Die Begegnung

Ich kam am Montag, am 3. Januar 1927, wieder in Korsør an. Der Schulunterricht würde erst in einer Woche aufgenommen werden. Ich ließ Valborg wissen, dass sie vor Samstag nicht zur Arbeit zu erscheinen brauchte. Die nächsten Tage wollte ich ganz alleine für mich verbringen.

Am nächsten Morgen begab ich mich auf einen langen Spaziergang am Großen Belt. Ein kalter, stürmischer Wind peitschte mir den Gischt ins Gesicht, aber ich wickelte mir den Schal enger um den Hals, neigte den Kopf vor und stemmte meinen Körper gegen den Wind. Gegen den Druck der Elemente anzugehen half mir, in meinem Inneren ein Gefühl von Entschlossenheit aufzubauen. Was immer es auch sein würde, dem ich gegenüberzutreten hätte – jetzt wollte ich mich von nichts mehr abhalten lassen, die Antwort auf mein Suchen zu finden. Als ich gegen Mittag nach Hause zurückkehrte, verspürte ich keine Lust zum Essen. Ich braute mir eine Tasse Kaffee und rauchte. Dann ging ich ins Wohnzimmer und überflog die Bücherreihen an der Wand. Ich las die Namen der Autoren: Kierkegaard, Oenslaeger, Ibsen, Shakespeare, Dickens, Tolstoi, Plato. Ich hatte sie gelesen, sie zitiert, über sie unterrichtet – aber sie hatten jetzt keine Antwort für mich. Ganz rechts auf dem obersten Brett sah ich ein einfaches, schwarz gebundenes Buch.

Am Lehrerseminar hatte die Bibel zum obligatorischen Kurs über Religion und Kirchengeschichte gehört. Ich hatte nur gerade so viel darin gelesen, um das Examen bestehen zu können, aber weiter als das war meine Lektüre in diesem Buche nicht gegangen. Könnte die Bibel vielleicht etwas enthalten, was ich bei meinem eifrigen Lesen in den andern Büchern nicht gefunden hatte? Einen Moment lang zögerte ich, dann langte ich hinauf und holte sie herunter.

Da saß ich an meinem Lieblingsplatz, hielt die Bibel einige Augenblicke ungeöffnet in den Händen und fragte mich, wo ich beginnen sollte. Am vernünftigsten schien mir, mit dem Neuen Testament anzufangen. Ich fand das erste Kapitel vom Matthäusevangelium, überflog den Stammbaum Christi und las dann den Bericht über seine Geburt und Kindheit. Die Schlichtheit der Matthäus-Schilderung hob sich in scharfem Kontrast von der Weihnachtsfestlichkeit ab, an der ich gerade teilgenommen hatte.

Ich las die Beschreibung der Taufe und der Versuchung Jesu und die ersten Vorkommnisse seines öffentlichen Wirkens. Gewiss, hier war eine ethische Schönheit, die von keinem andern Buch, das ich gelesen hatte, übertroffen wurde, aber ich sah nicht, wie mir das in meiner gegenwärtigen Situation helfen konnte. Als ich zur Bergpredigt – mit ihrer Seligpreisung am Anfang – kam, verlangsamte ich das Lesen, hielt bei jeder Seligpreisung inne und fragte mich, ob sie auf mich anwendbar sei. Bei der vierten Seligpreisung stockte mir der Atem: „Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden“ (Matthäus 5,6). Hunger und Durst … Sollte das etwa das gleiche Verlangen sein, das ich in mir verspürte – das Verlangen nach etwas, was ich nicht mit Worten ausdrücken konnte? Durfte ich es wagen, diese Worte auf mich zu beziehen?

Bei Vers 10 verweilte ich wiederum: „Selig sind, die um Gerechtigkeit willen verfolgt werden …“ Darin konnte ich keinen Sinn erkennen. Warum sollte jemand wegen seines Trachtens nach Gerechtigkeit verfolgt werden?

