böttcher wegen Herbeiführens einer Sprengstoffexplosion und Diebstahl auf der Anklagebank. Sein Verteidiger trug vor, sein Mandant sei zur Tatzeit nicht am Tatort gewesen, sondern habe mit seiner Schwester und deren Freundin ein Musikzelt besucht. Die drei Zeugen müssen den Angeklagten mit jemandem verwechselt haben, was bei der Dunkelheit nachts kein Wunder sei. Ich vertagte die Verhandlung und lud die beiden Alibizeuginnen zum Fortsetzungstermin.

Die Schwester des Angeklagten machte von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch. Wenn sie ihrem Bruder das Alibi verweigert, wird sie schon einen guten Grund dafür haben, dachte ich.

Als Nächstes nahm Janine Rosenthal auf dem Zeugenstuhl Platz. Sie sagte aus, sie sei mit der Schwester des Angeklagten befreundet, ihn kenne sie nur flüchtig. Auf Fahrrädern seien sie in der fraglichen Nacht zu dritt zu dem Musikzelt am Flughafen geradelt. Dort hätten sie bis morgens um drei Uhr gefeiert und jede Menge Alkohol getrunken. Dann seien sie zurückgeradelt und hätten sich gegen 3.30 Uhr getrennt. Ich fragte sie, warum sie sich an dieses Datum und die Uhrzeiten so genau erinnern konnte. Darauf hatte sie keine Antwort, beharrte jedoch darauf, dass es genau so gewesen sei. Die Sitzung wurde für die Mittagspause unterbrochen.

Die Staatsanwältin fragte die Zeugin anschließend, ob sie wirklich nur mit der Schwester des Angeklagten befreundet sei. Dies bejahte sie. Eigentlich sei sie mit dieser verabredet gewesen und zum Musikzelt gefahren, der Angeklagte habe sich ihnen nur angeschlossen. »Wie erklären Sie dann dieses hier?«, fragte die Staatsanwältin und hielt ihr Smartphone hoch. Darauf war ein Paarfoto des Angeklagten und der Zeugin auf Facebook zu sehen. Janine Rosenthal errötete. »Wir sind erst viel später zusammengekommen.« Die Staatsanwältin scrollte auf ihrem Smartphone. »Ach ja? Und wie erklären Sie den ›In einer Beziehung mit‹-Post ein halbes Jahr vor der Automatensprengung?« Das konnte sie nicht. Aber sie war sich sicher, in der fraglichen Nacht mit dem Angeklagten im Musikzelt gewesen zu sein. Da sie bereits über ihre Beziehung zum Angeklagten gelogen hatte, glaubten weder Staatsanwältin noch Richter der Alibi-Zeugin mehr.

Steven Böttcher wurde zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren ohne Bewährung verurteilt.

Eine geheime Beweisregel lautet:

Image Regel Nr. 14: Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht mehr.

Hat der Richter den Zeugen beim Lügen ertappt, wird er den weiteren Aussagen, auch wenn sie der Wahrheit entsprechen sollten, möglicherweise keinen großen Glauben mehr schenken.

Asservate

Wenn die Polizei Beweismittel sicherstellt, werden die oft der Akte beigefügt. Da kann dann das blutverschmierte Messer einer Messerstecherei in einem Plastikbeutel auf dem Richtertisch liegen. Oder diverse Betäubungsmittel in Klarsichtbeuteln. Oder das Brecheisen, mit dem in ein Einfamilienhaus eingebrochen wurde. Wenn an ihnen auch noch DNA-Spuren des Angeklagten gefunden wurden, wird ein Bestreiten der Tat schwierig.

Urkunden

Sie galten früher mal als sicheres Beweismittel. Doch Computer mit Scanner und Laserdrucker ermöglichen es inzwischen selbst einem Laien, auf den ersten Blick überzeugende Fälschungen von Verträgen, Quittungen und Zeugnissen herzustellen. Sollen es Pässe, Führerscheine und Ausweise sein, lassen sich diese bequem im Darknet bestellen. Die Fälschungen sind der Regel so gut, dass es eines Sachverständigen bedarf, um sie festzustellen.

Überwachungsvideos

Sowohl ihre Verbreitung als auch ihre Qualität nehmen zu, was sie zu einem immer wichtigeren Beweismittel macht. Es gehört zum Standardvorgehen bei Ermittlungen, abzuprüfen, ob die Tat nicht zufällig von einer Videokamera in der Nähe aufgenommen worden ist.

