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Die Richter würfeln – Geheimnisse der Strafzumessung

Strafen fallen zu milde aus

Nach dem Roland Rechtsreport halten 49 Prozent der Bevölkerung die Urteile der deutschen Gerichte für zu milde. 40

Zu milde Urteile ist auch ein Vorwurf, mit dem mich Freunde, Bekannte und Bürger in Gesprächen immer wieder konfrontieren. Erzähle ich von selbst verhandelten Fällen, kommt die Frage »Warum nur so wenig?« fast automatisch.

Gibt man den Begriff »Kuscheljustiz« in Google ein, erhält man über 20 000 Treffer.

Man könnte dem Vorwurf entgegenhalten, was sollte einen Richter solches Geschwätz kümmern? Doch wir sprechen Recht »Im Namen des Volkes«. Wäre es da nicht gut, wenn auch der Bürger die verhängten Strafen für angemessen halten würde? Oder andersherum: Welche Legitimation hat die Justiz noch, wenn sie bewusst und konsequent am Willen des Volkes vorbei urteilt? Ist eine mehrheitlich als zu milde empfundene Rechtsprechung noch im Namen des Volkes?

Insbesondere Bewährungsstrafen für lebensgefährliche Messerangriffe und für Kindesmissbrauch werden als zu milde kritisiert.

Messerangriffe

Allein im Jahr 2020 gab es an die 20 000 Messerattacken mit fast 100 Todesopfern. 41 Migranten sind in dieser Statistik überproportional vertreten. Gerade junge Männer greifen bei Konflikten gerne zum Messer und stechen zu. Dass ihr Opfer dabei sterben kann, ist ihnen bewusst. Angeklagt werden diese Fälle aber regelmäßig nicht als versuchter Totschlag vor dem Landgericht, sondern als eine gefährliche Körperverletzung gemäß § 224 Strafgesetzbuch vor dem Amtsgericht. Auf sie steht Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren. Doch die Messerstecher können mit milden Strafen rechnen. In gut 80 Prozent kommen sie mit Bewährungsstrafen von maximal zwei Jahren davon. 42 In weniger als einem Prozent liegt die Höchststrafe über fünf Jahre.

Der 16-jährige Syrer Mohammad A. und der 17-jährige Sebastian M. gerieten wegen eines Mädchens in Streit. 43 Mohammad A. drohte dem Nebenbuhler an, ihn abzustechen.

Wenige Tage später trafen die Kontrahenten auf dem Bahnhof Beucha aufeinander. Wieder kam es zum Streit. In dessen Verlauf zog der syrische Flüchtling ein Messer und stach mehrfach zu, unter anderem in den Hals. Der 17-Jährige erlitt teils schwere Verletzungen im Halsbereich sowie an Arm und Bein. Der Verletzte wurde sofort vor Ort notärztlich behandelt und dann in ein Krankenhaus gebracht. Sein Leben konnte gerettet werden. Die Staatsanwaltschaft sah keinen Tötungsvorsatz und klagte die Tat vor dem Amtsgericht Leipzig an. Dieses verhängte gegen Mohammad A. eine Jugendstrafe von zwei Jahren auf Bewährung.

Trotz fast tödlicher Messerattacke muss Mohammad A. nicht hinter Gitter. Die Verneinung des Tötungsvorsatzes erscheint nicht nachvollziehbar. Mohammad A. hatte seinem Opfer schließlich ein paar Tage vor dem Messerangriff angedroht, er werde ihn »abstechen«. Bedeutet »abstechen« nicht zumindest, dass der Täter den Tod seines Opfers billigend in Kauf nimmt? Er wollte ihn trotz gezielter Stiche in den Hals nicht töten? Wann handelt ein Messerstecher nach dieser Rechtsprechung mit Tötungsvorsatz? Erst bei gezielten Stichen ins Herz?

Angriffe auf Polizisten

84 831 Polizisten wurden im Jahr 2020 Opfer von gegen sie gerichteten Gewalttaten. 44 In § 114 Strafgesetzbuch wird der »Tätliche Angriff auf Vollstreckungsbeamte« mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bedroht. Trotz gesetzlicher Mindeststrafe von drei Monaten Freiheitsstrafe wird in annähernd 60 Prozent lediglich eine Geldstrafe verhängt. 45 Während Polizisten jeden Tag für uns Bürger ihr Leben und ihre Gesundheit riskieren, sieht die Justiz Angriffe auf sie als Bagatelle an.

Kindesmissbrauch

Im Jahr 2020 wurden 14 594 Kinder sexuell missbraucht. 46 Der sexuelle Missbrauch von Kindern wird nach § 176 Strafgesetzbuch mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr bestraft. Während Volkes Stimme bei Kinderschändern schnell verlangt, die Täter für immer wegzusperren, zeigt die Justiz auch hier Milde. In 82 Prozent der Fälle wurden 2019 Bewährungsstrafen von nicht mehr als zwei Jahren verhängt. 47

Ein Kinderschänder stand vor Gericht. 48 Die Staatsanwaltschaft hatte Jürgen Hubatsch vorgeworfen, in den Jahren 1996 bis 2005 in mehr als 400 Fällen sexuellen Missbrauch an Kindern begangen zu haben. Er soll seine Halbschwester und vier weitere Mädchen aus seiner Nachbarschaft wiederholt sexuell missbraucht haben. Die Mädchen waren zum Zeitpunkt der Taten zwischen 6 und 13 Jahre alt, der Angeklagte zwischen 20 und 29 Jahren. Er habe sie mit Alkohol gefügig gemacht.

Weil die Taten bereits lange Zeit zurücklagen, war nur ein Teil beweisbar. Das Landgericht Ulm sprach den 45-jährigen Mann im September 2021 in 131 Fällen des sexuellen Missbrauchs von Kindern schuldig sowie in zwei Fällen des schweren sexuellen Missbrauchs. Er wurde zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren auf Bewährung verurteilt. Das Gericht begründete die milde Strafe damit, dass die Taten extrem lange zurücklägen. Außerdem habe der Angeklagte teilweise gestanden, auch wenn das Geständnis »vage und ohne Details« gewesen sei. Zudem kam ihm zugute, dass er sich bei den Geschädigten entschuldigt hatte. Die Richter berücksichtigten auch, dass er eine Therapie abgeschlossen habe und in einer festen Beziehung mit seiner Frau lebe.

