Der Richterjob ist eine gefahrgeneigte Tätigkeit. Welche Fehler können ihn selbst ins Gefängnis bringen?
Nach einschlägigen Foren handelt es sich bei der Justiz um eine Rechtsbeugermafia. Rechtsbeugung sei ein Massendelikt. Und klar, genauso ist es. Morgens auf dem Weg zum Rechtsbeugungszentrum denke ich darüber nach, welchen neuen kreativen Weg ich heute finden werde, um das Recht zu beugen. Mein Ziel als Richter ist es, für die größtmögliche Ungerechtigkeit zu sorgen. Irgendwie werde ich die 1000 Fehlurteile bis zu meiner Pensionierung noch vollbekommen.
Richter fürchten Anzeigen wegen Rechtsbeugung, denn diese ist ein Verbrechen mit einer Mindestfreiheitsstrafe von einem Jahr. Im Falle einer Verurteilung würde der Richter zwingend sein Amt verlieren. Das ist der schlimmste Vorwurf, der einem Richter gemacht werden kann. Anzeigen der Rechtsbeugung sind häufig. Der rechtsunkundige Bürger meint, wenn er einen Prozess verloren hat, müsse das wohl Rechtsbeugung sein. Manchmal hat man es auch mit Justizhassern zu tun, für die sämtliche Richtertätigkeit Rechtsbeugung ist. Es bleibt in einem Richterleben nicht aus, dann und wann wegen Rechtsbeugung angezeigt zu werden. Verurteilungen sind dagegen selten.
Die Rechtsbeugung gemäß § 339 Strafgesetzbuch setzt das Beugen des Rechts, das heißt die Verletzung des Rechts zum Vorteil oder Nachteil einer Seite, voraus. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs muss sich der Richter bewusst und in schwerwiegender Weise von Recht und Gesetz entfernen. 77 Am ehesten liegt das bei bewussten Verfahrensverstößen vor.
Ein Betreuungsrichter aus Nürtingen hatte in 47 Fällen Pflegeheimbewohnern Bauchgurte und Bettgitter verordnet, ohne sie vorher persönlich anzuhören. 78 Rechtlich sind das freiheitsentziehende Maßnahmen. Nach § 70c Familiengerichtsgesetz hat der Richter vor einer Unterbringungsmaßnahme den Betroffenen persönlich anzuhören und sich einen unmittelbaren Eindruck von ihm zu verschaffen. Dem Richter waren jedoch die Fahrtzeiten zu lang, und er wollte seine Freizeit optimieren. Deshalb sparte er sich die Anhörungen und erstellte fingierte Protokolle. Er war aufgeflogen, weil er einige Anhörungsprotokolle auf Termine datiert hatte, an denen die Betroffenen bereits verstorben waren. Das Landgericht Stuttgart verurteilte ihn zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten.
Ein Familienrichter am Amtsgericht Weimar hatte im April 2021 im Rahmen einer Kindschaftssache die Maskenpflicht für alle Schüler an zwei Schulen aufgehoben. 79 Nach seiner Auffassung stelle die Maskenpflicht eine Kindeswohlgefährdung dar, wie er in seinem 160 Seiten langen Beschluss ausführlich begründete. Über verschiedene Rechtsansichten kann man durchaus streiten, doch er handelte außerhalb seiner Zuständigkeit. Für Maßnahmen gegenüber schulischen Behörden ist der Rechtsweg zu den Familiengerichten im Verfahren nach § 1666 I und IV BGB nicht eröffnet; zuständig sind ausschließlich die Verwaltungsgerichte, stellte der Bundesgerichtshof fest. 80 Die Maskenpflicht an Schulen fällt mit anderen Worten nicht in die Zuständigkeit von Familiengerichten – und kann deshalb von Familienrichtern auch nicht aufgehoben werden. Das Handeln außerhalb seiner Zuständigkeit brachte ihm eine Anklage wegen Rechtsbeugung ein. Das Landgericht Erfurt hat die Anklage zugelassen 81 und bereitet eine Hauptverhandlung vor. Der Ausgang dieses Strafverfahrens ist noch offen.
Wie die meisten anderen Richter wurde ich auch schon mehrfach wegen Rechtsbeugung angezeigt. Hier ein Fall aus meiner Schatzkiste:
Ausgerechnet eine Tüte Haribo-Milchbären im Wert von unter einem Euro sollte mir zum Verhängnis werden. Dabei war es nicht mal ich selbst, der sie stahl. Am 15.10.2019, gegen 17.49 Uhr, begab sich der Beschuldigte in den SB-Markt »REWE« in Dessau-Roßlau, Kavalierstraße 49, entnahm den dortigen Auslagen eine Tüte Milchbären im Wert von 0,95 Euro und steckte diese in seine linke Hosentasche. Sodann passierte der Beschuldigte die Kassenzone, ohne die Ware bezahlt zu haben.
