Es war zwei Jahre zuvor gewesen – im Dezember 1926. Die schrägen Strahlen der nördlichen Sonne spiegelten sich mit tief orangefarbenem Schein in den Klassenzimmerfenstern wider. Ich sagte dem Hausmeister, der am eisernen Tor des Schulhofes wartete, um es abzuschließen, Auf Wiedersehen, schwang mich auf mein Fahrrad und fuhr die mir vertraute Straße entlang, die sich bis in das Zentrum von Korsør windet.
Fünf oder sechs Minuten energischen Radelns brachten mich zum westlichen Teil der Stadt, nur wenige Hundert Meter vom Ufer des Großen Belt entfernt. Ich stellte mein Fahrrad im Hofe eines großen, roten Backsteinbaues ab und stieg die Treppen zu meiner Wohnung im zweiten Stock empor. Auf dem kleinen offenen Vorplatz zur Wohnung stand Valborg, meine Hausangestellte, die sich die Hände an ihrer rot-weiß karierten Schürze abtrocknete, bereit, mich zu begrüßen.
„Willkommen zu Hause!“, sagte sie und half mir aus meinem pelzgefütterten Mantel.
Im Esszimmer verweilten meine Augen mit Genugtuung beim gedeckten Abendessentisch. Der Kristallleuchter warf sein weiches Licht auf das glänzende Silberbesteck und die gestärkte Damasttischdecke. Ich schlüpfte für einen Augenblick ins Schlafzimmer und unterdessen zündete Valborg die Kerzen an und stellte einen Teller mit dampfender Suppe an meinen Platz. Während ich meine Suppe löffelte, verweilte Valborg bei meinem Stuhl.
Nachdem sie den größten Teil des Tages in ihrer Wohnung verbracht hatte, war sie jetzt zu einer Unterhaltung aufgelegt.
„Das ist Ihre letzte Schulwoche für dieses Jahr“, sagte sie, „und morgen Abend ist Lehrerball.“
„Das erinnert mich daran“, erwiderte ich, „dass Sie für mich morgen kein Abendessen zu bereiten brauchen. Herr Wulff wird mich vor dem Ball zum Nachtessen abholen.“
Valborg zeigte an dieser Abmachung offensichtliches Interesse. Sie mochte Søren Wulff – ich auch! Aber …
„Über Weihnachten werde ich heim nach Brønderslev gehen“, sagte ich, um das Thema zu wechseln. „Sie werden während meiner Abwesenheit in der Wohnung nichts machen müssen.“ Am Ende der Mahlzeit zündete ich mir den Zigarillo an, den Valborg diskret neben meine Kaffeetasse gelegt hatte. Dann nahm ich die Tasse und trug sie ins Wohnzimmer. Vor mich hinpaffend, ließ ich mich behaglich im tiefen Lehnstuhl nieder, welcher in der einen Ecke stand, und ließ meinen Blick langsam durch den Raum wandern. Vor der gegenüberliegenden Wand warf der auf Hochglanz polierte Nussbaumflügel gedämpft die gelben und bronzenen Schatten des Wilton-Teppichs zurück. Die Wand dahinter selber war mit einer oliv schattierten Tapete überzogen, die den Eindruck eines Gobelins erweckte und gut zu den goldfarbenen Brokatvorhängen passte. Die Wand zu meiner Linken versteckte sich vom Boden bis zur Decke hinter einem Bücherschrank, auf dessen Regale sich Reihen von Büchern mit Dresdner Porzellanfiguren sowie mit Vasen und Schalen aus deutschem Kristall abwechselten.