Bewährung für 133-fachen Kindesmissbrauch ist eine Strafe, die der Bürger nicht mehr nachvollziehen kann. Volkes Stimme ruft da schnell nach Wegsperren für immer. Jürgen Hubatsch hat über Jahre systematisch Kinder misshandelt und kommt ohne spürbare Strafe davon.

Kinderpornografie

Der »kleine« Kindesmissbrauch, also der Besitz und die Verbreitung von Kinderpornografie, ist deshalb so schlimm, weil für jedes Foto und für jedes Video ein Kind missbraucht wurde. Ohne die massenhafte Nachfrage nach Kinderpornografie würden sie nicht hergestellt. Mir wurde übel, als ich zum ersten Mal einen Bildband mit Hunderten Fotos missbrauchter Kinder aufgeschlagen habe. Das war für mich mit das schlimmste Beweismaterial, das ich mir je ansehen musste. Trotzdem lassen die Gerichte auch hier Nachsicht walten. In nur 58 Prozent der Fälle wurde 2019 eine Freiheitsstrafe verhängt, die aber in mehr als 90 Prozent der Fälle zur Bewährung ausgesetzt wurde. 49 In weniger als einem Prozent der Fälle mussten die Täter tatsächlich ins Gefängnis.

Wie bestimmen Richter das Strafmaß?

Was ist die gerechte Strafe? Es ist eines der großen Geheimnisse, wie ein Richter die Strafhöhe ermittelt.

Sie erfolgt in drei Schritten:

Erster Schritt: Festlegung des gesetzlichen Strafrahmens

Der Richter beginnt die Strafzumessung mit einem Blick ins Gesetz. In jedem Straftatbestand steht der gesetzliche Strafrahmen.

Ein paar Beispiele:

  • Sachbeschädigung, § 303 Strafgesetzbuch: Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder Geldstrafe
  • Diebstahl, § 242 Strafgesetzbuch: Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe
  • Raub, § 249 Strafgesetzbuch: Freiheitsstrafe von 1 bis 15 Jahren
  • Totschlag, § 212 Strafgesetzbuch: Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren bis zu lebenslänglich

Sonderstrafrahmen können den Regelstrafrahmen durch Strafmilderungen und Strafschärfungen verändern. Im Gesetz sind das die minder schweren oder besonders schweren Fälle. So wird der Diebstahl bei einem Einbruch in eine bewohnte Wohnung zu einem Wohnungseinbruchsdiebstahl mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren, § 244 Abs. 4 Strafgesetzbuch, geahndet.

Was auch dem juristischen Laien sofort auffällt, ist die große Spanne des gesetzlichen Strafrahmens. Als Schöffenvorsitzender bin ich unter anderem für Verbrechen zuständig, deren Strafrahmen regelmäßig zwischen 1 und 15 Jahren beträgt. Zwar endet die Strafgewalt des Amtsgerichts bei vier Jahren, aber auch die dann noch möglichen ein bis vier Jahre Freiheitsstrafe sind eine große Spanne.

Zweiter Schritt: Einordnung der konkreten Tat in den gefundenen Strafrahmen

In diesem Schritt ist die konkrete Tat in die im Schritt eins festgelegten Strafrahmen einzuordnen. Die Schuld des Täters ist Grundlage für die Zumessung der Strafe, schreibt § 46 Abs. 1 Satz 1 Strafgesetzbuch vor. Nur lässt sich Schuld in Strafe ebenso wenig umrechnen wie Schönheit in Likes. Gleichwohl sind in § 46 Abs. 2 Strafgesetzbuch ein paar beispielhafte Kriterien aufgeführt.

Die wesentlichsten Strafzumessungskriterien sind:

Strafmildernd

  • Geständnis
  • straffreies Vorleben
  • Alkohol-/drogenbedingte Enthemmung
  • geringe kriminelle Energie
  • geringer Tatbeitrag
  • lange Verfahrensdauer
  • geringer Vermögensschaden bzw. Wert des Erlangten
  • Wiedergutmachung, Entschuldigung

Strafschärfend

  • Vorstrafen
  • Bewährungsversagen
  • hohe Rückfallgeschwindigkeit
  • besondere Rücksichtslosigkeit
  • hohe kriminelle Energie
  • hoher Vermögensschaden
  • schwere körperliche bzw. psychische Folgen aufseiten des Verletzten
  • Haupttäter, Verleitung Unbescholtener zur Tat

Es gibt auch Strafzumessungsfaktoren, die man nicht berücksichtigen darf. Beispielsweise die Lebensführungsschuld. Man darf also nicht strafschärfend berücksichtigen, dass der Angeklagte sich seit Jahren dem Alkoholismus hingibt, sich nicht um Arbeit bemüht und seinen Lebensunterhalt durch Sozialleistungen und Diebstähle finanziert. Auch das Verteidigungsverhalten des Angeklagten oder seines Anwalts darf nicht strafschärfend bewertet werden. Wenn also der Angeklagte die Opferzeugin »in den Dreck zieht« oder der Anwalt Konfliktverteidigung betreibt, zählt das nicht. Tatsächlich werden solche Faktoren schon berücksichtigt, der clevere Richter lässt sie im Urteil aber unerwähnt. Er preist diese Faktoren einfach ungenannt in die Strafzumessung ein. Nachprüfbar ist dies angesichts der breiten Strafrahmen nicht.

Dritter Schritt: konkrete Festlegung der Strafe

Nach Schritt zwei hat man eine Liste mit mildernden und schärfenden Faktoren. Nach § 46 Abs. 2 Satz 1 Strafgesetzbuch soll das Gericht die Umstände, die für und gegen den Täter sprechen, gegeneinander abwägen. Jetzt wird es nebulös. Es drängen sich zwei Fragen auf:

Erstens: Von welchem Bezugspunkt aus wird die Strafe geschärft oder gemildert? Was ist der Normal- oder Durchschnittsfall, von dem aus man die positiven und die negativen Faktoren bewertet? Das Gesetz verrät es nicht. Der gesunde Menschenverstand würde den Durchschnittsfall in der Mitte des Strafrahmens ansiedeln. Bei Beispiel eines Raubes mit einem Strafrahmen von 1 bis 15 Jahren wären das acht Jahre. Doch der Bundesgerichtshof hat die gesetzlichen Strafrahmen zusammengestrichen. Die obere Hälfte soll den denkbar schwersten Fällen vorbehalten bleiben. 50 Beim Raub würde sich der tatsächlich anwendbare Strafrahmen so auf ein bis acht Jahre reduzieren. Die tatsächlich verhängten Strafen bewegen sich im unteren Drittel der Strafrahmen. So wird nach einer Studie des Freiburger Max-Planck-Instituts ein Raub im Durchschnitt mit einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und zwei Monaten bestraft. 51

Zweitens: Welches Gewicht hat der einzelne Strafzumessungsgrund? Wie viel Prozent Abschlag gibt es für ein reuevolles Geständnis? Wie viel Prozent Aufschlag gibt es für einschlägige und erhebliche Vorstrafen? Weder das Gesetz noch die Rechtsprechung machen hierfür irgendwelche Vorgaben.

