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Das Urteil, Vollstreckungsmängel und lange Verfahrensdauern

Ins Urteil kommt nur, was den Oberrichtern gefällt

Am Ende der Hauptverhandlung verkündet der Richter das Urteil. Das ist zu diesem Zeitpunkt nicht mehr als ein handgeschriebener Tenor. Danach hat der Richter mindestens fünf Wochen Zeit, das eigentliche Urteil abzusetzen.

Das Urteil gibt es zweimal. Es gibt das wahre Urteil im Kopf des Richters und das verschriftlichte, auf die Anforderungen der Rechtsmittelinstanz zugeschnittene. Der Strafrichter schreibt es nicht primär für den Angeklagten, sondern damit die Rechtsmittelinstanz es aufrechterhält. Ich komme bei der Beweiswürdigung und der Strafzumessung darauf zurück.

Das Strafurteil besteht aus sechs Teilen:

Das Rubrum

Der Urteilskopf besteht aus der Überschrift »Im Namen des Volkes« gefolgt von den Personalien des Angeklagten sowie der Auflistung der an der Hauptverhandlung beteiligten Personen. Sodann folgt der Tenor, das ist die Urteilsformel, in dem steht, wegen welcher Straftat und zu welcher Strafe der Angeklagte verurteilt worden ist. Direkt darunter folgt eine Aufzählung der angewendeten Vorschriften.

Amtsgericht Dessau-Roßlau

Im Namen des Volkes

Urteil

11 Ls 51/22 (397 Js 23494/22)

In der Strafsache gegen

Dominik Olbrecht

geboren am 10.01.1999 in Dessau

wohnhaft Willi-Lohmann-Str. 101, 06844 Dessau-Roßlau ,

ledig, Staatsangehörigkeit: deutsch ,

Verteidiger: Rechtsanwalt Tuchelt, Dessau

wegen räuberischen Diebstahls

hat das Amtsgericht Dessau-Roßlau – Schöffengericht – in der öffentlichen Sitzung vom 25.10.2022, an der teilgenommen haben:

Richter am Amtsgericht Dr. Burow

als Vorsitzender

Frau Habersack

Herr Sartorius

als Schöffen

Staatsanwältin Sauerwein

als Beamtin der Staatsanwaltschaft

Rechtsanwalt Tuchelt

als Verteidiger

Justizangestellte Hutzel

als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle

für Recht erkannt:

Der Angeklagte wird wegen räuberischen Diebstahls in Tateinheit mit Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von 1 Jahr 6 Monaten verurteilt .

Der Angeklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen .

Angewendete Vorschriften:

§§ 223 Abs. 1, 249 Abs. 1, 252, 52 Strafgesetzbuch

Persönliche Verhältnisse

In ihnen wird der Angeklagte dem Leser vorgestellt. Manches davon kann später für die Strafzumessung von Bedeutung sein. Zunächst wird der schulische und berufliche Werdegang dargestellt. Dem folgen die familiären Verhältnisse. Den Schluss bilden die Vorstrafen. In meinen Fällen sind nicht vorbestrafte Angeklagte die Ausnahme. Die Mehrheit ist einschlägig und erheblich vorbestraft. Nicht selten haben sie zwischen 10 und 25 Voreintragungen. Zur Vereinfachung wird meist die Auskunft aus dem Strafregister einkopiert. Das Urteil kann dadurch leicht kopflastig werden, wenn es mit fünf bis zehn Seiten Registerauskunft beginnt, der Rest des Urteils jedoch kürzer ist.

Der Angeklagte hat keinen Schulabschluss erreicht und auch keine Ausbildung absolviert. Er ist dauerhaft arbeitslos. Derzeit erhält er monatlich Arbeitslosengeld in Höhe von 400 Euro sowie die Miet- und Heizkosten. Der Angeklagte ist ledig und hat keine Kinder.

