Die erste Aufgabe

Es war der Freitag nach Weihnachten, ein grauer, kalter Tag. Ich hatte gerade zu Mittag gegessen, als ich Schritte die Hoftreppe herunterkommen hörte. Ich warf einen Blick durchs Fenster, gerade rechtzeitig genug, um noch ein Paar hosenbekleideter Beine zu sehen. Im nächsten Augenblick klopfte es. Als ich auftat, sah ich mich einem mittelgroßen, etwa dreißigjährigen Manne mit einem Bart gegenüber. Er trug einen abgetragenen europäischen Anzug, und auf seinem Hinterkopf saß ein Käppchen, die traditionelle jüdische Kopfbedeckung.

„Guten Tag“, sagte er, „sind Sie Fräulein Christensen?“

Zu überrascht, um sprechen zu können, nickte ich mit dem Kopf. Woher wusste er, wie ich hieß?

„Mein Name ist Cohen“, fuhr er fort, „Elieser Cohen. Meine Frau und ich haben ein Baby, das im Sterben liegt. Ich bin gekommen, um Sie zu fragen, ob Sie es nicht zu sich nehmen könnten.“ Sein Englisch war schwerfällig.

„Ein sterbendes Baby?“, wunderte ich mich. „Aber – aber ich verstehe doch nichts von Babys! Woher wissen Sie eigentlich, dass ich hier bin?“

„Meine Frau und ich, wir glauben an Gott. Wir beteten: ‚Gott, zeige uns, was wir tun sollen!‘“ Der Mann legte seine Hände wie zum Gebet zusammen und schaute nach oben. „Heute Morgen traf meine Frau am Jaffator eine Blinde, die ihr sagte, eine sehr freundliche Dame sei von Dänemark nach Jerusalem gekommen und lebe im Erdgeschoss dieses Hauses. Sind Sie diese Dame?“

Nijmeh! Wie war sie nur auf die Idee gekommen, diesen Leuten meinen Namen anzugeben? Laut sagte ich zu dem Manne: „Es stimmt, ich komme aus Dänemark, aber ich bin weder Krankenschwester noch etwas Ähnliches.“

„Was wollen Sie hier tun? Sind Sie gekommen, um uns zu helfen?“ In der Stimme des Mannes klang ein unüberhörbarer Ton der Verzweiflung mit. Es war dieselbe Frage, die ich mir schon Hunderte von Malen gestellt hatte: Wofür bin ich hierhergekommen? Aber bestimmt wollte Gott nicht von mir, dass ich einen sterbenden Säugling bei mir aufnahm – in diesem kalten Zimmer!

„Ich möchte sicher nicht ungefällig sein“, entgegnete ich, „aber ich bin nicht in der Lage, etwas für Sie zu tun. Ich habe keinen Platz für das Baby und auch keine Medizin, nichts mehr zu essen und kein Geld, um etwas zu kaufen! Sie sollten Ihr Kind ins Krankenhaus bringen.“

„Das habe wir schon versucht“, erwiderte der Mann, „aber dort wollten sie es nicht haben. Sie sagen, sie können nichts für das Kind tun. Es ist ein Zwilling. Das andere ist vor zwei Monaten gestorben, und jetzt stirbt uns dieses auch noch! Das übersteigt die Kräfte meiner Frau. Sie kann nicht mehr!“

„Herr Cohen“, sagte ich, „es ist nicht, dass ich nicht helfen möchte. Aber ich sehe wirklich nicht, was ich tun könnte.“ In diesem Moment fing ich den Ausdruck seiner Augen auf – denselben leeren, hoffnungslosen Blick, den ich bei den Leuten im Leichenzug wahrgenommen hatte. „Zum Mindesten müssen Sie mir Zeit geben, darüber zu beten. Wenn ich dann finde, ich könne etwas tun, werde ich Sie aufsuchen. Wo wohnen Sie?“ Er beschrieb mir, wie ich seine Wohnung finden konnte, und ich versprach, mich mit ihm in Verbindung zu setzen, wenn ich irgendeine Möglichkeit sah, ihnen zu helfen.