»Die Richter würfeln« ist ein beliebter Vorwurf, der aber so ganz falsch nicht ist. Da es weder Vorgaben für den Bezugspunkt noch für die Wertigkeit der einzelnen Faktoren gibt, bleibt es im Ermessen des Richters, wie er die weiten Strafrahmen ausfüllt. Innerhalb der gesetzlichen Unter- und Obergrenzen kann der Richter die Strafe nach eigenem Gutdünken bestimmen. Das ist dann mehr gefühlte Rechtsanwendung als exakte Rechtswissenschaft. Mir fällt das selber in Diskussionen mit meinen Schöffen auf. Einen Strafvorschlag kann ich nur im Groben, aber nicht im Feinbereich begründen. Ich könnte beispielsweise Argumente vorbringen, warum ich eine Strafe von drei Jahren – und nicht von zwei oder vier Jahren – für angemessen halte. Warum aber eine Freiheitsstrafe zwei Jahre und sechs Monate und nicht zwei Jahre und drei Monate oder zwei Jahre und neun Monate betragen sollte, kann ich meist nicht schlüssig darlegen.

Image Regel Nr. 22: Innerhalb des Strafrahmens kann der Richter die Strafe nach eigenem Gutdünken bestimmen.

Als Strafrichter fühlt man sich ausgerechnet bei der Strafzumessung vom Gesetzgeber alleingelassen. Ein Nachteil breiter Strafrahmen ist, dass gleiche Straftaten nicht mit gleichen Strafen bestraft werden. Es passiert täglich, dass zwei Gerichte für die gleiche Tat dieselben Strafzumessungsgründe anführen und trotzdem verschieden hohe Strafen verhängen. Es gleicht für den Angeklagten einem Roulette, welche Strafe er erhält. Die fehlenden gesetzlichen Vorgaben für die Strafzumessung öffnen der Willkür Tür und Tor.

Gäbe es nicht Möglichkeiten, die Strafzumessung zu objektivieren? In den USA gibt es sogenannte »Sentencing Guidelines« 52 , das sind Tabellen, anhand derer der Richter die Strafhöhe ermitteln kann. Sie orientieren sich im Wesentlichen an der Schwere der Tat und den Vorstrafen. Beim Diebstahl beispielsweise würde sich die Staffelung der Strafe an der Höhe der Beute und der Zahl der Vorstrafen orientieren. Der Richter kann von den Strafempfehlungen abweichen, wenn der Einzelfall Besonderheiten aufweist. Auf dem Juristentag 2018 wurde diskutiert, ob Guidelines wie in den USA auch in Deutschland zu einer Vereinheitlichung der Strafzumessung führen könnten. 53 Deutsche Richter lehnen die Guidelines mehrheitlich ab, weil sie ihren Entscheidungsspielraum einschränken würden. Ich persönlich finde Strafzumessungsrichtlinien erwägenswert. Sie würden eine größere Transparenz für Angeklagte und Bürger bedeuten. Es würde auch der Gerechtigkeit dienen, wenn vergleichbare Straftaten mit gleich hohen Strafen geahndet werden. Und größere Transparenz und Gerechtigkeit würde zu einer größeren Akzeptanz der Rechtsprechung führen.

Wichtig zu wissen ist, dass es am Schluss keine exakte, richtige Strafe gibt. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs muss die Strafe nur innerhalb eines Spielraums liegen, in dem alle Strafhöhen noch schuldangemessen sind. In der Praxis können wegen der Spielraumtheorie 54 die Strafen für vergleichbare Taten erheblich streuen. Solange sich die Strafe im Rahmen hält, gibt es kein »Richtig« oder »Falsch«. Das ist auch der Grund, warum Strafhöhen für vergleichbare Taten so unterschiedlich ausfallen können.

Wie aber legt der Richter die konkrete Strafhöhe fest? Eine wesentliche Eingrenzung des Spielraums erfolgt bereits durch die Schlussanträge vom Staatsanwalt und Verteidiger. Staatsanwälte neigen dazu, eine noch vertretbare maximal hohe Strafe zu beantragen. Der Richter wird den Antrag des Anklagevertreters meist als Obergrenze seiner Strafzumessung zugrunde legen. Nur selten überbieten Richter Staatsanwälte im Urteil. Verteidiger dagegen beantragen im Interesse ihres Mandanten die denkbar mildeste Strafe. Der Richter wird diese als Untergrenze ansehen. Manchmal nehmen Richter einfach den Mittelwert beider Anträge. Der Staatsanwalt beantragt drei Jahre, der Verteidiger zwei Jahre, die durch das Gericht verhängte fein abgewogene Freiheitsstrafe beträgt zwei Jahre und sechs Monate. Das gibt dem Richter das Gefühl, ein salomonisches Urteil zu fällen.

Bei der konkreten Strafhöhe wird der Richter sich auch an den üblichen Tarifen für diese Tat orientieren. Als Richter hört und liest man ständig von Urteilen. Mit der Zeit erwirbt er ein Erfahrungswissen, mit welchen Strafen bestimmte Taten üblicherweise bestraft werden. Für die Massenkriminalität existieren bei den Staatsanwaltschaften sogar sogenannte Straftaxentabellen, die diese Erfahrungswerte wiedergeben. In ihnen sind ganz ähnlich wie bei einem Bußgeldkatalog einzelne Straftaten und übliche Strafhöhen aufgelistet. Die Staatsanwaltschaft orientiert sich bei ihren Anträgen an der Tabelle.