Bei der Tat führte der Beschuldigte in seiner rechten Hosentasche griffbereit ein Küchenmesser mit einer 9,5 cm langen stehenden Klinge sowie ein Teppichmesser, Klingenlänge 1 cm, mit. Die beiden Messer machten aus dem einfachen Ladendiebstahl einen Diebstahl mit Waffen mit einer Mindeststrafe von sechs Monaten Freiheitsstrafe.
»U-Haft schafft Rechtskraft« ist einer dieser putzigen Sprüche von Ermittlungsrichtern. Er steckte den Fruchtgummidieb in Untersuchungshaft. Später erhob die Staatsanwaltschaft Anklage zum Schöffengericht. Damit landet die Akte auf meinem Tisch. Bei Haftsachen gibt es eine Sechsmonatsfrist, in der zwingend die Hauptverhandlung beginnen muss. Außerdem musste noch ein psychiatrisches Gutachten eingeholt werden, weil eine Drogenabhängigkeit des Angeklagten im Raume stand. Ich stimmte einen Hauptverhandlungstermin mit Verteidiger und Sachverständiger für den 19.05.2020 ab.
Doch dann kam Corona. Das Verhandeln unter Pandemiebedingungen erforderte besondere Schutzmaßnahmen, wie insbesondere eine Einlasskontrolle. Dies sah die damals geltende SARS-CoV-2-Eindämmungsverordnung vor. Personen mit erkennbaren COVID-Symptomen sollte der Zutritt versagt werden. Die Besucher sollten befragt werden, ob sie kürzlich aus dem Ausland zurückgekehrt waren oder Kontakt zu Infizierten hatten. Außerdem sollten sie für die Kontaktnachverfolgung in einer Anwesenheitsliste erfasst werden. Allerdings waren diese Infektionsschutzmaßnahmen am Amtsgericht Dessau-Roßlau mangels Wachtmeistern nicht umsetzbar. Bei uns konnte jeder Infizierte ungehindert das Gericht betreten und seine Virenlast größtmöglich verbreiten. Ich wog das Interesse an der Durchführung des Termins und die Risiken einer möglichen Verbreitung des Virus gegeneinander ab. Eine Tüte Milchbären gegen die Gesundheit der Belegschaft und der Verfahrensbeteiligten. Im Ergebnis hob ich den Hauptverhandlungstermin auf und setzte den Haftbefehl außer Vollzug. Der Milchbärendieb wurde freigelassen, nachdem er schon fast ein halbes Jahr im Gefängnis gesessen hatte. Viel länger wäre seine Strafe auch im Falle einer Verurteilung nicht ausgefallen. Bei einer Beute von nicht einmal einem Euro drängte sich mir ein minderschwerer Fall auf. Die Terminaufhebung war nichts Ungewöhnliches, denn während des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020 wurden Tausende Verhandlungstermine bundesweit aufgehoben. Ein vom Jagdtrieb zerfressener Staatsanwalt bekam fast einen Herzinfarkt, als er von der Terminsaufhebung erfuhr. Der Milchbärendiebstahl war schließlich ein schweres Verbrechen. Er war der Meinung, die Hauptverhandlung am 19.05.2020 hätte ohne Weiteres durchgeführt werden können. Ich hätte den Termin nicht aufheben und den Haftbefehl außer Vollzug setzen dürfen. Er leitete ein Ermittlungsverfahren wegen Rechtsbeugung gegen mich ein. Das ist ein Verbrechen mit einem Strafrahmen von ein bis fünf Jahren. Im Falle einer Verurteilung hätte sie zwingend meine Entlassung aus dem richterlichen Dienst zur Folge. Ich war, gelinde gesagt, geschockt. Mit Mitte fünfzig und einer fetten Vorstrafe dürfte es sehr schwer werden, noch irgendwo Arbeit als Jurist zu finden. Insbesondere Verhandlungen belasteten mich, weil ich mich immer auf der Anklagebank sah, wo jetzt noch andere saßen. Es ging mir mental schlecht in dieser Zeit. Und das alles nur wegen diesem Milchbären-Fall.
Ich musste mir selber einen Strafverteidiger nehmen. Dieser verfasste eine Einlassung, nach der es für mich unzumutbar war, die Verfahrensbeteiligten den Risiken einer Hauptverhandlung ohne Durchführung von Schutzmaßnahmen auszusetzen. Die Terminsaufhebung sei direkte Folge der seitens der Verwaltung nicht umsetzbaren Corona-Schutzmaßnahmen gewesen. Monatelang lebte ich unter dem Damoklesschwert einer Freiheitsstrafe und Dienstentlassung.
Schließlich stellte die Staatsanwaltschaft das Verfahren mangels hinreichenden Tatverdachts gemäß § 170 Abs. 2 Strafprozessordnung ein. Das Schreiben enthielt keine Begründung. Ich blieb auf den Anwaltskosten sitzen.