Die 25-jährige Chinesin Li Yangjie studierte im fünften Semester Architektur an der Hochschule Anhalt in Dessau. Am Abend des 11. Mai 2016 ging sie joggen. Nachdem sie nicht zurückgekehrt war, wurde sie vermisst gemeldet. Zwei Tage später fand die Polizei ihre übel zugerichtete Leiche unweit ihrer Wohnung. Die Studentin war erst mehrfach vergewaltigt und dann umgebracht worden. Es wurde Fremd-DNA an ihrem Körper gefunden.

Am 23. Mai 2016 erschien ein junges Paar, Sebastian F. und Xenia I., bei der Polizei. Die beiden gaben an, dass die DNA, die an Li Yangjies totem Körper gefunden wurde, von ihnen stammen könne, da sie in der Nacht vor ihrem Verschwinden einvernehmlichen Sex mit ihr gehabt hätten.

Was wirklich passiert war, brachte ein Überwachungsvideo vom Tag des Verschwindens von Li Yangjie ans Licht. In dem Mietshaus, in dem Sebastian F. und Xenia I. wohnten, befand sich ein Antiquitätengeschäft. Dessen Videokamera war nach draußen auf die Straße gerichtet. Auf der Aufnahme ist zu sehen, wie Xenia I. die Studentin zu sich herwinkt, auf eine Wohnung im zweiten Stock deutet und sie bittet, ihr zu helfen. Zu sehen ist, wie sich Li Yangjie zweifelnd umblickt, dann jedoch mitgeht. Mit dem In-die-Falle-Locken auf dem Video war die Einlassung, sie hätten sich bereits am Tag davor für Sex zu dritt getroffen, widerlegt. Das Video zeigt die erste Begegnung der Studentin mit Xenia I. Nach dem weiteren Ermittlungsergebnis wartete hinter der Eingangstür Sebastian F. und überwältigte sie. Er schleppte Li Yangjie in den ersten Stock und vergewaltigte die junge Frau zusammen mit seiner Freundin. Später brachte er sie alleine um.

Am 4. August 2017 wurde Sebastian F. wegen Vergewaltigung und Mord vom Landgericht Dessau-Roßlau zu lebenslanger Haft verurteilt. Xenia I. erhielt wegen sexueller Nötigung eine Jugendstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten.

DNA-Spuren

Die Einbrecher in meinen Verfahren achten penibel darauf, keine Spuren von sich am Tatort zu hinterlassen. Sie tragen Handschuhe, um Fingerabdrücke zu vermeiden. Dazu eine Maske, um auf etwaigen Überwachungsvideos nicht erkannt zu werden. Doch so ein Einbruch ist anstrengend, und irgendwann machen sie eine Pause. Sie trinken etwas und rauchen. Flaschen und Kippen lassen sie achtlos zurück. Die Polizei sammelt sie ein und schickt sie ins Labor. Dieses meldet später DNA-Treffer.

Sachverständige

Wenn einem Richter das notwendige Fachwissen fehlt, schaltet er einen Sachverständigen ein. Häufig sind dies Rechtsmediziner, die etwas zum Alkoholisierungsgrad des Angeklagten und dessen Auswirkungen auf seine Schuldfähigkeit aussagen können. Oder zu den Verletzungen der Opfer. Unfallanalytiker untersuchen, ob der tödliche Unfall vermeidbar war oder nicht. Fachärzte für Psychiatrie untersuchen Angeklagte auf ihre Schuldfähigkeit. Ein Identitätsgutachter kann feststellen, ob die von der Überwachungskamera beim Banküberfall aufgenommene Person mit dem Angeklagten identisch ist.

Man nennt die Sachverständigen auch »Richter in Weiß«, denn sie bestimmen mit ihrem Gutachten die Gerichtsentscheidung maßgeblich mit. Ist es plausibel und nachvollziehbar, wird das Gericht ihm regelmäßig folgen. So werden wesentliche Teile des Urteils an die Sachverständigen ausgelagert.

Die Richter können den damit einhergehenden Machtverlust durch die Auswahl des Sachverständigen kompensieren. Es gibt für jedes Fachgebiet meist nur eine Handvoll Experten. Mit der Zeit lernt der Richter die Arbeitsweise und Ergebnisse eines einzelnen Sachverständigen kennen. Er kann einschätzen, zu welchem Ergebnis er in einem bestimmten Fall voraussichtlich kommen würde. Die Sachverständigen können deshalb nach dem gewünschten Ergebnis beauftragt werden und liefern dieses dann meist auch.

Image Regel Nr. 15: Der Richter steuert das Gutachtenergebnis durch Auswahl des Sachverständigen.

