»Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich«, steht in Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes. Das hat sich die PR-Abteilung des Justizministeriums ziemlich clever ausgedacht. Tatsächlich sind vor dem Gesetz nicht alle gleich. Lassen Sie mich das an folgenden Gerechtigkeitsdefiziten ausführen:
Eine weitverbreitete Annahme besagt, wer sich einen bekannten Anwalt leisten kann, hat bessere Chancen vor Gericht. Das glauben nach dem Roland Rechtsreport 59 Prozent. 30
Am schlimmsten ist derjenige dran, der sich selbst verteidigen muss, weil kein Fall der Pflichtverteidigung vorliegt und er nicht genug Geld hat, einen Anwalt aus eigener Tasche zu bezahlen. Vor dem Amtsgericht ist das der Regelfall.
Die Angeklagten stammen überwiegend aus der Unterschicht. Es handelt sich um Dauerarbeitslose, Drogenabhängige oder Niedriglohnempfänger. Und es sind nicht die Intelligentesten. Sie sind nicht gewandt in Wort und Schrift. Solche Angeklagten sind mit einem Strafprozess intellektuell hoffnungslos überfordert. Sie können sich nicht erfolgreich selbst verteidigen.
Ich hatte einen Nachbarschaftsstreit zu verhandeln. Angeklagt war Thomas Gerlach, ein Familienvater, wegen Körperverletzung und Diebstahl. Er war Schichtarbeiter und musste deshalb regelmäßig auch tagsüber schlafen. Vier Nachbarskinder spielten auf dem Hof vor seinem Schlafzimmer lautstark Fußball. Er konnte nicht schlafen, ging runter und forderte die Jungen auf, woanders Fußball zu spielen. Kaum hatte er sich wieder hingelegt, ging der Fußballlärm erneut los. Er ging wieder runter, gab einem der Jungs eine kräftige Ohrfeige und nahm ihm den Ball weg. Die drei anderen Jungs rannten vor der drohend erhobenen Hand des Mannes weg. Die Mutter des Jungen erstattete Anzeige wegen Körperverletzung und Diebstahl. Die Staatsanwaltschaft hatte Anklage erhoben.
Als ich die Akte las, hatte ich ein wenig Verständnis für Thomas Gerlach. Ich konnte verstehen, warum das rücksichtslose Verhalten der Jungen ihn so wütend gemacht hatte. Er war nicht vorbestraft. Wenn er Einsicht zeigte, könnte man über eine Einstellung gegen eine Geldauflage nachdenken. Oder vielleicht einen Täter-Opfer-Ausgleich.
Thomas Gerlach erschien ohne Verteidiger zur Verhandlung. Der Mann war Anfang fünfzig, korpulent und hatte volles weißes Haar. Er gab die Ohrfeige und das Wegnehmen des Fußballs zu, fühlte sich aber im Recht. »Mein Schlaf ist mir heilig, und wenn ich dabei gestört werde, setzt es etwas.« In Richtung der im Saal anwesenden Mutter schimpfte er: »Die Schlampe soll besser ihren Bastard erziehen, statt mich anzuzeigen.« Ich fragte noch mal nach, ob er so etwas wieder tun würde, wenn er sich im Schlaf gestört fühle. »Bei nächsten Mal bin ich schneller und erwische auch die anderen Jungs«, war seine Antwort.
Ein Verteidiger hätte ausführen können, dass der Angeklagte wegen seiner Schichtarbeit unter massiven Schlafproblemen leide. Er müsse praktisch ständig gegen seine innere Uhr ankämpfen. Er habe aufgrund seines Schlafdefizits überreagiert. Schlafentzug könne sogar zu einer verminderten Schuldfähigkeit führen. Der einmalige Vorfall tue seinem Mandanten sehr leid, und Derartiges werde nicht wieder vorkommen. Er möchte sich bei den Kindern und der Mutter für sein Verhalten entschuldigen. Selbstverständlich wäre er auch zu einem Täter-Opfer-Ausgleich bereit. Im Übrigen sei er nicht vorbestraft.