Und wie ich so fortfuhr, langsam die Kapitel 5 und 6 durchzulesen, glich ich einem, der sich müht, seinen Weg durch einen dichten Wald zu finden. Vor lauter ineinander verflochtenen Zweigen war der Weg kaum zu erkennen; aber ein hier und dort durchbrechender Sonnenstrahl verlieh mir vorübergehend Mut. Bei Kapitel 7 angelangt, schien es mir, ich sei auf eine Lichtung gestoßen, wo die vollen Sonnenstrahlen ungehindert auf mich herabströmten: „Bittet, so wird euch gegeben; suchet, so werdet ihr finden; klopfet an, so wird euch aufgetan. Denn wer da bittet, der empfängt …“ (Matthäus 7,7f.).

Bittet … suchet … klopfet an … Das konnte ich sicher auch tun. Ich las weiter, und wieder schien das Licht hell und klar: „Gehet ein durch die enge Pforte … und die Pforte ist eng, und der Weg ist schmal, der zum Leben führt, und wenige sind ihrer, die ihn finden“ (Matthäus 7,13–14).

Irgendwo vor mir auf dem Wege, den ich verfolgte, gab es eine Pforte. Und jenseits von ihr gab es einen Weg, der zum Frieden und zur Erfüllung führt. Ehe ich den Weg gegen konnte, musste ich erst die Pforte finden und durchschreiten!

Ich warf einen Blick auf die Uhr an der Wand über dem Flügel. Es war schon fast vier Uhr nachmittags! Mehr als drei Stunden waren verstrichen, seit ich zu lesen angefangen hatte. Draußen kündigte sich bereits die Dunkelheit an. Ich machte Licht und zog die schweren Brokatvorhänge zu. Ich wollte mich mit meinen Gedanken einschließen. Ich begann im Zimmer auf und ab zu gehen, während ich über die Worte nachdachte, die ich gelesen hatte. Bittet … suchet … klopfet an … Gesucht hatte ich ganz bestimmt, viele Monate lang. Aber hatte ich gebeten? Wen sollte ich bitten? Sprach Christus hier vom Gebet?

In meiner Kindheit war ich angehalten worden, jeden Abend vorm Einschlafen das Vaterunser zu beten. Im Alter von zwölf Jahren war eine monotone Routine daraus geworden. Ich erinnere mich, wie ich eines Abends das Vaterunser tatsächlich zehnmal hintereinander gebetet hatte, um für die nächsten neun Abende von der Last des Gebets befreit zu sein. Daneben hatte ich an den üblichen liturgischen Gebeten teilgenommen, als ich noch zur Kirche gegangen war. Doch die Vorstellung, persönlich und direkt zu Gott zu beten, Worte auszusprechen, die nicht im Gebetsbuch standen, das war mir völlig unbekannt und erschreckte mich. Aber ich kam einfach nicht von Christi Worten los: „Bittet, so wird euch gegeben …“ Wenn Christus mich bitten hieß, dann konnte ich sicher nichts empfangen, ohne vorher darum gebetet zu haben.

Ich stand vor dem Sessel, in dem ich vorher gesessen hatte, stille. Sollte ich knien? Einen Augenblick widerstrebte ich. Doch dann kniete ich mich auf den Boden nieder und neigte mich über den Sitz, die Ellbogen auf das weiche Polster gestützt. Im Stillen begann ich: „O Gott …“ Aber irgendwie schien das nicht das Richtige zu sein.

Musste man laut beten? Der Gedanke daran, meine eigene Stimme zu hören, wollte mir Angst machen. „O Gott …“ Jetzt hatte ich es laut gesagt. Der Klang einer Stimme im leeren Raum tat fast weh. Wieder sagte ich: „O Gott …“ Dann ein drittes Mal: „O Gott … ich verstehe nicht … ich verstehe nicht …, wer Gott ist, wer Jesus ist, wer der Heilige Geist ist … Aber wenn du mir Jesus als eine lebendige Realität zeigst, dann will ich ihm nachfolgen!“

Und jetzt und hier, in diesem vertrauten Zimmer, mit dem Ticken der Uhr in meinen Ohren, geschah etwas, auf das ich bei all meiner Herkunft und Erziehung vollkommen unvorbereitet war. Mein Verstand weigerte sich einfach anzuerkennen, was meine Augen sahen. Ich schaute nicht mehr länger auf die Sessellehne. An ihrer Stelle stand eine Gestalt über mir. Ein langes, weißes Gewand bedeckte ihre Füße. Langsam hob ich meine Augen nach oben. Über meinem Haupte sah ich zwei wie zum Segnen ausgestreckte Arme. Ich blickte noch weiter nach oben, und nun sah ich das Gesicht dessen, der vor mir stand. Mein ganzer Körper begann zu zittern. Unwillkürlich formte ich mit den Lippen ein Wort: „Jesus!“ Doch indem ich es aussprach, war sie verschwunden. Ich fand mich wieder auf den Sessel blickend. Auf dem grünen Samtsitz konnte ich die zwei Vertiefungen sehen, die die Ellbogen gebildet hatten. Hatte da wirklich vor ein paar Augenblicken eine Person direkt vor mir gestanden? Oder war ich das Opfer irgendeiner flüchtigen, unglaubwürdigen Halluzination geworden?