Dazu ein Beispiel aus meiner Zeit als Bußgeldrichter. Sachverständiger A scheint ein Problem mit Radarfallen zu haben. Er untersucht verbissen mit fast schon wissenschaftlicher Akribie jede Messung so lange, bis er einen Fehler oder zumindest Zweifel aufwerfende Unstimmigkeiten findet. Weil er sehr gründlich arbeitet, sind seine Gutachten teuer, liegen erst nach Monaten vor und sind ausgesprochen lang. Sachverständiger B ist für sehr viele Gerichte tätig. Er schreibt sehr schnell kurze Gutachten, nach denen die Messung nicht zu beanstanden ist. Zu Recht geht er davon aus, dass viele überlastete Bußgeldrichter genau das wollen, ein schnelles und schlankes, die Messung bestätigendes Gutachten. Sie können sich jetzt unschwer vorstellen, wie verschieden das Gutachten über eine Geschwindigkeitsmessung in einem x-beliebigen Fall ausfallen würde, je nachdem, ob der Richter den Sachverständigen A oder B beauftragt.

Ein Sachverständigengutachten verbessert nicht in jedem Fall die Qualität einer richterlichen Entscheidung, sondern kann durchaus auch zu Justizirrtümern führen, denn niemand prüft die Qualifikation der Sachverständigen. Es gibt keine Stelle innerhalb der Justiz, die Lebenslauf, Zeugnisse und Berufserfahrung der sich um Aufträge bewerbenden Sachverständigen prüft. So kann es passieren, dass auch inkompetente Gutachter beauftragt werden. Und dadurch besteht die Gefahr von Fehlurteilen.

Die Bankkassiererin blickt in den Lauf einer Pistole. Der auffallend große und korpulente Mann vor ihrem Schalter, mit dunklem Mantel, Hut und Sonnenbrille bedrohlich wirkend, verlangt Geld. Die Kassiererin stopft 54 000 DM in eine Plastiktüte und schiebt sie dem Bankräuber rüber. Währenddessen macht die Überwachungskamera Fotos durch das Panzerglas. Der Mann nimmt eine Angestellte als Geisel und entkommt mit einem Taxi. Dabei hinterlässt er einen Fingerabdruck am Holm der Beifahrertür.

Nach einer Ausstrahlung des Falles in der Sendung Aktenzeichen XY … ungelöst glaubt ein Polizeibeamter Donald Stellwag, den er flüchtig kennt, als möglichen Täter auf dem Bild der Überwachungskamera wiederzuerkennen. Wie der gesuchte Bankräuber ist der 34-jährige Stellwag mit 1,95 m auffallend groß und mit knapp 200 kg auffallend dick. Er meldet sich, als er hört, dass nach ihm gesucht wird, freiwillig auf dem Polizeipräsidium. Es folgt eine Gegenüberstellung. Der war’s, sagen die Zeugen, der ist genau so dick und so groß wie der Räuber. Im Februar 1993 ergeht Haftbefehl gegen Stellwag, und er wird in Untersuchungshaft genommen.

Anfang 1994 beginnt der Strafprozess gegen Stellwag vor dem Landgericht Nürnberg/Fürth. Fünf Zeugen erkennen in Donald Stellwag den Täter, zehn waren sich nicht sicher. Stellwag bestreitet die Tat. Er gibt an, zur Tatzeit als Chef einer Drückerkolonne im 220 Kilometer entfernten Leuna gewesen zu sein. Er hat Zeugen dafür, doch ihnen wird nicht geglaubt.

Zum Verhängnis wird Stellwag Dr. S., Sachverständiger für anthropologische Vergleichsgutachten 23 . In seinem schriftlichen Gutachten kommt er zu dem Ergebnis, dass Stellwag mit »sehr großer Wahrscheinlichkeit« mit der Person auf den Täterbildern identisch ist. Das in der Hauptverhandlung mündlich erstattete Gutachten fiel für Stellwag noch verheerender aus. Dr. S. sprach über eine charakteristische Ohrform, die bei dem Bankräuber auf dem Foto und bei dem Angeklagten identisch sei. »Sie lügen!«, schrie Stellwag. »Ach, geben Sie es doch zu«, sagte Dr. S. und lächelte, »ich habe Sie erkannt.« Die Wahrscheinlichkeit für Stellwags Täterschaft sei oben im 90er-Bereich angesiedelt, über 98 Prozent. Allein aus formalen Gründen habe er keine 100 Prozent Wahrscheinlichkeit angenommen, für ihn bestehe an der Täterschaft des Angeklagten jedoch keinerlei Zweifel. Es sei nach seiner Berufserfahrung unvorstellbar, dass eine andere Person als Täter in Betracht kommen könne.