Da Thomas Gerlach aber keinen Anwalt hatte, redete er sich stattdessen um Kopf und Kragen. Er wurde zu einer Geldstrafe von 50 Tagessätzen, also knapp zwei Monatsgehältern, verurteilt.
Nur in den in § 141 Strafprozessordnung geregelten Fällen hat der Angeklagte einen Anspruch auf einen Pflichtverteidiger. Die drei wichtigsten Fälle sind:
In den allermeisten Fällen wird dem Angeklagten kein Pflichtverteidiger bestellt.
Aber auch derjenige, dem das Gericht einen Pflichtverteidiger beigeordnet hat, wird oft nicht die bestmögliche Verteidigung bekommen. Er wird sich nicht maximal für die Verteidigung engagieren, denn die gesetzlichen Gebühren sind karg. Jeder Anwalt hat die Gebührensätze im Kopf, und er weiß auch, was ihn die Kanzleimiete und die Anwaltsgehilfin kosten. Aus diesen Faktoren errechnet er das für den Fall zur Verfügung stehende Zeitbudget. Dieses enthält zum Beispiel keine eigenen Recherchen, um die Unschuld des Mandanten zu beweisen. Oft ist nicht mehr drin als die Aktenlektüre, eine Mandantenbesprechung und die Teilnahme an der Hauptverhandlung.
Gut dran ist der wohlhabende Angeklagte. Er kann sich Top-Anwälte mit Stundensätzen von 300 bis 500 Euro leisten. Wer die geballte Man-Power einer größeren Kanzlei hinter sich hat, steigert seine Chancen auf eine Einstellung oder einen Freispruch erheblich. Das liegt nicht nur an den Anwälten, sondern auch an dem Apparat von Recherche-Assistenten bis hin zu Privatdetektiven. Akribisch flöhen sie die Akten nach Ermittlungsfehlern und Verteidigungsansätzen durch. Die Staatsanwaltschaft und das Gericht werden mit häufigen und langen Schriftsätzen mürbe gemacht. Der Angeklagte kann sich in der Hauptverhandlung von bis zu drei Anwälten verteidigen lassen. Sechs Augen sehen mehr als zwei. Und Richter lassen sich durchaus von großen Strafverteidigernamen beeindrucken. Wenn am Verteidigertisch ein bundesweit bekannter Experte für Revisionsverfahren sitzt, wird der Vorsitzende sehr vorsichtig werden, um ja keine Vorlage für eine erfolgreiche Revision zu liefern. Weitere Anwälte können im Hintergrund Zuarbeit leisten. Deshalb werden so selten kriminell gewordene Wirtschaftsbosse verurteilt. Sie können sich eine Verteidigung durch ein Top-Anwaltsteam leisten, meist zahlt es ohnehin ihre Firma.
»Lotterie-König« nannte die Boulevardpresse den Chef der Düsseldorfer Firma »Lotto-Team«. 31 Torsten Wenninger saß auf der Anklagebank, weil er jahrelang eine illegale Lotterie betrieben und dabei mindestens 30 Millionen Euro an Steuern hinterzogen haben soll. Er ließ sich von gleich vier Anwälten verteidigen. Die Speerspitze der Verteidigerriege bildete der renommierte Strafrechtsprofessor Klaus Bernsmann.
Dieser wandte ein, als Anbieter von Systemscheinen betreibe der Angeklagte keine eigene Lotterie. 32 Damit falle auch keine Lotteriesteuer an, weshalb auch keine Steuerhinterziehung vorliege. Zur Entlastung der Angeklagten beriefen sich die Verteidiger zudem auf höchstrichterliche Entscheidungen aus Karlsruhe und Brüssel. Das Verteidigungsteam erreichte am 17. Verhandlungstag eine Einstellung gemäß § 153a Strafprozessordnung gegen die Zahlung von 750 000 Euro. Für den Angeklagten waren das Peanuts. Torsten Wenninger verließ das Gericht als freier Mann und ohne Vorstrafen.