Der Angeklagte hat im Alter von 13 Jahren begonnen, alkoholische Getränke zu konsumieren. Er ist weiterhin dem Alkohol zugeneigt. Sofern er sie beschaffen kann, trinkt er täglich mindestens eine Flasche hochprozentige Spirituosen.

Der Angeklagte ist bereits massiv strafrechtlich in Erscheinung getreten. Sein Strafregister weist folgende Eintragungen auf:

[Es folgen mehrere Seiten mit den Eintragungen im Strafregister]

Sachverhaltsschilderung

Gemäß § 267 Abs. 1 Satz 1 Strafprozessordnung müssen die Urteilsgründe die für erwiesen erachteten Tatsachen angeben, in denen die gesetzlichen Merkmale der Straftat gefunden werden. Der Richter schildert mit anderen Worten die Straftat anhand der Tatbestandsmerkmale. Das liest sich etwas trocken.

Am 14. Juni 2022 gegen 10.45 Uhr begab sich der Angeklagte in den EDEKA-Supermarkt in der Schlachthofstraße in Dessau-Roßlau. Dort steckte er sich eine Flasche Jack Daniel’s im Wert von 19,99 Euro vorne in seinen Hosenbund, um diese ohne Bezahlung für sich zu verwenden. Danach holte sich der Angeklagte aus einer anderen Abteilung des Geschäfts eine Flasche Bier und bezahlte lediglich diese an der Kasse. Während seines gesamten Aufenthaltes im Geschäft wurde der Angeklagte bis zum Bezahlen an der Kasse über die Überwachungskamera durch den an diesem Tag zuständigen Ladendetektiv, den Zeugen Roland Lehmann, beobachtet.

Nach dem Bezahlen der Bierflasche und dem Verlassen des Kassenbereiches wurde der Angeklagte sodann durch den Zeugen Lehmann kurz vor dem Ausgang angesprochen. Dieser stellte sich vor den Angeklagten, zeigte ihm seinen Ausweis und teilte ihm mit, dass er der Ladendetektiv sei. Dem Angeklagten war zu diesem Zeitpunkt bewusst, dass er aufgrund der durch ihn zuvor erfolgten Entwendung der Flasche Jack Daniel’s festgehalten wurde. Nachdem der Zeuge Lehmann zum Angeklagten sagte, dass dieser mit ihm ins Büro kommen solle, wollte sich der Angeklagte entfernen. Der Zeuge Lehmann hielt ihn am Oberarm fest und versuchte, ihn in Richtung des Büros zu ziehen. Der Angeklagte versetzte dem Zeugen drei wuchtige Faustschläge ins Gesicht. Der Zeuge ließ den Angeklagten los und war kurzzeitig benommen. Dies nutzte der Angeklagte aus und floh aus dem Einkaufsmarkt.

Die Faustschläge führte der Angeklagte zumindest auch aus, um sich im Besitz des entwendeten Whiskeys zu halten.

Der Angeklagte wurde kurze Zeit später von der Polizei auf einer Parkbank angetroffen und festgenommen. Dabei hatte der Angeklagte die Flasche Jack Daniel’s noch bei sich. Ein vor Ort durchgeführter Atemalkoholtest ergab bei dem Angeklagten einen Wert von 0,9 Promille.

Der Zeuge Lehmann erlitt durch die Schläge eine blutige Lippe und mehrere Hämatome im Gesicht.

Die Tat wurde vom Angeklagten aufgrund seiner Alkoholabhängigkeit begangen, wenngleich die Einsichtsfähigkeit oder die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten bei der Tatbegehung weder erheblich vermindert oder gar aufgehoben war.

Beweiswürdigung

Sie kann bei einem Geständnis sehr kurz ausfallen.

Hat der Angeklagte von seinem Schweigerecht Gebrauch gemacht oder die Tat bestritten, muss der Richter ausführlich begründen, warum er den Angeklagten für überführt hält.