Das Landgericht verurteilte Stellwag am 16.02.1994 wegen des Überfalls auf die Bank sowie einer Urkundenfälschung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren. Die Kammer wurde insbesondere durch das Identitätsgutachten von der Täterschaft des Angeklagten überzeugt.

Donald Stellwag hat von den acht Jahren sechs abgesessen. 2.186 Tage hinter Gittern hat er für den Banküberfall verbüßt.

Drei Wochen nach seiner Entlassung wurde ein großer und dicker Mann gefasst, der gerade eine Bank überfallen hatte. Bei der Gelegenheit gestand er auch den Überfall auf die Nürnberger Sparkasse 1991. Der Fingerabdruck am Taxi, das der Bankräuber damals benutzte, stammt von ihm, wie die Polizei nun feststellte. Er wurde für mehrere Raubüberfälle zu einer Freiheitsstrafe von elfeinhalb Jahren verurteilt. Er entschuldigt sich bei seinem »Doppelgänger«, der an seiner Stelle zu Unrecht im Gefängnis gesessen hat.

Stellwag wurde im Wiederaufnahmeverfahren 2001 freigesprochen. Dieser Fall zeigt eindrucksvoll, wie falsch ein Sachverständigengutachten sein kann.

Eine Besonderheit sind psychologische und psychiatrische Gutachten. Es kann in ihnen um die Schuldfähigkeit des Angeklagten, seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt oder die Beurteilung der Glaubhaftigkeit einer Zeugenaussage gehen. Diese Gutachten weisen eine gewisse Fehlerquote auf, denn es handelt sich bei der Psychologie und Psychiatrie um keine exakte Wissenschaft. Ein Chirurg beispielsweise kann die Diagnose eines Knochenbruchs mit einem Röntgenbild belegen. Ein Psychologe oder Psychiater hat dagegen keine objektiven Befundtatsachen. Er kann nicht in den Kopf des zu Untersuchenden schauen. Er kann lediglich aus seinen Äußerungen und seinem Verhalten Schlussfolgerungen ziehen. Diese können richtig sein, müssen es aber nicht. Auffällig ist, wenn mehrere Sachverständige zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen kommen. So wurden in dem Kachelmann-Prozess mehrere Sachverständige dazu gehört, ob die Aussage von Claudia D., von Kachelmann vergewaltigt worden zu sein, glaubhaft sei. Das wurde mal bejaht und mal verneint. Oder in dem Fall Gustl Mollath gab es sowohl Gutachter, die ihn für gefährlich hielten, woraus sich für sie die Notwendigkeit einer jahrelangen Zwangsunterbringung in der Psychiatrie ergab, als auch welche, die ihn für einen harmlosen Spinner hielten, der in die Freiheit entlassen werden könnte. Um beim Beispiel des Knochenbruchs zu bleiben: Hier könnten zwei Sachverständige kaum zu völlig entgegengesetzten Ergebnissen kommen. Der Knochen ist gebrochen oder nicht – und das wäre durch ein Röntgenbild auch nachweisbar.

Der Indizienbeweis

Er ist kein eigentlicher Beweis, sondern eine Frage der Beweiswürdigung. Er ist ein Beweis, bei dem von einer mittelbar bedeutsamen Tatsache auf eine unmittelbar entscheidungserhebliche Tatsache geschlossen wird. 24 Er wird angewendet, wenn direkte Beweise fehlen.

Die hochschwangere Maike T. verschwand im Juli 1997 nach einer Vorsorgeuntersuchung im Krankenhaus spurlos. Lange blieb die Sache unaufgeklärt. Doch dann gerieten ihr Ex-Freund Michael S., der mutmaßliche Vater des ungeborenen Kindes, und dessen Mutter Christine durch eine Zeugenaussage in den Fokus der Ermittlungen. Die Zeugin gab an, Michael S. habe ihr vor Jahren den Mord gestanden.

16 Jahre nach dem Verschwinden von Maike T. kommt es zu einem Indizienprozess vor dem Landgericht Neuruppin. 25 Angeklagt wegen Mordes sind Michael S. und dessen Mutter Christine. Doch es ist ein Mord ohne Leiche. Maikes sterbliche Überreste wurden nie gefunden.

Das Landgericht geht davon aus, dass die Mutter ihren Sohn zu dem Mord angestiftet hat, um zu verhindern, dass er Unterhalt für das Kind zahlen müsse. Er habe Maike nach der Untersuchung im Krankenhaus abgepasst und sie in seinem Auto in ein Waldstück gefahren. Dort habe ein Auftragsmörder sie von hinten erwürgt, während Michael S. ihr den Mund zugehalten habe. Anschließend hätten sie die Leiche entsorgt.