Ich hob den Kopf und schaute langsam im Zimmer umher. Äußerlich hatte sich nichts verändert. Doch es war etwas im Raume, was vor einer Minute noch nicht da gewesen war. Ich musste an den Augenblick denken, als ich in das Zimmer gekommen war, in dem Vaters Leichnam gelegen hatte. Dieselbe Gegenwart, die ich damals empfunden hatte, umgab mich jetzt in meinem Zimmer. Es war geradezu davon erfüllt. Und sie war nicht nur um mich umher, in mir war ein tiefer, ungetrübter, überströmender Friede. Die Erkenntnis überflutete mich förmlich: Gott hatte tatsächlich mein Gebet erhört! Er hatte genau das getan, worum ich gebetet hatte. Er hatte mir Jesus gezeigt. Ich hatte sein Gewand gesehen und seine ausgestreckten Hände. Für einen unbeschreiblichen Augenblick lang hatte ich in sein Angesicht geschaut. Ich begann diese eine Tatsache zu erfassen: Christus lebt – eine herrliche, wunderbare Tatsache! Die ganze Summe menschlichen Wissens verblasst zur Unbedeutsamkeit gegenüber dieser einen Tatsache.

Plötzlich war das Beten keine Anstrengung mehr. Ich konnte die Dankworte nicht mehr zurückhalten. „Oh, ich danke dir!“, rief ich. „Ich danke dir!“

Wie Wogen flutete der Friede durch mein Inneres. Es schien nicht genug Raum für ihn da zu sein. Ich stand auf und begann auf und ab zu gehen. Alle paar Minuten wurde ich aufs Neue von dem überwältigt, was geschehen war. „Ich danke dir!“, rief ich immer wieder aus.

Ich setzte mich an den Flügel, auf der Suche nach einer Möglichkeit, meinen Gefühlen Ausdruck zu geben. Mir kam das Lied in den Sinn, das mir zu Weihnachten Tränen in die Augen gelockt hatte. Ich schlug die Melodie auf den Tasten an. Dann fing ich an, laut die Worte zu meiner eigenen Begleitung zu singen:

Dir, meinem Heiland und Erlöser, alle Ehre!
Eine Dornenkrone hat dir die Welt bestimmt;
Aber, Herr, du siehst, ich möchte
Eine Rosenkrone um dein Kreuze winden –
Lass mich Mut und Gnade dazu finden!

Immer wieder sang ich diese Worte. Mit jedem Mal wurde meine Stimme klarer und kräftiger. Ein Strom von Frieden floss über meine Lippen mit den Worten, die ich sang.

Ich vergaß die Zeit. Abwechselnd kniete ich betend am Sessel und saß am Flügel und sang. Als ich gelegentlich auf die Uhr blickte, zeigte sie zehn. Sechs Stunden schienen mir wie sechs Minuten vergangen zu sein.

Schließlich machte ich mich für die Nacht fertig und ging ins Bett. In der Dunkelheit lag ich da, immer noch meine Dankesworte wiederholend: „O Gott, ich danke dir! Ich danke dir!“ Gegen Mitternacht fiel ich sanft in einen traumlosen Schlaf. Früh am nächsten Morgen wickelte ich mich warm ein und unternahm einen weiteren langen Spaziergang am Großen Belt. „Wie seltsam!“, sagte ich zu mir selbst. „Alles sieht so frisch und sauber aus … warum habe ich das gestern nicht bemerkt?“ Über Nacht waren all die vertrauten Gegenstände viel schöner geworden. Die weißen Schaumkappen, hie und da vom Sonnenlicht wie mit einem Scheinwerfer angeblitzt; die über mir kreisenden Möwen mit ihrem schrillen Kreischen; die sich im frischen Winde wiegenden, zähen Grashalme auf den Dünen – sie alle legten Zeugnis ab von der Größe ihres Schöpfers.