Der karriereorientierte Richter wird zudem auf seine Rechtsmittelinstanz schielen. Mit der Zeit gewinnt er ein Erfahrungswissen, welche Strafen von ihr akzeptiert und bei welchen er eine Aufhebung fürchten muss. Er geht zu Recht davon aus, eine hohe Aufhebungsquote würde der angestrebten Beförderung eher schaden, also versucht er, es der Rechtsmittelinstanz in vorauseilendem Gehorsam recht zu machen.

Manchmal denkt der Richter auch vom Ende her. Reicht eine Geldstrafe, um den Angeklagten von der Begehung weiterer Straftaten abzuhalten? Oder wenn der Richter davon ausgeht, der Warnschuss einer Bewährungsstrafe würde ausreichen, muss er die Strafe im bewährungsfähigen Bereich von maximal zwei Jahren festsetzen. Oder ist der Angeklagte ein unverbesserlicher und gefährlicher Rechtsbrecher, der besser für eine Zeit lang weggesperrt gehört? Dann würde er eher zu einer höheren und damit nicht mehr bewährungsfähigen Strafe tendieren.

Dieser Gedanke bringt uns zu den Straftheorien, die den Sinn und Zweck staatlichen Strafens analysieren.

Nach der Vergeltungstheorie ist die Strafe die Vergeltung für das vom Täter verübte Unrecht. 55 Strafe habe die Funktion, den Rechtsbruch und die Schuld des Täters auszugleichen. Zu diesem Zweck erhält der Täter eine Strafe, deren Dauer und Härte mit der Tat vergleichbar ist. Deshalb hält Justitia eine Waage in der Hand. Tat und Strafe sollen ungefähr gleich schwer wiegen

Ich finde, die Strafen sollten auch die Opfer zufriedenstellen. Aufgrund des Gewaltmonopols müssen die Opfer die Sühne der Tat dem Staat überlassen. Der Rechtsstaat kann nur funktionieren, wenn die Verbrechensopfer Vertrauen in eine gerechte Bestrafung durch die Gerichte haben. Wenn der Bürger dauerhaft den Eindruck gewinnen würde, die Justiz mache nichts oder urteile zu lasch, wäre Selbstjustiz die Folge.

Die 31-jährige Lisa Förster fuhr frühmorgens nach einem Kneipenbesuch mit dem Nachtbus nach Hause. Nach ihr steigt der türkischstämmige Tarek Aldag aus dem Bus. Lisa Förster erleidet einen Asthma-Anfall, sodass sie von Hustenkrämpfen geschüttelt auf dem Boden kniete. Diese hilflose Situation nutzte Tarek Aldag aus und vergewaltigte sie. Er konnte später als Täter ermittelt werden und kam in Untersuchungshaft. Ein halbes Jahr nach der Tat fand der Prozess statt. Lisa Förster wollte gegen ihren Vergewaltiger aussagen, doch sie wurde nicht angehört. Tarek Aldag machte einen Deal mit dem Gericht, bekam eine Bewährungsstrafe und konnte den Gerichtssaal als freier Mann verlassen. Das Landgericht Stuttgart verurteilte ihn wegen schweren sexuellen Missbrauchs einer widerstandsunfähigen Person zu der Freiheitsstrafe von zwei Jahren auf Bewährung.

Lisa Förster hatte nach der Vergewaltigung unter Angstzuständen und Panikattacken gelitten. Sie hatte gehofft, durch den Prozess und die Verurteilung des Täters würde es ihr besser gehen, doch das Gegenteil war eingetreten. Dass der Vergewaltiger nicht die von ihr erwartete Haftstrafe erhalten hatte, sondern nach dem Prozess aus der Untersuchungshaft auf Bewährung freigelassen worden ist, hatte ihre Ängste erheblich verstärkt. Denn ihr Peiniger wohnte in ihrer Nachbarschaft.

Lisa Förster klagte erfolgreich auf eine Opferentschädigungsrente. 56 Die Sozialrichter hoben hervor, dass das Strafverfahren eine weitere katastrophale Erfahrung für die Frau darstellte. Die aus Sicht des Opfers ungenügende Bestrafung des Täters habe einen Folgeschaden verursacht und ihren Gesundheitszustand verschlimmert. Das Gericht hat den Folgeschaden der traumatisierenden Strafverhandlung als rentenerhöhend anerkannt.

Die positive Generalprävention soll das Vertrauen der Gesellschaft in die Rechtsordnung stärken. Die negative Generalprävention soll potenzielle Täter abschrecken. So sind nach dem G20-Gipfel in Hamburg 2017 mehrere harte Urteile gefallen. Ein 21-jähriger Holländer wurde wegen zweier Flaschenwürfe auf einen Polizisten zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sieben Monaten verurteilt. 57 Der getroffene Beamte wurde nicht verletzt, weil er eine Schutzmontur trug. Ein 28-jähriger Hamburger wurde zu drei Jahren Gefängnis verurteilt, weil er Polizisten mit Steinen und Flaschen beworfen und sich an Plünderungen von Geschäften beteiligt hatte. 58 Weiter hat das Hamburger Amtsgericht einen 36 Jahre alten Randalierer der G20-Ausschreitungen zu vier Jahren Haft verurteilt, weil er mit Flaschen auf Polizisten geworfen hatte, um diese zu verletzen. 59 Zudem habe er weitere Personen aufgefordert, sich an den Ausschreitungen zu beteiligen. Es liegt auf der Hand, dass die harten Urteile künftige Demonstrationsteilnehmer von Gewalttaten und Widerstandshandlungen gegen Polizisten abschrecken sollen.

Die Spezialprävention zielt darauf ab, den Täter davon abzuschrecken, weitere Straftaten zu begehen. Das funktioniert allerdings nur bei dem kalkulierenden Täter, der vor der Tat eine Kosten-Nutzen-Rechnung aufstellt, in die er auch eine mögliche Bestrafung einbezieht. Der Spontantäter lässt sich von einer drohenden Strafe genauso wenig abschrecken wie der intellektuell Minderbegabte, den eine Kosten-Nutzen-Rechnung überfordert.