Der Angeklagte hat den Diebstahl der Flasche Jack Daniel’s eingeräumt. Nicht richtig sei jedoch, dass er den Ladendetektiv geschlagen haben soll.

Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme steht zur vollen Überzeugung des Gerichts fest, dass der Angeklagte die Tat so begangen hat, wie es in den getroffenen Feststellungen im Einzelnen dargelegt ist. Der Angeklagte ist der Tat überführt.

Das Gericht stützt sich hierbei zum Tatkerngeschehen auf die Bekundungen der Zeugen Lehmann und Nietsch. Der als Ladendetektiv eingesetzte Zeuge Lehmann hat ausgesagt, er habe den Diebstahl der Flasche Whiskey auf dem Monitor der Überwachungskamera beobachtet. Er habe sich deshalb zum Ausgang begeben und den Angeklagten dort angesprochen. Als er ihn am Oberarm gepackt habe, um ihn ins Büro zu führen, habe ihm der Angeklagte drei Faustschläge ins Gesicht versetzt und sei geflohen. Die Zeugin Nietsch hatte zum Tatzeitpunkt Dienst an der Kasse. Sie hat den Vorfall, der sich drei Meter hinter dem Kassenbereich ereignete, beobachtet. Sie hat ebenfalls bekundet, dass der Angeklagte den Ladendetektiv dreimal mit der Faust ins Gesicht geschlagen hat. Die Zeugen haben ihre Aussagen ruhig und sachlich gemacht. Ihre Aussagen waren glaubhaft, sie selbst glaubwürdige Zeugen. Es ist auch kein durchgreifender Anhaltspunkt erkennbar geworden dafür, dass die Zeugen den Angeklagten wider besseres Wissen oder irrtümlich der Tat falsch bezichtigt haben könnten.

Darüber hinaus hat das Gericht die Videodaten der Überwachungskameras in Augenschein genommen. Die Auseinandersetzung mit dem Zeugen Lehmann hat sich im Erfassungsbereich einer der Kameras ereignet. Auf dem Video ist deutlich zu sehen, wie der Zeuge Lehmann den Angeklagten am Oberarm festhielt und versuchte, ihn in Richtung des Büros zu ziehen. Der Angeklagte versetzte dem Zeugen daraufhin drei wuchtige Faustschläge ins Gesicht und floh.

Bei der Beweiswürdigung unterschlägt der Richter, was er wirklich gedacht hat (»Der Angeklagte ist ein gewohnheitsmäßiger und erbärmlicher Lügner und sollte alleine für seine frechen Lügen drei Monate extra bekommen«), und nutzt stattdessen Textbausteine (»Die Einlassung des Angeklagten ist eine widerlegte Schutzbehauptung«). Die eigene Überzeugung wird kraftvoll betont (»steht zur vollen Überzeugung des Gerichts fest«). Der Strafrichter weiß aus Erfahrung, welche Formulierungen in der Rechtsmittelinstanz Bestand haben werden und welche angreifbar sind und damit zur Aufhebung des Urteils führen können. Floskeln aus dem Werkzeugkasten der obergerichtlichen Beweiswürdigung führen eher zu einer Aufrechterhaltung des Urteils als originär eigene Gedanken.

Rechtliche Würdigung und angewandte Strafvorschriften

In der Regel reicht die Wiederholung des Tenors und der angewendeten Vorschriften. Nur selten sind Rechtsausführungen notwendig. Generell kann man sagen, dass die Herausforderung eines Strafprozesses die Feststellung des Sachverhalts ist. Die rechtliche Würdigung ergibt sich dann meist von selbst.

Nach den getroffenen Feststellungen hat sich der Angeklagte des räuberischen Diebstahls gemäß §§ 242 Abs. 1, 252, 249 Strafgesetzbuch in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung gemäß § 223 Abs. 1, 52 Strafgesetzbuch schuldig gemacht. Der Angeklagte wurde bei einem Diebstahl auf frischer Tat betroffen. Er hat gegen den Zeugen Lehmann Gewalt verübt. Dies tat er, um sich im Besitz der Beute zu halten. Durch die Faustschläge hat der Angeklagte weiterhin den Tatbestand der Körperverletzung verwirklicht.