Zurück in meiner Wohnung, fuhr ich mit dem Lesen des Matthäusevangeliums fort, wo ich am Abend zuvor aufgehört hatte. Der Unterschied war sogar noch aufregender als am Großen Belt. Jetzt glich es nicht mehr dem mühsamen Aufspüren des Weges im Dickicht eines Waldes. Ich war ins volle, helle Sonnenlicht getreten. Ich fühlte mich wie ein tatsächlich Beteiligter in all den Szenen, die sich beim Lesen vor mir auftaten. In ihnen allen war die Person Jesu selbst der Mittelpunkt – nicht bloß eine geschichtliche Gestalt, sondern eine lebendige, gegenwärtige Realität.

Zum Mittag bereitete ich mir einen kleinen Imbiss, schob dann das Geschirr auf die Seite und legte die offene Bibel vor mir auf den Tisch hin. Daneben stellte ich meine Tasse Kaffee und begann zu rauchen. Nach einer Weile wurde mir bewusst, wie der Rauch über die offenen Seiten der Bibel hinwegschwebte. Ist es richtig, so fragte ich mich, dass der Rauch wie eine Wolke zwischen mir und der Bibel liegt? Er kam mir wie ein Schleier vor, der meinen Blick auf Jesus verdunkeln wollte.

Ich begann mir über die Rolle, die das Rauchen in meinem Leben gespielt hatte, Gedanken zu machen. Seit dem Seminar rauchte ich regelmäßig. Jeden Morgen weckte mich Valborg mit einer Tasse Kaffee und einem Zigarillo. Jede Mahlzeit wurde mit der gleichen Kombination abgerundet. Wenn ich innerlich unter Druck geriet oder mit Schwierigkeiten zu tun hatte, reagierte ich stets in der gleichen Weise – ich griff nach einem Zigarillo. Hatte Valborg einmal vergessen, meinen Vorrat zu ergänzen, ließ ich sie ihre Arbeit, egal welche, unterbrechen und im Laden ein Päckchen holen, nicht ohne sie wegen ihrer Unaufmerksamkeit zu tadeln.

Ich blickte auf das Zigarillo nieder, das glimmend vor mir im Aschenbecher lag. War es meine Einbildung? Oder wohnte ihm eine böse Macht inne, die mich gefangen halten wollte? Wie ein Vogel, fasziniert von den Augen einer Schlange, fühlte ich mich. Eines wusste ich sicher: Mit keiner noch so großen Willensanstrengung würde es mir gelingen, der Anziehungskraft dieses Zigarillos zu widerstehen.

Fast von selber formten meine Lippen ein Gebet: „Gott, du weißt, von mir aus kann ich das Ding da nicht aufgeben. Aber wenn du es mir wegnehmen willst, bin ich dazu bereit.“

Irgendwo unter dem Zwerchfell hatte ich das Gefühl einer Befreiung – wie wenn ein Knoten aufgelöst wird. Es äußerte sich in einem langen, tiefen Seufzer, der über meine Lippen kam. Einige Minuten lang saß ich wie erschlafft da, mein Körper schien von aller Kraft entleert zu sein. Dann nahm ich das immer noch glimmende Zigarillo und drückte es in den Aschenbecher, bis es zerbrach und unter meinen Fingern zerbröckelte. Als meine Beine ihre Kraft wiedergewonnen hatten, trug ich den Aschenbecher in die Küche und leerte den Inhalt in den Mülleimer. Auf dem Küchenschrank entdeckte ich ein noch nicht angebrochenes Päckchen Zigarillos und ließ es ebenfalls im Mülleimer landen. Als Nächstes ging ich ins Schlafzimmer, holte ein weiteres Päckchen aus meiner Handtasche und entledigte mich seiner auf die gleiche Weise. Endlich kehrte ich ins Esszimmer zurück und nahm mein Bibelstudium wieder auf. Erst am Ende des Tages ging mir auf, dass ein Wunder geschehen war. Zehn Stunden waren verstrichen, ohne dass ich ein einziges Mal nach einem Zigarillo greifen wollte. Ich hatte nicht einmal daran gedacht. Mir war jedes Verlangen danach genommen. Ich konnte es ohne tun.