Eine Minute lang oder so genoss ich bewusst all diesen Komfort und diese Eleganz. Ich fragte mich, wie schon oft vorher: „Kann es jemand in der Welt besser gehen als mir?“ Im Alter von sechsunddreißig hatte ich bereits das Ziel erreicht, das ich mir als Lehrerin gesteckt hatte. Zu all meinen Diplomen in den normalen Lehrfächern wie Geschichte, Geografie, Dänisch und Englisch hatte ich als eine der ersten Lehrerinnen im Lande einen Weiterbildungskurs in Hauswirtschaftslehre, unter besonderer Berücksichtigung der neuesten Ernährungswissenschaft, genommen. In der Folge wurde ich zur Direktorin für Hauswirtschaftslehre in einer der modernsten und am besten eingerichteten Schulen Dänemarks ernannt. Meine Abteilung diente nun den Erziehungsbehörden als Muster für die Einrichtung ähnlicher Abteilungen in anderen Schulen des ganzen Landes.
In den letzten zehn Jahren hatte ich in verschiedenen Städten Dänemarks unterrichtet, doch nirgends gefiel es mir so gut wie in Korsør mit seiner schönen Lage am Großen Belt – und trotzdem nicht weit von Kopenhagen entfernt. Ich verdiente gut und hatte zudem nach dem Ableben meines Vaters zwei Jahre zuvor eine ansehnliche Erbschaft gemacht.
Vor allem jedoch war da Søren Wulff – der Lehrer, der mich am nächsten Abend ausführen wollte. Søren und ich waren am Lehrerseminar gute Freunde geworden, hatten wir doch viele gemeinsame Interessen – Tanzen, Eislauf, Mozart, Kierkegaard. Nach dem Studium hatten wir während beinahe zehn Jahren jeder an verschiedenen Schulen unterrichtet. Und nun – wie das Schicksal es wollte – waren wir in Korsør wieder zusammen. Im Verlaufe des letzten Semesters gewahrte ich allmählich eine neue Ernsthaftigkeit in Sørens Haltung mir gegenüber. Ich rechnete ziemlich sicher damit, dass er mir morgen Abend einen Heiratsantrag machen würde. Warum fürchtete ich mich davor? In seiner Art, durch seine Ausbildung und seinen Beruf war Søren vor allem eines: Lehrer. Sein ganzes Leben drehte sich um seine Arbeit. Eine Ehe würde bei ihm auch nichts daran ändern, dass er in erster Linie mit seinem Beruf verheiratet war. Da ich ebenfalls im Lehrerberuf stand, sah das mit uns beiden nach einer idealen Liaison aus. Gewiss, wenn ich heiraten und Kinder haben wollte, konnte ich es mir nicht leisten, noch viel länger zu warten!
Und doch … es war eine Endgültigkeit damit verbunden, die mir Furcht einflößte. Warum hatte ich mit dieser inneren Zurückhaltung zu kämpfen? Gab es etwas, was noch fehlte, um unser Leben zu vervollständigen? Im vergangenen Jahr hatte ich mir diese Frage immer und immer wieder gestellt, aber ich vermochte keine Antwort darauf zu finden. Genau genommen hatte ich keine Ahnung, von wo ich überhaupt eine erwarten sollte.
Um sechs Uhr am folgenden Abend hatte ich meine Toilette beendet und verweilte noch einen Augenblick vor dem Spiegel. Mein langes, blondes Haar war in vier Flechten zusammengenommen, die oben ineinander übergingen; so hatte es Søren gern. Das blaue Seidenkleid – Valborg hatte es noch für mich gebügelt – verlieh dem Blau meiner Augen eine zusätzliche Betonung. Blau war sowohl Sørens als auch meine Lieblingsfarbe. Wir hatten so viel Gemeinsames …
Meine Träumerei wurde von einem lauten Klopfen unterbrochen. Eilig legte ich meinen weißen Pelzumhang um und öffnete die Tür. Sørens athletische Erscheinung kam in seinem tadellos zugeschnittenen Smoking voll zur Geltung, sein sorgfältig gepflegtes braunes Haar duftete angenehm nach einem dezenten Haarwasser.
„Unten wartet ein Taxi“, sagte er, meine ausgestreckte Hand mit seinen beiden ergreifend.