Strafzumessung

In diesem Abschnitt wird die für den Angeklagten entscheidende Frage der Strafhöhe erörtert. Wie sie der Strafrichter ermittelt, wurde in dem vorherigen Kapitel dargelegt. Der Richter wird nur die von der Rechtsprechung anerkannten Strafzumessungsgründe anführen. Was er wirklich gedacht hat, bleibt im Nebel der weiten Strafrahmen verborgen.

Der Strafzumessung hat das Gericht den Strafrahmen des § 249 Strafgesetzbuch zugrunde gelegt, der Freiheitsstrafe von einem bis zu fünfzehn Jahren vorsieht. Eine verminderte Schuldfähigkeit i. S. d. § 21 Strafgesetzbuch lag bei einem Promillewert von 0,9 ersichtlich nicht vor. Das Gericht hat auch keinen minderschweren Fall gemäß § 249 Abs. 2 Strafgesetzbuch angenommen. Trotz der Geringwertigkeit der Diebesbeute weicht die Tat vom Durchschnitt der gewöhnlich vorkommenden Fälle nicht derart ab, dass die Anwendung des Strafrahmens für minderschwere Fälle geboten erscheint.

Strafmildernd ist bei dem Angeklagten berücksichtigt worden, dass er ein Teil-Geständnis hinsichtlich des Diebstahls der Flasche Jack Daniel’s abgelegt hat. Ebenfalls mildernd war der geringe Wert der Diebesbeute zu berücksichtigen.

Strafschärfend wurde die nicht unerhebliche Gewalt gegenüber dem Zeugen Lehmann gewertet. Der Angeklagte ist mit den drei Faustschlägen massiv gegen den Zeugen vorgegangen, wo unter Umständen bereits ein einfaches Losreißen genügt hätte, um seine Flucht zu ermöglichen. Erheblich strafschärfend wirkten sich die erheblichen und auch einschlägigen Vorstrafen aus. Der Angeklagte hat bereits mehrfach Freiheitsstrafen verbüßt, was zeigt, dass er offensichtlich strafunempfindlich ist.

Tat- und schuldangemessen ist eine Freiheitsstrafe von einem Jahr sechs Monaten.

Eine Aussetzung der Vollstreckung der Freiheitsstrafe zur Bewährung gemäß § 56 Abs. 2 Strafgesetzbuch kam nicht in Betracht. Es mangelt an der Voraussetzung einer günstigen Sozialprognose gemäß § 56 Abs. 1 Strafgesetzbuch. Dagegen sprachen bereits die zahlreichen Vorstrafen. Eine zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafe hätte bei dem Angeklagten nicht die erforderliche Warnwirkung, und er würde diese nur als für ihn im Wesentlichen folgenlose Sanktion sowie als Nachgiebigkeit der Justiz missverstehen und als Ermunterung zur Begehung weiterer Straftaten betrachten.

Das Tückische ist, der Richter kann innerhalb der weiten Strafrahmen alles einpreisen, auch explizit unzulässige Strafzumessungsfaktoren, ohne sie zu benennen. Oder er kann aus seiner Sicht eher zweifelhafte Milderungsgründe, wie die verminderte Schuldfähigkeit nach § 21 Strafgesetzbuch, ausdrücklich anerkennen, hat aber zur Kompensation unerwähnt vorher das Ausgangsstrafmaß erhöht. So freut sich der Angeklagte über die Strafmilderung, die in Wirklichkeit gar keine ist. Dass der Richter vielleicht einen schlechten Tag gehabt und nur gewürfelt hat, lässt sich vortrefflich verbergen, indem er ins Urteil nur Floskeln schreibt.

Image Regel Nr. 23: Ins Urteil kommen nur die von der Rechtsprechung anerkannten Strafzumessungsgründe.