Aus Sicht des Gerichts wiegen die Indizien schwer: Die Mutter hatte sich das Datum des Vorsorgetermins auf einem Zettel notiert. Michael S. hat den Mord gegenüber zwei verschiedenen Freundinnen gestanden. Allerdings hat eine der beiden Zeuginnen psychische Probleme, was ihre Glaubwürdigkeit infrage stellt. Und eine Zeugin hat Michael S. am Morgen des Verschwindens von Maike T. in der Nähe des Krankenhauses gesehen. Außerdem hat Michael S. vor und nach dem Verschwinden von Maike T. Geld vom Konto abgehoben, wahrscheinlich der Lohn für den Auftragsmörder. Dem Landgericht genügten diese Indizien, und es verurteilte Michael S. und seine Mutter Christine jeweils zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe.

Beim Indizienbeweis kann der Strafrichter zum Krimiautor werden. Er hat nur wenig Anhaltspunkte für die Schuld des Angeklagten. Doch mit ein wenig Fantasie kann es ihm gelingen, die Lücken zu schließen und aus den Indizien eine plausible Geschichte zu stricken.

Rudolf Rupp wird vermisst. Zuletzt wurde er gesehen, wie er betrunken ein Wirtshaus verließ und mit seinem Mercedes wegfuhr. 26 Der ermittelnde Staatsanwalt war davon überzeugt, dass Rupp nach dem Wirtshausbesuch nach Hause gefahren sein musste. Deshalb sei der Täter in der Familie zu suchen. Und der Staatsanwalt fand auch Motive. Nach der Vernehmung der Beschuldigten und der Befragung von Dorfbewohnern stellten sich ihm die familiären Verhältnisse so dar: Rudolf Rupp war ein herrschsüchtiger Hoftyrann gewesen, der seine Töchter missbrauche und »weg müsse«. Den Mercedes hätte die Familie in einer Schrottpresse entsorgt, vermutete der Staatsanwalt. Das Anwesen wird erfolglos durchsucht. Immer wieder wurden die Familienmitglieder ohne anwaltlichen Beistand vernommen, bis der Schwiegersohn gesteht, den Bauern mit einem Vierkantholz erschlagen, zerstückelt und an die Hunde verfüttert zu haben. Auch die Ehefrau und eine Tochter legten Geständnisse ab. Alle Geständnisse werden später widerrufen, weil sie unter Druck zustande gekommen waren.

Das Landgericht Ingolstadt hatte nur drei Indizien: Rudolf Rupp wurde weiter vermisst, es gab Mordmotive in der Familie, und die Angeklagten hatten bei der Polizei gestanden. Sachbeweise gab es keine. Doch dem Landgericht reichten diese Indizien, und es verurteilte Hermine Rupp und Matthias E. am 13. Mai 2005 wegen gemeinschaftlichen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von jeweils acht Jahren und sechs Monaten. Die Töchter wurden wegen Beihilfe zum Totschlag zu Jugendstrafen von drei Jahren und sechs Monaten und zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Nachdem die Revisionen zurückgewiesen worden waren, wurde das Urteil rechtskräftig.

Am 13. März 2009 wurde ein Mercedes aus der Donau geborgen. Darin saß die erstaunlich gut konservierte Leiche von Rudi Rupp. Nichts deutete auf eine Fremdeinwirkung hin, die zum Tode von Rudolf Rupp geführt haben könnte. Vielleicht war es einfach nur ein Unfall gewesen. War Rudolf Rupp schlicht nach acht großen Gläsern Weißbier mit schätzungsweise 2,5 Promille betrunken in die Donau gefahren?

Jedenfalls stand mit dem Auffinden der Leiche fest, dass die Geständnisse falsch waren. Rudolf Rupp konnte nicht mit einem Vierkantholz ins Genick erschlagen worden sein, denn seine Nackenwirbel waren unverletzt. Auch war die Leiche nicht zerstückelt, sondern saß in einem Stück auf dem Fahrersitz. Schließlich war der Mercedes auch nicht in einer Schrottpresse entsorgt worden, stattdessen wurde er unbeschädigt aus der Donau gezogen.

Das gesamte der Verurteilung zugrunde gelegte Tatgeschehen hatte sich nicht ereignet, und die Horrorgeschichte aus Inzest, Mord, Zerstückeln und Verfütterung an die Hunde war vom Gericht frei erfunden worden.