Die folgenden beiden Tage brauste ein heftiger Wintersturm über Korsør hinweg. Aber das Toben der Elemente draußen verstärkte nur den Frieden, der meine Wohnung erfüllte. Die meiste Zeit verbrachte ich mit Bibellesen. Freitagabend war ich bis zum Johannesevangelium gekommen. Die ersten Worte von Kapitel 1 fesselten meine Aufmerksamkeit so sehr, wie es bisher noch keine anderen Worte getan hatten. Ich las sie immer wieder: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort …

In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen …

Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater …“

In ihrem Zusammenblenden von Erhabenheit und Schlichtheit übertrafen diese Verse alle je von mir studierte Literatur.

Wenn ich vom Lesen müde war, setzte ich mich an den Flügel, spielte und sang Lieder, die ich als Mädchen in der Kirche gelernt hatte. Worte und Melodien, die ich seit Jahren nicht mehr vernommen hatte, kehrten ungesucht in mein Gedächtnis zurück.

Von Zeit zu Zeit wollte mich die Merkwürdigkeit von dem allem überwältigen, und ich fragte mich: „Bilde ich mir dies alles nur ein oder erlebe ich es tatsächlich?“ Jedes Mal beantwortete ich meine eigenen Fragen mit zwei Tatsachen, die so unbestreitbar waren, dass ich sie nicht leugnen konnte. Die erste war der bleibende Friede, der mich durchdrang und die ganze Wohnung. Die zweite war meine buchstäblich wunderbare Befreiung vom Rauchen. Ich wusste ohne den geringsten Zweifel, dass ich das mit keiner Willensanstrengung oder Vorstellungskraft hätte erreichen können.

Am Samstag brachte mir Valborg meinen Morgenkaffee ans Bett.

„Guten Morgen, Fräulein Lydia“, sagte sie. „Hier ist Ihr Kaffee. Ich habe überall Ihre Zigarillos gesucht, aber keine gefunden.“

„Ich habe sie weggeworfen“, entgegnete ich, „ich habe mit Rauchen aufgehört.“

„Sie haben aufgehört zu rauchen? Aber warum denn? Sind Sie krank gewesen?“

„Ich habe mich nie in meinem ganzen Leben besser gefühlt! Aber … nun, ich brauche meine Zigarillos einfach nicht mehr. Sehen Sie – etwas ist mit mir geschehen …“

Zögernd, nach den richtigen Worten tastend, versuchte ich all das zu beschreiben, was in den letzten vier Tagen geschehen war.

Als ich zu Ende war, stand Valborg einige Momente ohne ein Wort da. Dann sagte sie: „Ich hätte nie gedacht, dass Menschen heute noch so etwas erleben können. Und doch weiß ich, dass es Wirklichkeit sein muss.“ Jetzt war sie es, die in Verlegenheit geriet. „Wissen Sie – sobald ich die Wohnungstür heute Morgen öffnete, wusste ich, dass irgendetwas anders ist. Da ist etwas hier, was ich nie zuvor bemerkt habe …“

„Es ist nicht ‚etwas‘, Valborg, es ist ‚jemand‘. Es ist Jesus! Er lebt tatsächlich, er ist da – jetzt und hier!“

Die ersten Tage des neuen Schuljahres gingen ereignislos vorüber. Ich sah Søren jeden Tag, wenn sich die Lehrer im Lehrerzimmer zur vormittäglichen Kaffeepause versammelten, aber wir tauschten keine Scherze mehr aus. Dann, an einem Freitagnachmittag während einer Freistunde, hielt ich mich in der Lehrerbibliothek auf und las in einer Zeitschrift, als ich hinter mir Sørens Stimme vernahm. „Störe ich die Suche nach Wahrheit? Oder darf ich mich setzen und mit dir reden?“

„Um die Wahrheit zu sagen“, antwortete ich, „ich wollte dir sowieso etwas mitteilen.“

„Das hört sich spannend an!“ Søren nahm mir gegenüber Platz. Mein Herz begann schneller zu schlagen. Ich wusste, dass es schwerer sein würde, es ihm zu erklären als Valborg. „Zunächst, Søren, möchte ich mich dafür entschuldigen, dass ich dir an jenem Tanzabend eine so dumme Antwort gegeben habe. Ich fürchte, du hast angenommen, dass ich gar nicht richtig schätze, was du mir sagtest.“