Der Spruch »Die Armen hängt man, die Reichen lässt man laufen« bewahrheitet sich bei der Untersuchungshaft. Die Armen unserer Gesellschaft landen viel häufiger in Untersuchungshaft als die Wohlhabenden.
Meist wird ein Haftbefehl auf Fluchtgefahr gestützt. Ein Obdachloser muss auch bei Bagatellstraftaten befürchten, die Zeit bis zur Verhandlung in Untersuchungshaft zu verbringen. Zu groß ist die Befürchtung, er könnte zur Verhandlung erst gar nicht geladen werden oder er wäre bei Nichterscheinen unauffindbar. Da wird der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit schon mal großzügig ausgelegt. Ähnliches gilt bei nicht sesshaften Asylbewerbern. Sie werden von der Ausländerbehörde einer bestimmten Unterkunft zugewiesen, halten sich dort aber nicht auf. Stattdessen leben sie unangemeldet bei verschiedenen Freunden im ganzen Bundesgebiet. Also besteht Fluchtgefahr.
Fluchtbegünstigend sind auch Verstöße gegen das Melderecht. Mancher Beschuldigte hat nur seine Ummeldung verschusselt. Das rettet ihn aber nicht vor dem Haftbefehl. Denn wer vergisst, seinen Umzug dem Einwohnermeldeamt mitzuteilen, vergisst womöglich auch Gerichtstermine.
Arbeitslos und ohne familiäre Bindungen ist aus Sicht von Haftrichtern auch fluchtverdächtig.
Wer wohlhabend ist, kann dagegen der Untersuchungshaft durch Stellung einer Kaution entgehen. So lag gegen Uli Hoeneß bereits ein Haftbefehl vor. 33 Er musste trotzdem nicht in Untersuchungshaft, nachdem er eine Kaution von fünf Millionen Euro gezahlt hatte. Der damalige Audi-Chef Rupert Stadler saß wegen Betrug bereits vier Monate in Untersuchungshaft, als er sich mit einer Kaution von drei Millionen Euro die Freiheit erkaufte. 34 Es liegt auf der Hand, dass nicht wohlhabende Beschuldigte eine nennenswerte Kaution nicht anbieten können. Sie bezahlen ihren Geldmangel schlicht mit ihrer Freiheit.
Bei den Massendelikten der Kleinkriminalität werden ganz überwiegend nur Geld- und keine Freiheitsstrafen verhängt. Das betrifft etwa den Ladendiebstahl oder das Schwarzfahren. Das sind oft Taten, die aus Geldmangel begangen wurden. Wer das Geld für eine Packung Zigaretten oder einen Fahrschein nicht hat, kann aber erst recht die Geldstrafe nicht bezahlen. Er könnte sie noch abarbeiten, doch viele Verurteilte bekommen auch das nicht hin. Die Justiz wandelt die Geldstrafe dann in eine Ersatzfreiheitsstrafe um. Ein Tagessatz Geldstrafe entspricht einem Tag hinter Gittern. Um die 100 000 Menschen müssen jährlich eine Ersatzfreiheitsstrafe verbüßen. Sie werden für ihre Armut doppelt bestraft: Sie bringt sie nämlich dazu, Straftaten zu begehen, und sie müssen dafür ins Gefängnis, weil sie die Geldstrafe nicht bezahlen können. Oft steht die Länge der Ersatzfreiheitsstrafe in einem auffälligen Missverhältnis zur Straftat. Wer im Supermarkt geklaut hat oder schwarzgefahren ist, hat einen Schaden von vielleicht zehn Euro angerichtet und muss dafür einen Monat absitzen. Er wird schlicht für seine Armut bestraft.