Im Restaurant führte Søren mich zu einem Tisch für zwei in der entferntesten Ecke. „Ich habe mich schon seit zwei Wochen auf diesen Abend gefreut“, sagte er. „Weißt du eigentlich, dass es heute fast genau auf den Tag zwölf Jahre her sind, seit wir das erste Mal zusammen tanzten?“
Der Ober kam, um unsere Bestellung entgegenzunehmen, und unsere Unterhaltung wandte sich den Ereignissen des soeben zu Ende gegangenen Schuljahres zu. Søren war wie immer lebhaft und unterhaltsam, aber ich entdeckte eine kleine Spur von Spannung in seiner Stimme. Schließlich räumte der Kellner den Tisch ab und ließ uns mit unserm Kaffee und Brandy wieder alleine.
Søren nahm einen kurzen Schluck von seinem Kaffee, hob dann seinen Blick und schaute mir voll ins Gesicht. „Lydia“, sagte er, „ich habe einen speziellen Grund für meine Einladung zu unserm gemeinsamen Nachtessen heute Abend – und ich kann mir vorstellen, dass du bereits weißt, welches dieser Grund ist.“ Er hielt inne, während seine grauen Augen in den meinen forschten. „Lydia, willst du mich heiraten?“
Ich fühlte das Blut in meine Wangen steigen und hörte mein Herz so laut pochen, dass ich sicher war, alle Leute im Raum könnten es hören. Auf diesen Augenblick war ich gefasst gewesen, und doch hatte ich keine Antwort bereit. Ich öffnete die Lippen, um ihm zu antworten, und fragte mich dabei selber, was ich ihm wohl entgegnen wollte.
„Ich danke dir, Søren“, hörte ich mich sagen. „Das ist das schönste Kompliment, das man mir je gemacht hat. Aber …“
„Was aber?“
„Søren, ich kann mich nicht gerade jetzt entschließen.“
„Gibt es einen anderen?“
„Nein, das ist es nicht. Ich kenne niemand, den ich so mag und respektiere wie dich.“
Ich rang um eine Erklärung, aber die Worte blieben mir aus. Søren lehnte sich über den Tisch nach vorne und begann wieder zu sprechen. Seine Worte überstürzten sich. Er malte ein Bild von unserer gemeinsamen Zukunft, von den Interessen und Hobbys, die wir teilen würden, sowie von der idealen Ergänzung unserer Karrieren. Endlich hielt er inne und wartete auf meine Antwort.
„Ich weiß, wie viel dir deine Karriere als Lehrer bedeutet, Søren“, fing ich an, „und deshalb fühle ich mich geschmeichelt, dass du deine Zukunft mit mir teilen willst. Doch ich fürchte, dass nicht alles so werden wird, wie du es beschreibst.“
„Warum nicht, Lydia?“
„Sieh, ich habe mich für die Zukunft noch nicht so festgelegt wie du, Søren. Bevor ich mich in dem Sinne entschließen kann, wie du es möchtest, gibt es etwas, was ich zuerst erledigt haben möchte.“
„Und das wäre?“
„Ich weiß, es muss sich töricht anhören …“ Ich suchte immer noch nach Worten. „Aber ich frage mich andauernd, ob zum Leben nicht mehr gehört als nur eine Karriere und eine Wohnung, eine schöne Einrichtung und zum Schluss noch eine gesicherte Pension. Ich weiß es nicht. Doch als mein Vater vor zwei Jahren starb, musste ich mich einfach fragen: Ist das wirklich das Ende – oder gibt es noch mehr als das?“
„Du meinst, in religiöser Hinsicht?“
„Vielleicht – obwohl mir das Wort Religion nicht gefällt.“
Armer Søren! Ich konnte sehen, dass er ebenso durcheinander war wie ich. Er nahm mehrmals einen schnellen Schluck aus seiner Kaffeetasse.