Was ist mit der Resozialisierung?, werden Sie sich vielleicht fragen. Ein schwieriges Thema. Es ist leider eine Illusion, zu glauben, dass sich jeder Kriminelle resozialisieren lässt. Nach Zahlen des Bundesministeriums der Justiz werden insgesamt 35 Prozent der Verurteilten innerhalb von drei Jahren erneut straffällig. 60 Am häufigsten wurden dabei aus der Haft entlassene Jugendliche mindestens ein weiteres Mal auffällig, nämlich 64 Prozent. Von den zu einer Freiheitsstrafe ohne Bewährung verurteilten Erwachsenen wurden 45 Prozent rückfällig. Oft bildet eine psychische Störung die Grundlage kriminellen Handelns. In der Justizvollzugsanstalt Dessau wurden für eine Studie alle Insassen begutachtet. Über 90 Prozent bekamen eine psychische Störung attestiert. Nicht wenige leiden an einer antisozialen Persönlichkeitsstörung. Gene, ein zerrüttetes Elternhaus und ein kriminelles Umfeld haben sie in Jahrzehnten zu einem Berufsverbrecher werden lassen. Das ist jedenfalls mit den Mitteln des Strafrechts kaum reparabel.

Strafregister mit 20 oder 30 Eintragungen sind keine Seltenheit. Bewährungshilfe und Therapien haben nichts gebracht. Selbst verbüßte Gefängnisstrafen haben den Täter nicht von der Begehung neuer Straftaten abgeschreckt. Bei den hoffnungslosen Fällen stellt sich eigentlich nur die Frage, wie lange der rechtschaffene Bürger sicher vor ihnen sein soll.

Gerne wird in der Hauptverhandlung ein positiver Lebenswandel behauptet. Der Verteidiger trägt vor, der Angeklagte habe seinen falschen Freunden abgeschworen. Von seiner Drogensucht wäre er losgekommen und er hätte auch Termine bei der Suchtberatung. Er hätte sich verlobt und plane, eine Familie zu gründen. Auch eine Arbeit habe er gefunden. Das Gericht dürfe seinem Mandanten dessen positive Zukunft nicht durch eine Gefängnisstrafe kaputt machen.

Strafrichter fallen auf solche Verteidigungstricks nicht herein. Wer jahrelang drogenabhängig war, kommt davon nicht einfach von heute auf morgen kraft eigenen Willensentschlusses los. Da würde es professioneller Hilfe und meist auch stationärer Behandlung bedürfen. Genau diese wurde nicht in Anspruch genommen. Wenn die Freundin des Monats angeblich zur Verlobten mutiert ist, kann der Angeklagte meist schon Form und Inhalt seines Heiratsantrages nicht schildern. Auch Fragen nach der geplanten Hochzeit, ihrer Feier und den Flitterwochen können nicht beantwortet werden. Um eine Anstellung glaubhaft zu machen, wird fast immer ein Zeitarbeitsvertrag vorgelegt. Diese scheinen leicht beschaffbar zu sein, so oft werden sie mir überreicht. Dem seit zehn Jahren arbeitslosen Angeklagten fällt kurz vor der Hauptverhandlung überraschend ein, sich eine Arbeit zu suchen. Geht man der Sache später nach, stellt man fest, dass die Arbeit nie angetreten oder nach kurzer Zeit beendet wurde. Der positive Lebenswandel ist allzu oft nur ein Täuschungsmanöver, um einer drohenden Gefängnisstrafe zu entgehen.

Bewährung

Freiheitsstrafen von bis zu zwei Jahren können zur Bewährung ausgesetzt werden. »Der kleine Freispruch« wird sie liebevoll genannt. Was das Gesetz als Ausnahme und unter strengen Voraussetzungen vorsieht, ist in der Realität längst der großzügig gewährte Regelfall. 69 Prozent aller bis zu zweijährigen Freiheitsstrafen werden zur Bewährung ausgesetzt. 61

Erste Voraussetzung für eine Bewährung ist, dass die Freiheitsstrafe zwei Jahre nicht übersteigt. Deshalb wird in meinen Fällen auch so verbissen um die Zweijahresgrenze gekämpft.

Zweite Voraussetzung ist die sogenannte »günstige Sozialprognose«. Diese liegt nach § 56 Abs.1 Satz 1 Strafgesetzbuch vor, wenn zu erwarten ist, dass der Verurteilte sich schon die Verurteilung zur Warnung dienen lassen und künftig auch ohne die Einwirkung des Strafvollzugs keine Straftaten mehr begehen wird. Die Beteuerung des Angeklagten »Das mache ich nie wieder. Ich schwöre« wird oft als ausreichend hierfür angesehen.

Bei einer Freiheitsstrafe über sechs Monate ist darüber hinaus notwendig, dass »die Vollstreckung der Strafe nicht zur Verteidigung der Rechtsordnung geboten ist«, § 56 Abs. 3 Strafgesetzbuch. Wenn die Gerichte wirklich das Rechtsempfinden der Bürger berücksichtigen würden, dürfte es viele Bewährungen nicht geben.

Bei einer Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zwei Jahren ist als dritte Voraussetzung nach § 56 Abs. 2 Strafgesetzbuch vorgeschrieben, dass nach der Gesamtwürdigung von Tat und Persönlichkeit des Verurteilten besondere Umstände vorliegen. Die Formulierung »besondere Umstände« signalisiert, dass der Gesetzgeber sich die Bewährung als Ausnahme- und nicht als Regelfall vorgestellt hat. Meist wird hier im Urteil in sozialromantischer Weise eine positive Änderung und Stabilisierung der Lebensverhältnisse zusammenfantasiert. Kurz gesagt, der Richter ist auf die behauptete Änderung des Lebenswandels unmittelbar vor der Verhandlung hereingefallen.

Als das Urteil fiel, zeigten die Angeklagten mit dem Daumen nach oben, und ihre Verwandten und Bekannten jubelten laut. Waren sie freigesprochen worden?

Ein 14-jähriges Mädchen war im Februar 2016 in Hamburg Opfer einer Gruppenvergewaltigung geworden. 62 Sie war von vier jungen Männern betrunken gemacht und vergewaltigt worden. Danach führten sie Flaschen und eine Taschenlampe in ihre Vagina ein. Sie filmten die Taten mit einem Handy. Schließlich warfen die Täter das verletzte Mädchen weg wie Müll. Sie ließen das nur leicht bekleidete Opfer bei Temperaturen um den Gefrierpunkt in einem Hinterhof zum Sterben liegen. Ein aufmerksamer Nachbar entdeckte sie und rief die Polizei, worauf das Mädchen in die Intensivstation gebracht wurde. Drei der Angeklagten waren minderjährig, der vierte 21 Jahre alt. Das Landgericht Hamburg verurteilte drei der Vergewaltiger zu Bewährungsstrafen. 63 Nur der 21-Jährige wurde zu einer Haftstrafe von vier Jahren verurteilt.