Zögernd verabschiedete sich der Mann. Auf der Treppe blieb er noch einmal stehen, drehte sich zu mir um und bat: „Warten Sie bitte nicht zu lange!“

Ein paar Minuten später kam meine Arabisch-Lehrerin, doch ich konnte mich unmöglich konzentrieren. Am Schluss der Lektion gab ich ihr die sechs Mark fünfzig, die ich ihr für diese Woche schuldete. Als sie gegangen war, leerte ich den restlichen Inhalt meines Portemonnaies auf den Tisch und zählte: zwei Mark achtzig. Das war alles, was ich besaß!

Bald darauf kam Nijmeh, um mit mir die Arabisch-Lektion zu wiederholen. „Nijmeh, hast du am Jaffator eine jüdische Frau getroffen und ihr gesagt, dass ich ihr krankes Baby aufnehmen würde?“

„Hm, ich habe tatsächlich heute Vormittag eine Frau getroffen, die wie eine Jüdin sprach. Sie war in großer Not wegen ihrem Kind, und ich erzählte ihr von Ihnen.“

„Aber, Nijmeh, wie bist du darauf gekommen, dass ich ihr helfen könnte?“

„Fräulein Christensen, ich habe seit Jahren zu Gott gebetet, er möchte jemand schicken, der für die Kinder in dieser Stadt sorgt, die kein Heim haben. Ich glaube, Sie sind diese Person.“ Ich starrte sie überrascht an. „Ich, Nijmeh? Es gibt doch sicher Kinderheime in Jerusalem!“

„Ja, Waisenhäuser – große Institutionen. Aber ich kenne keinen Platz, den ich ein Heim nennen würde, wo sich ein Kind geliebt und akzeptiert fühlen kann.“

„Aber, Nijmeh, ich habe nicht einmal Platz für ein einziges Kind, ich habe kein Geld mehr und auch keine Mission hinter mir …“

Nijmeh erhob sich und tastete sich zur Tür. „Ich werde weiterbeten.“ Augenblicke später hörte ich das Tappen ihres Stockes, als sie sich die Treppe hinaufbegab.

„Aber es ist doch wahnsinnig!“, sagte ich zu mir selbst. „Nicht einmal das Krankenhaus wollte das Kind nehmen. Und was soll ich dann machen?“

Als mir die Sache weiter durch den Kopf ging, kam mir eine Bibelstelle in den Sinn, die ich heute Morgen im Neuen Testament gelesen hatte. Ich schlug meine Bibel auf. Die Verse 14 bis 18 im letzten Kapitel des Jakobusbriefes waren grün unterstrichen – die Farbe, die ich für Gebet verwendete. Ein Satz besonders schien mir in die Augen springen zu wollen: „Das Gebet des Glaubens wird dem Kranken helfen …“ (Vers 15). Wollte mir Gott damit sagen, dass das Gebet das Leben des Kindes noch retten konnte, auch wenn alle menschlichen Möglichkeiten erschöpft waren?

Beinahe fürchtete ich mich vor der zu erwartenden Antwort – ich beugte den Kopf über den Tisch und sagte: „Herr, zeige mir, ob es dein Wille ist, dass ich dieses Kind nehmen soll.“