„Du brauchst dich nicht zu entschuldigen, Lydia. Wenn diese andere Frage für dich von solcher Bedeutung ist, dann bist du es dir selber schuldig, die Antwort darauf zu suchen.“

„Was ich dir gerne sagen wollte, ist, dass ich – nun, ich glaube, dass ich dabei bin, die Wahrheit zu finden.“

„Was bist du? Und auf welche Weise?“

Ich sah Sørens grüne Augen mich prüfend anblicken. „Vier Tage lang in der letzten Woche war ich alleine in meiner Wohnung, las die Bibel – und betete. Und Gott hat meine Gebete erhört, Søren! Er zeigte mir, dass Jesus lebt.“

„Das verstehe ich nicht.“

„Jesus stand gerade vor mir, Søren! Ich sah ihn, wie er seine Hände über mir ausgestreckt hatte. Es dauerte nur einen Augenblick, aber es hat alles verändert.“

Søren starrte mich eine Weile wortlos an. Schließlich brach er das Schweigen. „Lydia, wir sind beide keine Kinder mehr, und wir kennen uns lange genug, um offen miteinander reden zu können. Ich kann sehen, dass etwas mit dir geschehen ist, aber ich bin nicht sicher, ob es dir geholfen hat. Meinst du nicht auch, dass es gefährlich ist, zu subjektiv zu sein?“

„Aber das war doch nicht subjektiv, Søren! Ich habe mir das bestimmt nicht eingebildet – ich habe Jesus tatsächlich vor mir gesehen.“

„Lydia, ich will damit nicht abstreiten, dass du das jetzt so empfindest, doch ich meine, du solltest die Dinge in ihrer richtigen Perspektive sehen. Du hast selber zugegeben, dass du dich mehr oder weniger eingeschlossen und lange in der Bibel gelesen hast. Ich bin sicher, dass ein Psychologe auf sehr einleuchtende Weise all das erklären könnte, was du erlebt hast – ohne diese starken emotionellen Obertöne.“

Sørens Antwort traf mich vollständig unvorbereitet. Seine Worte waren wie kräftige Windstöße, die die kleine in mir entzündete Glaubenskerze auszulöschen drohten.

„Aber, Søren, du verstehst nicht! Wenn ich dir nur erklären könnte, wie wunderbar es ist, nach all diesen Monaten des Kampfes und des Suchens jetzt wirklichen Frieden zu haben!“

„Genau das ist es ja, Lydia! Du verlässt dich auf deine Gefühle. Aber Gefühle können sich ändern. Nach ein paar Wochen wirst du die Dinge wieder ganz anders sehen.“

Es bedeutete für mich eine Erleichterung, als die Glocke ertönte und wir uns trennen mussten. Als ich an jenem Abend auf meinem Fahrrad nach Hause fuhr, befanden sich meine Gedanken in Aufruhr. Ich hatte mit Eifer den Augenblick erwartet, wo ich Søren von meinem neu gefundenen Glauben erzählen konnte, hatte jedoch nur einen vollständigen Misserfolg geerntet. Anstatt mir zu glauben, hatte Søren mich beinahe dahin gebracht, meine eigene Erfahrung anzuzweifeln. Ganz offensichtlich brauchte ich mehr Weisheit und Kraft, als ich mein eigen nennen konnte, wenn ich mein kleines Kerzenlicht bewahren wollte.

Als ich mein Fahrrad abstellte, bemerkte ich, dass sich in den Speichen des Hinterrades ein kleines Stück bedrucktes Papier verfangen hatte. Ich zog es heraus mit der Absicht, es in den Mülleimer zu werfen, doch im Lampenschein des Torweges sah ich, dass die Worte in Englisch waren, und das erweckte meine Neugier.