„Verzeih mir, dass ich dir eine solche törichte Antwort gegeben habe“, fuhr ich endlich fort. „Ich komme mir wie jemand vor, der versucht, den Weg zu einem bestimmten Ort zu beschreiben, den er selber nicht kennt.“
Wir saßen beide einen Moment schweigend da, während ich mich bemühte, eine Möglichkeit zu finden, um die Spannung zu mindern. Schließlich streckte ich meine Hand über den Tisch und nahm die seinige.
„Hättest du etwas dagegen, wenn wir jetzt zum Ball gehen? Und ich will versuchen, es dir später besser zu erklären.“
Als der Ball zu Ende war, begleitete Søren mich zurück zu meiner Wohnung, wo ich ihn noch zu einer letzten Tasse Kaffee einlud. Er war es, der zu unserm Gesprächsthema im Restaurant zurückkehrte.
„Lydia, wenn du wünschst, dass ich mit dir zur Kirche gehe“, sagte er, „dann bin ich bereit, das zu tun.“
„Nein, Søren“, erwiderte ich, „das würde ich nicht von dir verlangen. Ich bin mein ganzes Leben lang ein guter Lutheraner gewesen, aber das hat mir keine Antwort auf meine Fragen gegeben. Mein erstes Jahr hier in Korsør bin ich jeden Sonntag zur Kirche gegangen, aber jedes Mal kam ich heraus und fühlte mich verwirrter und frustrierter, als ich hineingegangen war. Schließlich habe ich es aufgegeben.“
„Ja, aber warum willst du denn nicht mal versuchen, in die Evangelische Mission unten beim Hafen zu gehen“, sagte Søren zu mir. „Ich bin sicher, unsere verehrte Bibliothekarin, Fräulein Sonderby, würde sich freuen, dich dorthin mitzunehmen.“
Für einen Moment stellte ich mir Kristine Sonderby vor, wie ich sie oft auf ihrem Wege zu dieser Gemeinde gesehen hatte. Ein formloser, schwarzer Filzhut überschattete eine graue Ponyfrisur und eine dicke, schwarz umrandete Brille. Aus der Seitentasche ihrer sperrigen schwarzen Lederhandtasche lugten eine Bibel und ein Gesangbuch hervor – beides in Schwarz gebunden, wie auch vom Hut bis hinunter zu ihren hochgeschnürten Schuhen das vorherrschende Motiv Schwarz war. Das „Heil“, wie Kristine Sonderby es nannte, musste gewiss eine melancholische Angelegenheit sein und sein Nutzen – worin auch immer er bestehen mochte – in irgendeinem zukünftigen Leben liegen. Nein, das war es nicht, wonach ich suchte!
Ein paar Minuten später verabschiedete sich Søren. Unter der Türe hielt er mich einen Moment in den Armen. Dann wandte er sich ab und ging ohne ein weiteres Wort die Treppe hinunter. Nachdem er gegangen war, versuchte ich, nicht mehr daran zu denken, was sich zwischen uns abgespielt hatte, doch der schwache Duft seiner Haare blieb wie eine Erinnerung in der Wohnung zurück. Wie real und warm hatte er sich angefühlt, als er mich in seinen Armen hielt! Im Vergleich dazu erschien mein Suchen nach dem unbekannten „Etwas“, das zu einer echten Lebenserfüllung noch gehören mochte, schattenhaft und verschwommen.
Gegen zehn Uhr am nächsten Morgen saß ich in einem Erste-Klasse-Abteil in dem Zuge, der nordwärts der Stadt Brønderslev entgegeneilte. Dort war ich geboren worden, und dort lebte auch meine Mutter noch. Ich hatte die Nacht nicht gut geschlafen und in meinem Kopfe hämmerte es.
Die Reise dauerte sechs Stunden. Das gab mir genug Zeit zum Nachdenken – mehr als mir lieb war. Immer wieder kehrten meine Gedanken zum Gespräch mit Søren am Vorabend zurück. Ich konnte mir mein eigenes Verhalten auch jetzt noch nicht erklären.