Der Jubel kam auf, weil drei der vier Vergewaltiger nicht ins Gefängnis mussten. Bewährung ist wie Freispruch.

Bei einer Aussetzung zur Bewährung verlässt der Angeklagte den Gerichtssaal als freier Mann. Auflagen, wie den Besuch beim Bewährungshelfer, die Ableistung von Arbeitsstunden oder Zahlungen an gemeinnützige Organisationen, fassen sie nicht selten als unverbindliche Angebote auf. Der gut informierte Verurteilte weiß, dass er kaum etwas zu befürchten hat, wenn er sie ignoriert. Amtsgerichte widerrufen zwar regelmäßig Bewährungen bei Nichteinhaltung von Auflagen, die Landgerichte verfahren auf sofortige Beschwerde aber auch hier straftäterfreundlich. Die üblichen Ausreden reichen, damit das Landgericht den Widerrufsbeschluss aufhebt. So bleibt eine Bewährungsstrafe oft völlig folgenlos für den Verurteilten. Was sind gesetzliche Freiheitsstrafen wert, die nicht angewendet, sondern immer nur angedroht werden? Die Justiz könnte es sich hier sehr viel einfacher machen und statt aufwendig produzierter Strafurteile einfach gelbe Karten an die Straftäter verschicken. Wenn die Kriminellen alle so harmlos sind, müsste doch eine informelle Verwarnung ausreichen.

Der menschliche Faktor in der Strafzumessung

Richterin Gnädig oder Richter Gnadenlos – es gibt sie wirklich. Manche sind harte Hunde, andere mild wie ein Weichspüler, denn Richter haben durchaus verschiedene Wertesysteme.

Nach einer Studie des Max-Planck-Instituts gibt es ein Nord-Süd-Gefälle der Strafen. Im Norden wird milder geurteilt als im Süden. 64 Raub beispielsweise wird im Mittel mit einer Freiheitsstrafe von rund zwei Jahren und zwei Monaten bestraft. In Kiel bekommen die Täter im Schnitt ein Jahr und elf Monate, in Koblenz dagegen zwei Jahre und fünf Monate. Das ist ein halbes Jahr Unterschied – für vergleichbare Taten und bei ähnlichen Umständen.

Sogar die Tagesform kann Einfluss auf das Strafmaß haben. Der Nobelpreisträger Daniel Kahnemann schreibt davon, dass Richter strenger urteilen, wenn sie hungrig sind. 65 Wenn die lokale Fußballmannschaft am Wochenende ein Spiel verliert, urteilen die Richter montags ebenfalls strenger. Ich kann mir auch vorstellen, dass Banalitäten wie das Wetter die Strafhöhen beeinflussen.

Selbst das Aussehen des Angeklagten kann die Strafe beeinflussen. Der Sozialpsychologe John E. Stewart fand heraus, dass gegen schöne Menschen bei Gerichtsprozessen geringere Strafen verhängt werden. 66 Der Richter unterliegt dabei natürlich einem unbewussten Vorurteil. Von einem attraktiven Menschen macht er sich ein positives Bild, in das Kriminalität nicht recht hineinpasst. Er bewertet seine Taten deshalb als weniger gravierend als bei einem hässlichen Menschen, dem er solche Taten viel eher zutraut. Stellen Sie sich vor, zwei Angeklagte hätten unabhängig voneinander die gleiche Tat begangen. Der eine hat eine Glatze, einen stechenden Blick und er ist zu tätowiert. Der andere sieht aus wie Tom Cruise. Wer von den beiden wird wohl die geringere Strafe erhalten?

Solange die Strafzumessung Menschen und nicht Computern überlassen wird, lässt sich der menschliche Faktor aber nicht ausschließen.

Warum fallen Strafen so milde aus?

Ein Grund ist die Überlastung der Justiz. Der Strafrichter muss seine Fälle möglichst schnell erledigen, will er nicht massiv Überstunden machen oder sein Dezernat absaufen lassen. In Aussicht gestellte milde Strafen besänftigen die Verteidigung. Sie wird auf die Stellung von Beweis- und Befangenheitsanträge verzichten. Kann der Richter den Fall »wegdealen«, kann die Beweisaufnahme sogar ganz entfallen. Der Angeklagte wird gegen ein günstiges Urteil auch kein Rechtsmittel einlegen. Das spart dem Richter weitere Zeit, denn er kann ein abgekürztes Urteil schreiben.

Die Rabatt-Rechtsprechung der Landgerichte führt zu einer allgemeinen Herabsetzung der Strafmaße. Es gibt kaum ein Verbrechen, für das es in der Berufungsinstanz keinen Rabatt gibt. Die Rechtsprechung erinnert an den Werbeslogan »20 Prozent auf alles – außer Tiernahrung«, wobei es auch gern mehr als 20 Prozent sein können. Eine für mich zuständige Berufungskammer verhängt regelmäßig zwei Jahre auf Bewährung. Es sind alles minderschwere Fälle, wobei das Landgericht Regel und Ausnahme ins Gegenteil verkehrt. Die Normalstrafrahmen scheinen nicht mehr zu existieren. Das Amtsgericht habe die schwere Kindheit des Angeklagten nicht berücksichtigt, und außerdem habe er Besserung gelobt. Auch Bewährungsversager bekommen ein drittes Mal Bewährung. Warum machen die Landrichter das? Sie treibt die Angst um, dass ihre Urteile vom Oberlandesgericht wegen Rechtsfehlern aufgehoben werden. Es ist eine Kunst, ein revisionssicheres Urteil zu schreiben. Nicht jeder Richter beherrscht sie. Und es gilt als Makel, von der Revisionsinstanz aufgehoben zu werden. Allzu häufige Aufhebungen können auch ein Karrierehindernis sein. Den Ausweg sehen viele Landrichter darin, nur noch vom Angeklagten akzeptierbare milde Strafen zu verhängen, damit dieser erst gar keinen Grund hat, die gefürchtete Revision einzulegen. Revisionen der Staatsanwaltschaft brauchen sie hingegen nicht zu fürchten, da diese Urteile des Landgerichts regelmäßig untätig hinnimmt.