Kostenentscheidung

Bei einer Verurteilung trägt der Angeklagte die Kosten des Verfahrens. Die Kostenentscheidung beruht auf § 465 Abs. 1 Strafprozessordnung.

Wie lang sind Strafurteile? Wie ausführlich sie ausfallen, hängt von der Anzahl und der Bedeutung der Delikte, der Anzahl der Angeklagten und von der Höhe der Strafe ab. Wird ein geständiger Ladendieb zu einer Geldstrafe verurteilt, kann das Urteil nur zwei Seiten lang sein. Nach oben hin gibt es keine Grenze. Das Urteil in dem NSU-Prozess umfasst 3025 Seiten.

Rechtskraft oder Rechtsmittel

Am schönsten für einen Richter ist, wenn der Angeklagte und der Staatsanwalt direkt im Anschluss an die Urteilsverkündung Rechtsmittelverzicht erklären. Dies lässt im Richter das befriedigende Gefühl aufkommen, alles richtig gemacht zu haben. Dann ist das Urteil rechtskräftig.

Nach Verkündung des Urteils hat der Angeklagte eine Woche Zeit, Rechtsmittel einzulegen. Legt er keins ein, wird das Urteil rechtskräftig. Der Richter schickt die Akte zur Staatsanwaltschaft, die Vollstreckungsbehörde ist.

Gegen Urteile des Amtsgerichts kann der Angeklagte Berufung einlegen. Über diese entscheidet die kleine Strafkammer beim Landgericht, die mit einem Berufsrichter und zwei Schöffen besetzt ist. Das Urteil des Berufungsgerichts ist mit der Revision angreifbar. Das Oberlandesgericht prüft das Urteil nur noch auf Rechtsfehler.

Alternativ kann der Angeklagte auch eine Sprungrevision zum Oberlandesgericht einlegen. Von dieser Möglichkeit wird nur ganz selten Gebrauch gemacht, denn in der Revision wird das Urteil nur auf Rechtsfehler geprüft, während die Berufung eine zweite Tatsacheninstanz eröffnet und der Angeklagte dann noch zusätzlich eine Revision einlegen kann.

Gegen erstinstanzliche Urteile des Landgerichts gibt es nur die Revision zum Bundesgerichtshof. Es ist eines dieser Mysterien der Gesetzgebung, warum dem vom Amtsgericht verurteilten Hühner- und Eierdieb zwei Rechtsmittelinstanzen zugestanden werden, dem vom Landgericht verurteilten Mörder aber nur eine, und vor allem keine zweite Tatsacheninstanz. Je schwerer die Straftat und ihre Folgen durch eine Bestrafung wiegen, desto besser müssten die Rechtsmittel eigentlich ausgestaltet sein. Begründet wird diese Ungereimtheit mit der angeblich höheren Qualität der landgerichtlichen Rechtsprechung. Jedoch stammen Amts- und Landrichter aus demselben Bewerberpool. Es ist eben nicht so, dass an den Amtsgerichten die schlechteren und an den Landgerichten die besseren Richter arbeiten. Ihre Qualifikation ist die gleiche. Und wer regelmäßig Entscheidungen des Bundesgerichtshofs liest, stellt fest, dass es angesichts der vielen und mit harschen Worten versehenen Aufhebungen nicht weit her sein kann mit der angeblich höheren Qualität der landgerichtlichen Rechtsprechung.

»Haben Sie schon mal ein falsches Urteil gesprochen?«, bin ich gefragt worden. Mit Sicherheit, nur weiß ich nicht, in welchen Fällen. Ich kann mich irren, wie jeder andere Mensch auch. Für den möglicherweise unschuldig oder zu hart verurteilten Angeklagten ist das natürlich schlimm. Ich tröste mich ein wenig mit dem Gedanken, dass das Amtsgericht nur die Eingangsinstanz ist. Ich gehe davon aus, dass die zwei Rechtsmittelinstanzen mögliche Fehler von mir erkennen und ausbügeln.