Eine innere Stimme tadelte mich: „Du hast deine Chance fürs Glück weggeworfen! Du hättest eine Ehe und ein Heim und Geborgenheit haben können. Jetzt hast du das alles verloren!“ Ich wandte meinen Blick zum Fenster hinaus in dem Versuch, meine Aufmerksamkeit auf die vorbeihuschende Landschaft zu konzentrieren, aber die Stimme fuhr fort: „Und was hast du an die Stelle der Ehe zu setzen? Nichts! Du wirst schließlich auch so eine typische Lehrerinnen-Jungfer werden wie Fräulein Sonderby!“
Immer und immer wieder ging ich in Gedanken das Gespräch mit Søren durch. Indem ich mich an jedes Wort erinnerte, das ich zu ihm gesagt hatte, quälte mich die vorwurfsvolle Stimme: „Warum hast du das gesagt? So hast du es eigentlich nicht gemeint. Du wusstest ja nicht einmal, was du sagtest.“
Nach einer Weile schien das rhythmische Rattern des Zuges die Frage wie einen Refrain aufzunehmen: Warum hast du das gesagt? Warum hast du das gesagt? Warum hast du das gesagt? Ich begann zu rauchen, fand aber auch nicht die Erleichterung, die ich brauchte. Ich stand auf und fing an, im Korridor des Zuges auf und ab zu gehen. Doch immer noch verfolgten mich die Räder unnachgiebig: Warum hast du das gesagt?
Nur mit großer Anstrengung gelang es mir, meine Gedanken von Søren wegzulenken und an die bevorstehende Familienbegegnung in Brønderslev zu denken. Mein Vater war ein erfolgreicher Bauunternehmer gewesen und hatte bei der Entwicklung der Stadt eine bedeutende Rolle gespielt. Als er vor zwei Jahren starb, zog meine Mutter in ein großes Haus um, das die Leute „die Burg“ nannten und das von meinem Vater im Zentrum der Stadt, unweit vom Bahnhof, gebaut worden war. Hier bewohnte meine Mutter ein komfortables Appartement in der zweiten Etage.
Es gehörte zur Familientradition, dass wir uns Weihnachten alle zu Hause versammelten. Meine älteste Schwester, Kezia, würde mit ihrem Mann Knud und vier Kindern von der Insel Fünen herbeireisen. Meine zweite Schwester, Ingrid, war mit einem Offizier der dänischen Armee verheiratet und wohnte auf einem großen Anwesen, achtzig Kilometer von Brønderslev entfernt. Sie hatten keine Kinder. Ich war das Nesthäkchen der Familie und die Einzige, die noch unverheiratet geblieben war.
Bei der Ankunft in Brønderslev machte ich unter den Leuten schnell eine große, schlanke Gestalt mit gestärkter weißer Haube aus, die mich auf dem Bahnsteig erwartete – Mutters Dienstmädchen Anna. „Willkommen zu Hause, Fräulein Lydia!“, sagte sie und nahm mir den Koffer ab. „Ihre Mutter hat schon die Stunden bis zu Ihrer Ankunft gezählt.“ Mit ihren langen Schritten führte mich Anna den Weg über den Hauptplatz zur „Burg“. Mutter erwartete mich in der Diele. „Willkommen daheim, mein kleines Mädchen!“, sagte sie und nahm mich in ihre Arme. Für sie war ich stets das kleine Mädchen geblieben, auch jetzt noch in meinen Dreißigerjahren.
Seit Vaters Tod hatte Mutter die traditionelle schwarze Witwenkleidung beibehalten, doch ihr langes, mit weißem Kragen und weißen Manschetten besetztes Seidenkleid war nicht ohne Eleganz. Ihr einst blondes Haar hatte eine aschfarbene Tönung angenommen, was ihr eine zusätzliche Würde verlieh.