Bei allen Mängeln der Justiz kann man sagen, sie ist nicht korrupt. Es gibt kaum Verurteilungen von Richtern wegen Bestechlichkeit. In meinen über 27 Dienstjahren habe ich auch in meinem Umfeld nicht mitbekommen, dass sich ein Richter hat bestechen lassen. Warum ist das so? Wer Richter wird, tut das nicht wegen des Geldes. Wer viel Geld verdienen will, geht in eine Großkanzlei und bekommt dort das Dreifache. Richter sind durch ihre Persönlichkeit und ihren Berufsethos vor den Verlockungen des Geldes geschützt.
Ein Richter kann sich auch dadurch strafbar machen, dass er die Aussage eines Angeklagten erpresst, indem er ihn körperlich misshandelt, gegen ihn sonst Gewalt anwendet, ihm Gewalt androht oder ihn seelisch quält, § 343 Strafgesetzbuch. Die Tat wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren bestraft. So etwas kommt kaum vor, trotzdem will ich ihnen den nachfolgenden Fall nicht vorenthalten.
Der Angeklagte stand wegen Exhibitionismus vor Gericht. 82 Der Proberichter wollte unbedingt ein Geständnis von ihm, doch er stritt die Tat ab. In dieser Situation entschloss sich der Richter, den Druck auf den Angeklagten dadurch zu erhöhen, dass er ihn in den Gewahrsam des Amtsgerichts führen und ihm dort eine Gewahrsamszelle zeigen ließ. Er sprang deshalb plötzlich mit den Worten auf: »Sie kommen jetzt mit, ich zeige Ihnen mal, wie Ihre Zukunft aussehen kann.« Der Richter führte den Angeklagten gemeinsam mit einem Wachtmeister in den Gewahrsamsbereich in den Keller des Amtsgerichts. Dort forderte er den mittlerweile verängstigten und eingeschüchterten Angeklagten auf, eine Zelle zu betreten, was dieser ohne jeden Widerstand tat. Er werde die Tür für ca. eine Minute schließen, aber nicht verriegeln. Der Angeklagte könne jederzeit klopfen, wenn er Angst habe und die Zelle verlassen wolle. Der nunmehr völlig verängstigte Angeklagte leistete diesen Anweisungen des Richters Folge und setzte sich auf die in der Zelle befindliche Bank. Sodann schloss der anwesende Wachtmeister auf Anweisung des Richters die Tür und legte von außen einen Riegel vor. Nach einer kurzen Zeitspanne, möglicherweise weniger als eine Minute, öffnete der Wachtmeister die Zellentür, und der Beschuldigte verließ die Zelle. Im weiteren Verlauf der Verhandlung gestand der Angeklagte den Exhibitionismus und wurde verurteilt. Später saß der Proberichter selbst auf der Anklagebank. Das Landgericht Kassel verurteilte ihn wegen Rechtsbeugung und Aussageerpressung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr auf Bewährung.
Der Bundesgerichtshof hatte sich im Rahmen einer Revision mit dem Fall zu befassen und verneinte eine Aussageerpressung. Der Aufenthalt des Beschuldigten in der Gewahrsamszelle und das zeitweilige Verschließen der Zellentür für einen kurzen Zeitraum war kein Einsperren und damit auch keine Freiheitsberaubung im Sinne des § 239 Strafgesetzbuch. Denn dem Angeklagten stand die zumutbare Möglichkeit offen, zu klopfen und damit jederzeit den Aufenthalt in der Zelle zu beenden. Auch für eine Rechtsbeugung waren die Urteilsgründe nicht ausreichend. Der Bundesgerichtshof verwies den Fall zurück an das Landgericht.
Gemäß § 275 Abs. 1 Satz 2 Strafprozessordnung muss ein Urteil spätestens fünf Wochen nach der Verkündung zu der Akte gereicht sein. Wird diese Frist nicht eingehalten, ist das Urteil mit der Revision erfolgreich anfechtbar. Was macht der überlastete Strafrichter, der die Frist nicht einhalten kann? Er versucht, den Eingangsstempel der Geschäftsstelle zurückzudatieren. Einen anderen Weg fand ein Dessauer Landrichter.
Manfred Allinger war Vorsitzender einer Berufungskammer am Landgericht Dessau-Roßlau. Er fühlte sich angesichts der Menge an Arbeit überfordert und schaffte es öfter nicht, die Urteilsabsetzungsfrist einzuhalten. Es hatte deshalb schon mehrere Disziplinarverfahren gegeben. Um weitere Geldbußen zu vermeiden, wandte er folgenden Trick an. 83 Rechtzeitig vor Ablauf der Frist reichte er bei der Geschäftsstelle ein Urteilsfragment ein. Die Justizsekretärin stempelte den Eingang auf der ersten Seite ab. Wesentliche Bestandteile des Urteils, wie der Sachverhalt, die Beweiswürdigung und die Strafzumessung, fehlten zu diesem Zeitpunkt. Nach Ablauf der Urteilsabsetzungsfrist ergänzte er das Urteil um die fehlenden Bestandteile. Er beließ jeweils die erste Urteilsseite mit dem Eingangsstempel in der Akte und tauschte die geänderten Seiten heimlich aus. Der inzwischen suspendierte Richter wurde wegen Rechtsbeugung und schwerer Urkundenfälschung zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt. 84