Ein dritter Grund ist, dass der Strafrichter im Laufe der Jahre erkennt, dass er nur ein klitzekleines Rädchen im großen Getriebe der Strafverfolgung ist. Von der Polizei über die Staatsanwaltschaft und die Gerichte bis zum Strafvollzug besteht eine Mangelverwaltung. Überall gib es zu wenig Personal, schlechte Arbeitsbedingungen und schlechte Bezahlung. Viele Mitarbeiter resignieren mit der Zeit. Ernsthafte Strafverfolgung scheint kein politisches Ziel zu sein. Jedenfalls stattet die Politik die Strafverfolgungsorgane finanziell nicht so aus, dass sie die Kriminalität konsequent und effektiv bekämpfen können. Der Strafrichter mag sich irgendwann fragen, warum er als Einziger die Fahne des staatlichen Strafanspruchs hochhalten soll. Wenn allen inzwischen alles gleichgültig ist, dann ihm auch.

Deals – der Handel mit der Gerechtigkeit

Der Vorsitzende sah durch seine dunklen Augenringe, seine ungesund blasse Haut und die inselartigen Haarbüschel überarbeitet aus. Sein Dienstzimmer war übersät mit roten Aktenbergen. Sie lagen überall, auf dem Schreibtisch, auf dem Fensterbrett und sogar auf dem Boden.

»Bei einem Geständnis würde die Kammer es bei sechs Jahren bewenden lassen. Das ist ein Angebot, das er nicht ablehnen kann«, sagte der Vorsitzende süffisant lächelnd.

»Mein Mandant sagt, er hat seine Ehefrau nicht vergewaltigt. Deshalb wird er auch kein Geständnis ablegen«, antwortete der Verteidiger.

»Trotz eindeutiger Beweislage?«, fragte der Richter überrascht. Die Ehefrau hatte vor der Ermittlungsrichterin umfassend gegen den Angeklagten ausgesagt, und ein Sachverständiger hatte ihre Aussage als glaubhaft eingestuft.

»Aus unserer Sicht ist die Beweislage nicht so eindeutig.« Der Vorsitzende nahm seine Lesebrille ab und massierte sich seine zerfurchte Stirn, als würde sich dort eine Migräne entwickeln.

Einen Augenblick fürchtete der Anwalt, er müsste jetzt einen dieser typischen cholerischen Anfälle über sich ergehen lassen. Doch der Richter beherrschte sich.

In der Hauptverhandlung wiederholte die Ehefrau ihre bisherige, den Angeklagten stark belastende Aussage. Sie erwähnte zusätzlich, dass sie sich wegen eines körperlichen Übergriffs des Angeklagten in die Notaufnahme des Krankenhauses Roßlau begeben habe. Hier wurde der Verteidiger stutzig, denn er wusste, dass das Krankenhaus Roßlau längst geschlossen worden war. Denn er hatte sich selbst zu jener Zeit wegen einer Fußverletzung dorthin begeben und es stillgelegt vorgefunden. Nachforschungen bei der Krankenkasse der Zeugin ergaben auch keine Behandlung in einem anderen Krankenhaus. Die Zeugin hatte in einem zentralen Punkt bewusst die Unwahrheit gesagt.

Ehemalige Arbeitskolleginnen der Zeugin sagten aus, dass sie es mit der Wahrheit nicht immer so genau nehme. Sie hätten sie schon mehrmals beim Lügen ertappt. Nunmehr hielt auch der Sachverständige die Aussage nicht mehr für glaubhaft. Der Angeklagte wurde freigesprochen. Der Verteidiger war geschockt und hoffte, niemals selbst auf der Anklagebank sitzen zu müssen. Hätten sie sich auf den Deal eingelassen, wäre ein Unschuldiger für sechs Jahre ins Gefängnis gegangen. Den Vorsitzenden schien das nicht zu belasten. Das ist die deutsche Strafjustiz in Aktion.

Früher wurden Deals, also Absprachen über die Strafhöhe, nur heimlich in Hinterzimmern gemacht. Inzwischen hat der Gesetzgeber sie als Verständigung in § 257c Strafprozessordnung legalisiert.

In der Praxis finden sie im Dienstzimmer des Richters oder im Beratungsraum neben dem Gerichtssaal statt. Insbesondere bei schwierigen Verfahren aus dem Bereich der Wirtschafts-, Steuer- und Betäubungsmittelkriminalität wird versucht, sie durch eine Verständigung abzukürzen. Faktisch läuft es so ab, dass Richter, Staatsanwalt und Verteidiger sich auf eine Strafhöhe einigen, der Angeklagte im Gegenzug ein Geständnis ablegt. Die weitere Beweisaufnahme entfällt, wodurch der Prozess erheblich abgekürzt wird.

Der Deal ist oft ein Geschäft zum Vorteil aller Beteiligten. Dem Richter spart er eine umfangreiche Beweisaufnahme und ein langes Urteil. Die Überlastung der Justiz zwingt Richter dazu, Verfahren durch Absprachen schnell zu erledigen. Eine Sache »wegdealen« heißt das im Richtersprech. Der Angeklagte muss nicht länger in der Ungewissheit über den Ausgang des Prozesses leben und bekommt eine milde Strafe. Staatsanwalt und Verteidiger gewinnen Zeit durch Abkürzung der Hauptverhandlung.

Bei Verständigungsgesprächen kann es hoch hergehen, insbesondere wenn der Angeklagte auf seine Unschuld pocht oder die Vorstellungen über die Strafhöhe weit auseinanderklaffen. Richter drohen dann manchmal mit einer weit geöffneten Sanktionsschere. Es fallen Sätze wie: »Zwei Jahre auf Bewährung bei Geständnis, sonst dreieinhalb bis vier Jahre.« Staatsanwälte kündigen die Anklage weiterer Straftaten und Rechtsmittel an. Und Verteidiger überlegen laut, im Fall einer Nicht-Verständigung eine Konfliktverteidigung zu betreiben. Über die Strafhöhe wird gefeilscht wie über den Preis eines Teppichs in einem orientalischen Basar. Meist einigt man sich aber doch.

Der Handel mit der Gerechtigkeit ist inzwischen häufig und für die Funktionsfähigkeit der Justiz unabdingbar. Er führt aber auch zu Gerechtigkeitsdefiziten.

Das Gericht verletzt seine Aufklärungspflicht. Eigentlich ist das Gericht zur Erforschung der Wahrheit verpflichtet, § 244 Abs. 2 Strafprozessordnung. Kommt die Verständigung zustande, erfolgt meist ein sogenanntes »schlankes Geständnis«. Der Verteidiger räumt die Anklagevorwürfe im Namen seines Mandanten als zutreffend ein. Eine weitere Beweisaufnahme entfällt.