Mutter und ich nahmen das Nachtessen alleine ein. Sie wollte immer gern von meiner Tätigkeit in der Schule hören und freute sich über jede Beförderung in meiner Laufbahn. Bald kamen auch meine Schwestern mit ihren Familien an. Wie gewöhnlich, lautete ihre erste Frage: „Hat dir immer noch niemand einen Heiratsantrag gemacht?“ Ich brachte es nicht fertig, ihnen von Søren zu erzählen.
Am folgenden Tag war Heiligabend, an dem sich in Dänemark ein wesentlicher Teil der Festlichkeiten abspielt. Am Nachmittag fand ein kürzerer Gottesdienst in der Kirche statt. Mutter war ein „guter Lutheraner“, und es gab zwei Anlässe jedes Jahr, zu denen sie zur Kirche ging: Heiligabend und Ostern.
Auf unserm Weg zum Gottesdienst begann Mutter mir von ihrem neuen Pfarrer zu erzählen. „Er ist ein so netter Mann“, sagte sie, „jeder hat ihn gern!“
„Damit willst du sagen, Mutter, dass er schön kurze Predigten hält!“
„Nun ja, das stimmt. Ich habe lange Predigten nie gemocht. Übrigens, er spielt Karten. Er kommt jeden Dienstag zu mir, und wir spielen eine Partie zusammen.“
An jenem Nachmittag machte der Pfarrer seinem Ruf alle Ehre. Die Predigt begann um 3 Uhr, und um 3.45 Uhr waren wir wieder draußen auf der Straße. Mit dem guten Gefühl, unserer Pflicht Genüge getan zu haben, begaben wir uns heimwärts. Dort erwartete uns die eigentliche Weihnachtsfeier – der Weihnachtsbaum, die Geschenke, eine Menge guter Sachen zu essen und zu trinken.
Gegen sechs Uhr traten wir alle an den langen Tisch im Esszimmer. Schon mit meinen frühesten Kindheitserinnerungen sind diese traditionellen Weihnachtsfestlichkeiten verwoben. Für einen kurzen Augenblick sah ich vor meinem geistigen Auge wieder meinen Vater, wie er oben am Tische zu sitzen pflegte, mit seiner im Kerzenlichte funkelnden, schweren, goldenen Uhrkette quer über seiner Weste. Jetzt nahm der ältere Schwiegersohn Knud seinen Platz ein.
Jede Phase unseres Festes wurde von einem feststehenden Protokoll bestimmt. Wenn alle ihren Platz eingenommen hatten, öffnete Anna – in der blauen „Uniform“, die sie für besondere Anlässe aufsparte – die in das Wohnzimmer führende Doppeltür. Dort in der Mitte am Boden stand der Weihnachtsbaum. Brennende Kerzen auf jedem Zweig warfen ihren Schein auf eine Fülle prachtvoll eingewickelter Geschenke, die sich unter dem Baum häuften. An den Zweigen hingen kleine Papierkörbe mit Kandiszucker, Schokolade und Marzipan. Die Kinder stießen verhaltene Bewunderungsrufe aus, während ihre Augen jede Einzelheit des Anblicks zu erforschen suchten.
Als Nächstes entzündete Anna die hohen, roten Kerzen in der Mitte des Tisches. Dann ging sie in die Küche zurück, wobei sie das elektrische Licht auslöschte. Während wir auf ihre Rückkehr warteten, ließ ich meine Augen über die ganze Länge des Tisches gleiten. Mit Ausnahme einer leeren Stelle bei Knud war beinahe jeder Zentimeter mit irgendwelchen Leckerbissen bedeckt. Neben den gewöhnlichen gekochten Kartoffeln gab es zwei Schüsseln mit „Karamell-Kartoffeln“, drei Saucenschüsseln, zwei große Schalen mit roter Götterspeise, zwei Schüsseln Rotkohl, eine kleine Reihe von Marzipanschweinchen und eine große Auswahl von Eingelegtem, wie Gurken und so weiter. In der Mitte thronte eine Silberschale, vollgehäuft mit Äpfeln, Orangen, Nüssen, hellen und dunklen Weintrauben. Nach einigen Minuten kehrte Anna mit einer großen, ovalen Servierplatte aus Königsporzellan zurück und stellte sie vor Knud hin. Darauf lag eine fantastische gebratene Gans, die Beine mit Papierfransen verziert, die Brust mit drei kleinen, rot-weißen dänischen Fähnchen. Während Knud die Gans zu zerlegen begann, entkorkte Ingrids Mann eine Flasche Burgunder.