Strafen müssen oft nicht abgesessen werden

Kürzlich ging ich durch das Einkaufszentrum und sah einen jungen Mann, den ich wegen Raubes zu zwei Jahren Freiheitsstrafe verurteilt hatte, die wegen seiner Drogensucht im Maßregelvollzug vollstreckt werden sollten. Er war von der Psychiaterin als gefährlich und stark rückfallgefährdet eingeschätzt worden. Das war erst letztes Jahr gewesen. Wieso läuft der schon wieder frei herum?, fragte ich mich. Am nächsten Tag erkundigte ich mich bei der Staatsanwaltschaft nach dem Vollstreckungsstand. Es wäre wegen der dramatischen Überbelegung des Maßregelvollzugs noch kein Platz für den Verurteilten verfügbar gewesen, lautete die Antwort der Staatsanwältin. Die Wartezeit würde über zwei Jahre betragen, Tendenz steigend. Ich konnte kaum glauben, dass ein von mir verurteilter gefährlicher Straftäter auch ein Jahr nach Verurteilung noch frei herumlief und dies voraussichtlich noch einige Zeit weiter tun würde.

Der Maßregelvollzug ist bundesweit überlastet, was jahrelange Wartezeiten zur Folge hat. Anwälte nutzen diesen Missstand zunehmend, um durch Beantragung einer Unterbringung in der Entziehungsanstalt den Beginn des Vollzuges auf den Sankt-Nimmerleins-Tag hinauszuschieben.

Auch ganz normale Gefängnisse sind überfüllt. Freiheitsstrafen können deshalb nicht vollstreckt werden, und Verurteilte bleiben in Freiheit. Während die Verbrecher auf ihren Strafantritt am Sankt-Nimmerleins-Tag warten, können sie weiter ungehindert Straftaten begehen. Angeklagte mit viel Mühe zu verurteilen ist relativ sinnlos, wenn die Freiheitsstrafen nicht zeitnah vollstreckt werden.

Abgesehen von diesen Vollzugsmängeln, müssen viele Verurteilte nicht ihre ganze Strafe absitzen. Sie kommen in den Genuss des offenen Vollzuges, das bedeutet, sie müssen nur zum Schlafen in die Justizvollzugsanstalt, können sie tagsüber verlassen. Bei der Halb- und Zweidrittelstrafe wird der Strafrest zur Bewährung ausgesetzt. Bei guter Führung müssen die Verurteilten nur die Hälfte oder zwei Drittel ihrer Strafe absitzen. Selbst eine lebenslange Freiheitsstrafe bedeutet im Schnitt nur 19 Jahre.

Uli Hoeneß wurde wegen Steuerhinterziehung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Schon nach sieben Monaten kam er in den offenen Vollzug. Tagsüber arbeitete er im Nachwuchsbereich des FC Bayern München und musste nur zum Schlafen in die Justizvollzugsanstalt. Die Wochenenden durfte er regelmäßig bei seiner Familie verbringen. Nach einem Jahr und zwei Monaten als Freigänger kam Hoeneß in den Genuss der Halbstrafe. Die restliche Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. 68 Von den drei Jahren und sechs Monaten musste Hoeneß damit nur sieben Monate voll verbüßen.

Inzwischen wundert es mich auch nicht mehr, regelmäßig Verurteilten auf der Straße zu begegnen, die eigentlich im Gefängnis sein müssten. Ein Strafurteil ist letztlich auch nur ein Stück Papier. Einen Motivationsschub löst diese Vollstreckungspraxis bei mir nicht aus.

Image Regel Nr. 24: Strafen müssen oft nicht abgesessen werden.

Warum dauern die Verfahren so lange?