Das Angebot eines Deals begünstigt Falschgeständnisse. Ein Angeklagter kann sich unter Druck gesetzt fühlen und trotz Unschuld eine Straftat gestehen, um die milde statt der harten Strafe zu bekommen. Da keine weitere Beweisaufnahme stattfindet, wird das Falschgeständnis Grundlage eines Fehlurteils.

Manche Gerichte greifen zu dem Druckmittel der Sanktionsschere. Dem Angeklagten wird, um ihn zu einem Geständnis zu veranlassen, einerseits eine milde Strafe für den Fall in Aussicht gestellt, dass er ein Geständnis ablegt, und andererseits eine andere, deutlich überhöhte Strafe für den Fall, dass er kein Geständnis ablegt.

Der Angeklagte war Inhaber einer Tennisanlage mit angeschlossenem Restaurant. In einem Steuerstrafverfahren wurde ihm vorgeworfen, innerhalb von drei Jahren 8,9 Mio. DM Steuern hinterzogen zu haben. Es fanden Verständigungsgespräche statt. Die Kammer wies darauf hin, dass nach Durchführung einer Beweisaufnahme ohne Geständnis und ohne vollständige Schadenswiedergutmachung eine Freiheitsstrafe von bis zu sechs Jahren möglich sei und der Spruchpraxis der Strafkammer entspreche. Bei einem Geständnis und vollständiger Schadenswiedergutmachung würde sie hingegen nur eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren mit Bewährung verhängen. Der Angeklagte wollte den Deal zunächst nicht machen und wurde für fast zwei Monate in Untersuchungshaft gesteckt. Anschließend war er zu dem Geständnis bereit.

Der Bundesgerichtshof hob das Urteil auf und sah sich veranlasst, ein paar mahnende Worte zur Sanktionsschere zu verlieren. 67 Es dürfe im Rahmen von Verständigungsgesprächen nicht mit einer überhöhten Strafe gedroht werden, um einen Angeklagten zu einem Geständnis zu drängen. Die Differenz zwischen zwei Jahren Freiheitsstrafe mit Aussetzung zur Bewährung und sechs Jahren Freiheitsstrafe ist nicht mehr mit der strafmildernden Wirkung von Geständnis und Schadenswiedergutmachung im Rahmen schuldangemessenen Strafens zu erklären. Dieses Vorgehen kann nur noch als massives Druckmittel zur Erwirkung eines verfahrensverkürzenden Geständnisses verstanden werden. Die kaum nachvollziehbare Untersuchungshaftanordnung und -vollstreckung im vorliegenden Fall verstärkt diesen Eindruck. Ein solches Verhalten ist rechtsstaatlich nicht hinnehmbar.

Der Öffentlichkeitsgrundsatz wird verletzt. Nach §§ 169 ff. des Gerichtsverfassungsgesetzes soll die Verhandlung vor dem erkennenden Gericht einschließlich der Verkündung der Entscheidungen öffentlich sein. Zwar wird das Zustandekommen der Verständigung in der Verhandlung protokolliert, die eigentliche Vergleichsverhandlung findet aber hinter verschlossenen Türen statt. Das hat so etwas von Hinterzimmer-Justiz.

Verständigungen führen oft zu unverhältnismäßig milden Strafen. Der Strafanspruch des Staates wird aufgrund der Überlastung der Gerichte zu Billigpreisen verkauft.

Der Kripo gelang es, eine europaweit agierende Internetbörse für Kinderpornografie auszuheben. Eine Datenspur führte die Ermittler zu dem 38-jährigen Lehrer Christoph Karsunke aus Dessau. Bei einer anschließenden Durchsuchung beschlagnahmte die Polizei einen Computer, Festplatten und USB-Sticks, auf denen 25 000 Bild- und Videodateien mit Kindesmissbrauch abgespeichert waren. Die Sichtung des Materials ergab, dass er zudem seinen vierjährigen Sohn missbraucht hatte. Um in der Internetbörse etwas zum Tauschen anbieten zu können, hatte er Videos davon hochgeladen. Christoph Karsunke kam in Untersuchungshaft. Das Schöffengericht verurteilte ihn zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten. Ich empfand diese Strafe eigentlich noch als moderat, denn Väter, die ihre eigenen Kinder missbrauchen, sind in meinen Augen mit die Schlimmsten. Ich habe selbst Kinder und finde es besser, wenn pädophile Lehrer nicht frei herumlaufen und sich neue Opfer suchen können. Karsunke legte Berufung ein.

Nach einem halben Jahr lag die Akte erneut auf meinem Schreibtisch. Die Berufungskammer hatte nach einer Verständigung die Freiheitsstrafe auf zwei Jahre reduziert und diese zur Bewährung ausgesetzt. Die Vorsitzende hatte den Deal vorab telefonisch eingefädelt, und die Berufungsverhandlung hatte dann nur eine halbe Stunde gedauert. Eine Beweisaufnahme hat dann gar nicht mehr stattgefunden. Das Landgericht hat sich anders als wir auch nicht die Mühe gemacht, die Kinderpornos wenigstens stichprobenhaft anzusehen. In dem Urteil wurden als Gründe für die milde Strafe sein Geständnis sowie dass er seine Stelle als Lehrer sowie das Sorgerecht für seinen Sohn verloren hatte, angeführt. Außerdem hatte er eine Sexualtherapie begonnen. Die Bewährungsaufsicht übertrug das Landgericht mir. Karsunke sollte sich unter anderem von Spielplätzen fernhalten und seine Sexualtherapie fortsetzen. Ich kam aus dem Kopfschütteln gar nicht mehr raus.

So etwas erlebe ich als Vorsitzender des Schöffengerichts bei Berufungen gegen meine Urteile immer wieder. Mehrheitlich urteilen wir Freiheitsstrafen zwischen zwei und vier Jahren aus. Es sind Fälle der mittleren Kriminalität, wie Drogenhandel, Raub oder Vergewaltigungen, also keine Bagatellen. Bei über zwei Jahren gibt es auch keine Bewährung mehr. Das Landgericht verwandelt diese schuldangemessenen Strafen durch Verständigungen regelmäßig in zwei Jahre auf Bewährung um.