Der Nachtisch bestand aus dem traditionellen „Reisporridge“, in dem irgendwo eine Mandel verborgen war. Wer sie in seiner Portion fand, bekam ein besonderes, auf der Spitze des Reisberges zur Schau gestelltes Geschenk. Jedermann durchforschte natürlich mit Eifer seinen Anteil, und schließlich war es Ingrid, die die begehrte Mandel bei sich entdeckte, begleitet von den enttäuschten Seufzern der Kinder.
Als die imposante Mahlzeit abgeschlossen war, gingen wir alle ins Wohnzimmer hinüber. Ingrids Mann setzte sich ans Klavier, und wir übrigen reichten uns die Hände und bildeten einen weiten Kreis um den Weihnachtsbaum. Dann begannen wir die traditionellen dänischen Weihnachtslieder zu singen und bewegten uns dazu im Reigen um den Baum herum, vor dem wir uns nach jeder Strophe verneigten.
Unter all den wohlvertrauten Liedern war eines, das in mir immer eine tiefere Saite anschlug als die übrigen:
Dir, meinem Heiland und Erlöser, alle Ehre!
Eine Dornenkrone hat dir die Welt bestimmt;
Aber, Herr, du siehst, ich möchte
Eine Rosenkrone um dein Kreuze winden –
Lass mich Mut und Gnade dazu finden!
Als wir diese Worte zu singen begannen, spürte ich plötzlich, wie sich meine Augen mit Tränen füllten. Schnell senkte ich den Kopf, um es die andern nicht merken zu lassen. Was war los mit mir? Für einen Augenblick sah ich mich ins Restaurant zurückversetzt, wie ich Søren gegenübersaß und mich bemühte, mein Suchen nach dem unbekannten Etwas für eine tiefere Lebenserfüllung zu erklären. Als ich wieder aufblickte, kamen mir die Menschen seltsam entfernt vor. Sie standen mir am nächsten und waren mir am liebsten, und doch schien ich irgendwie in die Rolle eines distanzierten Zuschauers versetzt zu sein, der in dem, was er beobachtete, keinen eigentlichen Sinn mehr erkennen konnte.
Sobald das Singen aufhörte, begannen alle Erwachsenen zu rauchen, die Männer ihre ausgewachsenen Zigarren, Mutter, meine Schwestern und ich unsere kleinen Zigarillos. Für eine Dame war es damals nicht schicklich, so etwas Unfeines wie bloß eine Zigarette zu rauchen!
Mit dem Auspacken der Geschenke gelangte der Abend zu einem Höhepunkt. Kezias ältester Sohn wurde die Aufgabe übertragen, die Geschenke unter dem Baum hervorzunehmen und die Namen darauf vorzulesen. Jedes Geschenk musste erst geöffnet und zur Besichtigung durch die Runde gereicht werden, ehe der nächste Name ausgerufen wurde. Und da es fünfzig oder sechzig Päckchen gab, wurde es fast Mitternacht, bis das letzte ausgepackt war. Die zwei jüngsten Kinder lagen inzwischen fest schlafend am Boden.
Am nächsten Nachmittag befand ich mich mit Mutter alleine im Wohnzimmer. Sie saß in ihrem Lieblingsstuhl – einem Schaukelstuhl – und strickte an einem Pullover für eines von Kezias Kindern.