Nach dem Roland Rechtsreport haben 81 Prozent der Bürger den Eindruck, dass viele Verfahren zu lange dauern. 69

Immer öfter müssen Verdächtige aus der Untersuchungshaft entlassen werden, weil die Verfahren zu lange gedauert haben. Bei Haftsachen hat das Gericht eine Sechsmonatsfrist ab Festnahme zu beachten, innerhalb derer die Hauptverhandlung begonnen haben muss. Die Fristeinhaltung gelingt den Gerichten zunehmend weniger gut. Allein im Jahr 2021 hat die Justiz nach Recherchen der Deutschen Richterzeitung bundesweit mindestens 66 Tatverdächtige wieder auf freien Fuß gesetzt, weil deren Strafverfahren zu lange gedauert haben. 70 Das heißt, jede Woche muss mindestens ein Krimineller freigelassen werden, weil die Justiz gebummelt hat.

Drei Männer werden verdächtigt, Marco W. in der Bremer Neustadt ermordet zu haben. 71 Die Leiche sollen sie zerstückelt und in Niedersachsen verscharrt haben. Sie kommen in Untersuchungshaft. Die Staatsanwaltschaft erhebt im Februar 2022 Mordanklage. Doch die Strafkammern des Landgerichts Bremen arbeiten seit Jahren am Limit. Insbesondere das zuständige Schwurgericht ist extrem hoch belastet. Es gelingt ihm nicht, die Hauptverhandlung innerhalb von sechs Monaten zu beginnen. Das Oberlandesgericht Bremen hebt daraufhin die Haftbefehle wegen Fristüberschreitung auf. Die mutmaßlichen Mörder kommen in Freiheit. Lisa-Marie M., die Schwester des Opfers, ist fassungslos. 72 »Was ist, wenn da jetzt noch etwas passiert? Muss noch ein Mord passieren, dass hier irgendwie gehandelt wird?«

Die Justizverwaltungen halten dem Vorwurf langer Verfahrensdauern entgegen, ein Strafverfahren vor dem Amtsgericht dauere durchschnittlich nur fünf Monate, eins vor dem Landgericht acht Monate. Diese verkürzte Betrachtungsweise verkennt, dass ein Strafverfahren nicht nur aus der ersten Instanz besteht. Vorher gibt es das Ermittlungsverfahren bei der Polizei und der Staatsanwaltschaft, nach dem erstinstanzlichen Urteil häufig das Rechtsmittelverfahren. Wenn jede dieser vier Verfahrensabschnitte auch nur sechs Monate dauert, ergibt das eine gesamte Verfahrensdauer von zwei Jahren. Es gibt aus gutem Grund keine Statistiken über Gesamtverfahrensdauern, dann würden nämlich aus den Monaten schnell Jahre werden, und das wäre für das Ansehen der Justiz abträglich.

Es sind vor allem Großverfahren, deren Dauer beim Bürger Kopfschütteln auslöst.

Das Love-Parade-Verfahren wurde zehn Jahre nach dem Unglück eingestellt. 73 Der NSU-Prozess zog sich mit 438 Verhandlungstagen über fünf Jahre hin. 74 In Koblenz musste das Verfahren gegen ein Neonazi-Netzwerk abgebrochen werden, weil nach knapp fünfjähriger Prozessdauer mit 337 Hauptverhandlungstagen der Vorsitzende Richter in Pension ging. 75 Fünf Jahre dauerte der Wettbüromordprozess gegen zehn Rocker vor dem Landgericht Berlin. 76 Das sind alles große Verfahren vor dem Land- bzw. Oberlandesgericht, werden Sie vielleicht einwenden. Lange Verfahren gibt es aber auch bei Bagatellen, wie ein Fall des Amtsgerichts Dessau-Roßlau zeigt.

Immer am Jahrestag des Todes von Oury Jalloh am 7. Januar kommt es zu einer Demonstration. Der Afrikaner war am 7. Januar 2005 unter ungeklärten Umständen in der Gewahrsamszelle des Polizeireviers Dessau verbrannt. Für die Demonstranten sind Feuerzeuge ein Symbol für die Unklarheiten im Fall Oury Jalloh.