Was ich in der Hand hielt, war ursprünglich ein vierseitiges Traktat gewesen, von dem nun aber die erste Seite mit dem Anfang des Textes fehlte. Der am Schluss angegebene Name des Verfassers lautete Aimee Semple McPherson. So viel wurde mir klar, dass im Traktat etwas über die Macht des Gebetes geschrieben stand. Die Verfasserin schilderte darin, wie sie zu Gott um – wie sie es bezeichnete – den „Geist des Gebetes“ gebetet hatte und welche Resultate sich dann in ihrem Leben zeigten. Ich wurde von der Botschaft auf dem unversehrten Teil der Schrift so ergriffen, dass ich sie an Ort und Stelle ganz durchlas, alles um mich vergessend. Endlich bemerkte ich Valborg an meiner Seite, die darauf wartete, mir aus dem Mantel zu helfen.

Als das Nachtessen vorüber war und Valborg mir gute Nacht gewünscht hatte, nahm ich das Traktat wieder zur Hand. Es enthielt etwas, was mir nicht aus dem Sinn wollte. Die Autorin schilderte, wie sie einmal vierzig Stunden ununterbrochen im Gebet verbracht hatte. Zunächst wollte ich das als absurd abtun. Und doch – wenn so etwas möglich ist, dann musste es eine Gebetsdimension geben, von der ich mir bisher nicht hatte träumen lassen, geschweige denn sie selber kennengelernt zu haben. Was war denn dieser „Geist des Gebets“?

Schließlich warf ich mich vor dem grünen samtbezogenen Sessel, der mein bevorzugter Gebetsplatz geworden war, auf die Knie. „Herr, ich brauche dieselbe Kraft, die jene Frau hat“, sagte ich. „Ich bitte dich, gib mir den Geist des Gebetes, den du ihr gegeben hast.“ Ich hatte eine sofortige, augenfällige Antwort erwartet, aber nichts geschah. „Das kommt davon“, schalt ich mich selbst, „wenn du um etwas bittest, was du nicht verstehst!“

Einige Tage später jedoch merkte ich, dass meine Lebensweise sich zu ändern begann. Ich wurde hungrig nach Gebet, wie man nach Brot hungrig wird. Früher hatte ich oft mit andern eine Partie Karten gespielt. Jetzt entschuldigte ich mich bei ihnen und ließ mir jeden Tag nur eines wichtig sein: so viel wie möglich ununterbrochen zu beten. Ich wies Valborg an, abends nur die einfachsten Mahlzeiten zu bereiten, und konnte es kaum erwarten, bis sie ihre Arbeit getan und sich verabschiedet hatte. Sobald ich für mich allein war, suchte ich meinen grünen Gebetssessel auf. Fast jedes Mal, wenn ich zu beten anfing, war da etwas, was mich ablenken wollte – ein im Hofe bellender Hund, ein Nachbarskind am Klavier beim Tonleiterspielen oder sogar das Ticken meiner eigenen Wanduhr. Als Hindernis empfand ich auch, dass ich meiner selbst zu sehr bewusst war. Worte nur im Stillen auszusprechen, schien mir ungenügend zu sein. Doch betete ich hörbar, kam mir meine eigene Stimme fremd vor. Manchmal fragte ich mich, ob meine Worte auch ehrfürchtig genug waren. Dann wieder klangen sie, wie ich meinte, so kühl und „kirchlich“.

Um diese doppelte Barriere – die Ablenkungen von außen und mein Eigenbewusstsein – zu durchbrechen, brauchte ich zwischen fünf Minuten bis zu einer halben Stunde. Doch wenn ich erst einmal „hindurch“ war, sprudelte es wie eine Quelle in mir. Das Gebet floss nur so aus meinem Innersten – tiefer als mein Bewusstsein – heraus.

In den meisten Fällen schienen sich die Gebete jeweils auf ein besonderes Thema zu konzentrieren, ohne dass ich dieses bewusst gewählt hätte: meine Familie, meine Kollegen und Kolleginnen oder meine Schüler zum Beispiel. Eines Abends nannte ich jedes Mädchen meiner Hauswirtschaftsklasse einzeln beim Namen und sah sie in Gedanken vor mir. Meine Gebete beschränkten sich jedoch nicht auf mir bekannte Personen. Es kam vor, dass ich betete für Menschen in fernen Ländern, die mir nur vom Atlas her bekannt waren.

Wollte es mir nicht gelingen, mich vollständig zu konzentrieren, so schlug ich die Psalmen auf und las mit lauter Stimme darin. Die Gebete von David schienen mir besonders ermutigend. Psalm 42 gab den Durst meiner Seele wieder, der mir so lange unbewusst geblieben war: „Wie der Hirsch schreit nach frischem Wasser, so schreit meine Seele, Gott, zu dir“ (Vers 1). Psalm 51 wurde zum Schrei für meine eigene inwendige Unreinheit: „Entsündige mich mit Ysop, dass ich rein werde; wasche mich, dass ich schneeweiß werde“ (Vers 9).