Der Obdachlose, der sich im Supermarkt seinen Tagesbedarf an Lebensmitteln, Zigaretten und Schnaps zusammenklaut, darf keine Gnade erwarten. Ist er vorbestraft, wandert er auch bei einer Beute von unter 50 Euro ins Gefängnis.
Der Weiße-Kragen-Täter dagegen, der Millionenschäden verursacht hat, kommt im Vergleich gut weg. Das liegt nicht nur an den teuren Anwälten, die er sich leisten kann, sondern daran, dass er dem Gericht etwas anbieten kann. Viele Wirtschaftsverfahren werden mit einer Einstellung gemäß § 153a Strafprozessordnung gegen Zahlung beendet. Der Reiche kann sich durch das Anbieten von sechs- bis siebenstelligen Geldauflagen freikaufen, der Arme hat diese Möglichkeit nicht.
Eines der größten Wirtschaftsstrafverfahren war der Mannesmann-Prozess. Im zeitlichen Zusammenhang mit der feindlichen Übernahme durch Vodafone hatten Josef Ackermann und andere Vorstandsmitglieder sich selbst ihnen eigentlich nicht zustehende Sonderzahlungen in Höhe von insgesamt 58 Millionen Euro zugebilligt. Die Staatsanwaltschaft klagte Ackermann und Co. wegen Untreue im Sinne des § 266 Strafgesetzbuch zum Nachteil der Mannesmann AG an. Ihnen soll bewusst gewesen sein, dass die Sonderzahlungen tatsächlich für die Mannesmann AG nutzlos waren und die Empfänger unrechtmäßig bereicherten. Doch alle Angeklagten konnten sich freikaufen. Josef Ackermann zahlte 3,2 Millionen Euro, und das Verfahren wurde gemäß § 153a Strafprozessordnung eingestellt 35 wie bei den anderen Angeklagten entsprechend auch. Er konnte sogar Deutsche-Bank-Manager bleiben.
Die Steuerfahndung hatte eine Steuer-CD von einem Informanten gekauft. Hierdurch stieß sie auf 1100 Kunden der Credit Suisse, die insgesamt rund 1,2 Milliarden Euro schwarz in der Schweiz angelegt hatten. Geholfen dabei hatten ihnen die Bankmitarbeiter. Die Schweizer Großbank kaufte sich für 150 Millionen Euro vom Vorwurf der Beihilfe zur Steuerhinterziehung frei. 36 Die Verfahren gegen die Bankmitarbeiter wurden eingestellt.
Auch fallen die Strafen für Wirtschaftskriminelle unverhältnismäßig milde aus. Dafür gibt es prägnante Beispiele:
Der damalige Post-Chef Klaus Zumwinkel hatte 1,2 Millionen Euro Steuern hinterzogen. 37 Eigentlich ziemlich dreist, denn der Staat als größter Einzelaktionär war schließlich auch sein Arbeitgeber. Bereits 2008 hatte der BGH in einem Grundsatzurteil entschieden, dass bei Steuerhinterziehung in Millionenhöhe die Strafe in der Regel nicht zur Bewährung ausgesetzt werden kann. 38 Und trotzdem wurde Zumwinkel am 26. Januar 2009 vom Landgericht Bochum wegen Steuerhinterziehung zu einer zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt. Bei der Höhe der hinterzogenen Steuern wären auch drei Jahre ohne Bewährung gut vertretbar gewesen.
Uli Hoeneß hat den Fiskus um 28,4 Millionen Euro geschädigt und wurde dafür zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. 39 Umgerechnet sind das ein Monat Freiheitsstrafe für je 710 000 Euro. Der Obdachlose, der im Supermarkt stiehlt, bekommt einen Monat Freiheitsstrafe bereits bei einer Beute von unter 50 Euro.
Regel Nr. 21: Die Armen hängt man, die Reichen lässt man laufen.