Ein Teilnehmer der Demonstration am 7. Januar 2016 wurde der versuchten Körperverletzung in zwei Fällen angeklagt. Er habe Feuerzeuge in Kopfhöhe auf zwei vor der Staatsanwaltschaft postierte Polizisten geworfen. Diese konnten den Feuerzeugen jedoch ausweichen, wurden nicht getroffen und damit auch nicht verletzt. Der Angeklagte war nicht vorbestraft. Es handelte sich um eine Bagatelle.

Der sogenannte Feuerzeugprozess begann am 24.10.2018, mithin zwei Jahre neun Monate nach dem Vorfall. Er zog sich über neun Verhandlungstage bis zum 22.02.2019 hin. Schließlich wurde der Feuerzeugwerfer zu einer Geldstrafe von 15 Tagessätzen zu je 20 Euro verurteilt. Neun Verhandlungstage über einen Zeitraum von vier Monaten verteilt sind einfach nicht mehr angemessen für eine derartige Bagatellstraftat. Es ist für den Bürger auch unverständlich, warum das Urteil erst mehr als drei Jahre nach dem Vorfall fiel.

Besorgniserregend ist, dass die Dauer von Strafverfahren seit Jahren im Durchschnitt stetig zunimmt.

Eine alte Verteidigerweisheit besagt, dass jeder Fall mit der Zeit besser wird. Erinnerungen verblassen, Zeugen verziehen nach unbekannt oder sterben, Beweismittel verschwinden. Im Zweifel profitiert davon der Angeklagte. Eine lange Verfahrensdauer wirkt zudem strafmildernd.

Warum mahlen Justitias Mühlen so langsam? Das liegt selten an einem einzelnen Grund, sondern an dem Zusammenwirken mehrerer Gründe:

Um zu verstehen, warum einzelne Verfahren so lange dauern, andere aber nicht, muss man begreifen, zu welcher Arbeitsweise Richter gezwungen werden. Maßgeblich für jeden Richter ist seine Erledigungsstatistik. In ihr wird monatlich festgehalten, wie viele Neueingänge ein Richter hat, wie viele Verfahren er erledigt und wie viele unerledigte Verfahren er hat. Eine schlechte Erledigungsstatistik kann zu einem Disziplinarverfahren führen, dauerhaft gute Erledigungszahlen sind der Grundstein jeder Justizkarriere. Was macht nun ein Strafrichter, dem die Statistik die Erledigung von 50 bis 60 Verfahren im Monat vorgibt? Er bearbeitet bevorzugt die kleinen, einfachen Fälle. Mit den »schnellen Nummern« kann er so viele Erledigungen zusammensammeln, dass er im grünen Bereich ist und keinen dienstlichen Ärger bekommt. Dann gibt es noch die schwierigen, komplexen Verfahren. »Gürteltier« nennen Richter dicke, mit einem Stoffgürtel zusammengehaltene Akten. Ihre Bearbeitung schiebt der Strafrichter auf, denn wenn er sich wochenlang nur mit einer Akte beschäftigt, ruiniert ihm das seine Statistik. Sie wird zur »Fensterbankakte« und kann dort monatelang vergilben, bis der Richter beispielsweise durch eine ausgefallene Verhandlung endlich Zeit findet, sich ihr zu widmen.

Image Regel Nr. 25: Einfache Fälle zieht der Strafrichter vor, komplizierte lässt er liegen.

Lange Verfahrensdauern kümmert die Justiz nicht, denn in ihr herrscht ein anderes Zeitempfinden. Wenn Verfahren Jahre dauern, ist dies weder ungewöhnlich noch besorgniserregend. Justitia ist schließlich kein Rennpferd, sondern eine ältere Dame. Was Sie an der Bronzefigur für ein Schwert halten, ist in Wirklichkeit ein Krückstock.