„Verrate mir einmal, Lydia“, sagte sie, „wann wirst du dich verheiraten und eine Familie gründen?“ Der Schaukelstuhl blieb im Gleichtakt mit dem rhythmischen Klappern der Stricknadeln in ihrer Hand. „Du weißt, ich werde nicht jünger, und ich möchte dich gerne noch mit einem Mann verheiratet und mit einem eigenen Heim sehen.“
„Ich habe doch ein eigenes Heim, Mutter – und ein schönes dazu! Was das Heiraten betrifft, gibt es noch etwas, worüber ich mir erst Klarheit verschaffen möchte.“
„Und das wäre?“, forschte sie – so wie es Søren getan hatte.
„Ich bin nicht sicher. Aber es hat etwas zu tun mit – nun, mit Gott.“
Seltsam, wie es einem schwerfiel, dieses Wort auszusprechen! „Ich möchte selber herausfinden, ob Gott Wirklichkeit ist – ob es für das Leben einen anderen Sinn gibt als nur Karrieremachen und Geldverdienen.“
„Hm … du sprichst genauso wie dein Vater in den letzten ein, zwei Jahren!“, rief Mutter aus. „Er fing sogar an, irgendwelche Versammlungen in einem Bauernhaus außerhalb der Stadt zu besuchen.“
„Bei einem Bauern?“ Es war schwierig, sich Vater mit seinem Gehrock, seiner Weste und seiner nadelgestreiften Hose in der Stube eines Bauern sitzend vorzustellen.
„Tatsächlich. Durchaus nicht die Art von Leuten, an die er gewöhnt war. Ich habe ihnen schließlich einmal etwas Geld geschickt, weil ich nicht wollte, dass Vater dort hinging und ihren Kaffee umsonst trank!“
„Was hat Vater noch gesagt?“
„Nun, ich erinnere mich, wie er eines Tages meinte, dass man den Herzensfrieden nicht mit Geld kaufen kann … Das war einige Wochen vor seinem Herzanfall. Du weißt ja, wie plötzlich er starb.“
Im Nu war die Erinnerung wieder da – das Telegramm, die marternde Eisenbahnfahrt, das Zimmer mit dem aufgebahrten Leichnam Vaters. Ich dachte zurück an den ersten schweren Schock und wie seltsamerweise der Kummer allmählich einem Gefühl des Friedens wich, das so wirklich war, wie wenn jemand bei mir im Zimmer gewesen wäre. Ich erinnerte mich auch an Vaters Gesichtsausdruck, wie er dalag. Er drückte eine Ruhe aus, wie ich sie an ihm bei seinen Lebzeiten nie wahrgenommen hatte. Er musste in jenen letzten Wochen seines Lebens bestimmt etwas gefunden haben. Aber was?
„Was sollte es noch mehr im Leben geben, was du nicht schon hast, Lydia?“, unterbrach Mutters Stimme meine Erinnerungen. „Du hast eine gute Karriere gemacht, und ich weiß, dass alle in der Schule große Stücke auf dich halten. Ich bin sicher, dass dir nur eins fehlt: ein Heim und eigene Kinder.“
„Mag sein, Mutter, aber …“ Wie konnte ich nur diese innere Ruhelosigkeit beschreiben? Sie war einfach eine Tatsache, und doch besaß ich keine Erklärung dafür.
Schließlich stieß ich hervor: „Wenn es etwas Besonderes im Leben gäbe, was keine andere Frau tun würde – auch wenn es schwierig oder gefährlich wäre –, das ist es, was ich gerne tun wollte!“
Ich konnte in Mutters Gesicht den gleichen verblüfften Ausdruck erkennen, den ich vor einigen Tagen bei Søren gesehen hatte. Gerade bei denen, die ich am meisten liebte, schien ich mich am ungeschicktesten auszudrücken. War es nicht dumm von mir, etwas zu suchen, was ich nicht mit Worten erklären konnte – nicht einmal mir selbst?