Aber es gab eine Stelle, zu der ich immer wieder zurückkam: „Herr, zeige mir deine Wege und lehre mich deine Steige! Leite mich in deiner Wahrheit und lehre mich! Denn du bist der Gott, der mir hilft, täglich harre ich dein“ (Psalm 25,4–5).

Zwei Wochen zuvor hatte ich von der „engen Pforte“ gelesen. Dann hatte Jesus selbst die Pforte geöffnet und mich hindurchgeführt. Dahinter lag der „schmale Weg“ – ein besonderer Lebensweg, den ich nun zu gehen hatte. Wie David brauchte ich Gottes Hilfe, um ihn zu finden.

In der zweiten Januarhälfte verbrachte ich beinahe jeden Abend auf diese Weise im Gebet. Es war an einem Donnerstag, Anfang Februar, als ich wieder um das Stillewerden im Gebet rang und es unerwartet an der Türe klopfte. Schnell strich ich die Ellbogeneindrücke auf dem Sessel aus und ging an die Tür. Mein Besucher war eine meiner Kolleginnen mit Namen Erna Storm. Erna benutzte immer, wo sie auch hinging, ein lärmendes, rotes Motorfahrrad. Aus diesem Grunde hatten ihr die Schüler den Spitznamen „Der rote Sturm“ (Storm = Sturm) gegeben.

„Ich bin gekommen, um dich zu fragen, ob du morgen Mittag meine Aufsicht im Speisesaal übernehmen würdest“, erklärte Erna, im grünen Sessel Platz nehmend. „Ich muss mit der kleinen Elsa Larsen zum Arzt. Sie schielt stark, aber ihre Eltern wollen ihr keine Brille anpassen lassen.“

„Warum denn nicht?“, wollte ich wissen.

„Sie gehören anscheinend irgendeiner religiösen Sekte an, wo sie glauben, dass Gott durch Gebet heilt, und so warten sie darauf, dass Gott Elsas Augen normal macht. Unterdessen kann das arme Kind nicht einmal lesen, was an der Wandtafel geschrieben steht.“

„So etwas ist mir noch nie zu Ohren gekommen!“, rief ich aus.

„Das ist längst noch nicht alles. Sie glauben an Feuerzungen und Visionen und Ähnliches. ‚Pfingstler‘ nennen sie sich. Herr Hansen, der Schulhausverwalter, hat eine Nichte, die zu einer ihrer Versammlungen ging und sagte, sie wälzten sich dort am Boden und bellten wie Hunde!“

„Mitten hier in Korsør?“

„Natürlich! Doch das ist nicht einmal das Schlimmste! Im Sommer nehmen sie die Leute – sogar gute Kirchenmitglieder – hinaus an den Großen Belt und stoßen sie unter Wasser. Taufen nennen sie das – als ob sie nicht alle als Kinder in einer anständigen Kirche getauft wurden!“

Erna lehnte sich in ihrem Sessel zurück und blickte im Zimmer umher. „Man bekommt dich in letzter Zeit nicht viel zu sehen“, sagte sie, „mit Ausnahme während der Schule. Was fängst du eigentlich an den Abenden mit dir selber an?“

Auf diese Frage Ernas war ich nicht gefasst. „Oh, ich lese viel in der Bibel“, antwortete ich, „und – bete auch.“

„Die Bibel lesen und beten?“ Erna sah mich erstaunt an. „Nimm meinen guten Rat an und übertreibe es nicht! Dir wird es sonst noch so gehen wie Fräulein Sonderby – und eine von ihrer Sorte in unserer Lehrerschaft genügt!“

Nachdem Erna sich verabschiedet hatte, wartete ich, bis ich hörte, wie sie ihr Vehikel startete. Dann begab ich mich wieder ins Wohnzimmer und ging einmal mehr auf die Knie. Doch es fiel mir anfänglich schwerer denn je zu beten. Ich vernahm immer noch Ernas warnende Worte: „Nimm meinen Rat an und übertreibe es nicht!“