Es folgten einige Minuten der Stille. Ich hörte, wie meine Armbanduhr die Sekunden wegtickte. Dann erinnerte ich mich eines Satzes aus dem Gleichnis Jesu von den Schafen und Böcken: „Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan“ (Matthäus 25,40). Diese Worte kamen mir so deutlich und direkt, dass es beinahe war, wie wenn Jesus selbst sie hörbar zu mir gesprochen hätte. Ich schaute auf meine Uhr: fast vier Uhr nachmittags. Bis zum Dunkelwerden blieb nur noch eine Stunde – zu spät, um noch Herrn Cohens Adresse finden zu wollen. Ich müsste also gleich morgen früh gehen. Aber jetzt hörte ich eine andere Stimme. Die Stimme von Herrn Cohen, wie er sich beim Fortgehen nochmals umdrehte und sagte: „Warten Sie bitte nicht zu lange!“ Ich trat ans Fenster und versuchte zu entscheiden, was zu tun war. Die kostbaren Minuten des Tageslichtes verrannen. Unter all den widerstreitenden Gedanken war einer, den ich nicht loswurde: Wenn das Baby diese Nacht stirbt, bin ich dafür vor Gott verantwortlich. „Herr, hilf mir, dich nicht zu enttäuschen“, flüsterte ich. Dann griff ich nach meinem Mantel und knöpfte ihn zu, während ich die Treppe hinaufging. Halb ging ich, halb lief ich bis zum Allenby-Platz. Von hier an musste ich langsamer gehen, um mich an die Wegbeschreibung zu halten, die mir Herr Cohen gegeben hatte. Etwa 400 Meter weiter kam ich an einem großen Gebäude auf meiner Rechten vorbei, über dem der Union Jack, die englische Fahne, wehte. Das musste der Gerichtshof sein. Hier müsste eine Straße nach rechts führen. Richtig, da war sie! Herr Cohen wohnte im dritten Haus links.

Ich stieg ein paar rissige Steinstufen hinauf und klopfte an die Tür. In den paar Augenblicken der darauf folgenden Stille konnte ich mein eigenes Herz schlagen hören. Dann wurde der Schlüssel im Türschloss umgedreht und die Tür einen kleinen Spalt weit geöffnet.

„Wer ist da? Was wollen Sie?“, fragte eine Männerstimme.

„Ich bin es – Fräulein Christensen“, sagte ich. „Sie baten mich zu kommen.“

Die Tür öffnete sich weit. Herr Cohen stand in der Öffnung, sein Käppchen immer noch auf dem Kopf. „Endlich!“, sagte er. „Ich dachte schon, Sie kämen nicht mehr!“

Ohne weitere Worte ging er in ein großes, schwach erleuchtetes Zimmer voran. Der Fußboden war mit rauen, schlecht passenden Steinplatten belegt. Die Decke wölbte sich von allen vier Ecken bogenförmig zu einer kleinen Kuppel, so wie man während der Türkenzeit gebaut hatte. Die kalte, feuchte Luft, zusammen mit der dunklen, gewölbten Decke und dem unebenen Boden, erweckten eher den Eindruck eines Kellers als den eines Zimmers.

Eine schwächlich aussehende Frau saß zusammengekauert auf einem Eisenbett, Kopf und Schultern in einen schwarzen, groben Schal gehüllt. „Das ist meine Frau Hadassa“, sagte Herr Cohen. „Sie versteht kein Englisch.“

Herr Cohen ging zu einem kleinen eisernen Kinderbett in der Ecke hinüber: „Das ist unser Baby.“

Ich beugte mich über das Bett. Die einzige Kleidung des Kindes bestand aus einem abgerissenen Streifen von Handtuchstoff. Der wächserne Teint seines Gesichtes wurde durch die schwarzen Haare noch betont. Einen Augenblick lang fragte ich mich, ob es überhaupt noch lebte. Dann öffnete es seine Augen und schaute mich an. Irgendetwas kam mir an diesen großen, dunklen Augen bekannt vor. Sollte ich sie schon vorher einmal gesehen haben? Nein – das war nicht möglich.

Herrn Cohens Stimme unterbrach meine Gedanken. „Nun, wollen Sie es nehmen?“

„Ja, ich nehme es“, antwortete ich. „Haben Sie etwas, um es einzuwickeln?“

Herr Cohen sagte etwas in einer Sprache, die vermutlich Jiddisch war, und in die Frau auf dem Bett kam plötzlich Leben. Sie wickelte sich den Schal von den Schultern und hüllte das Kind darin ein. Aus dem Kinderbett holte sie eine Säuglingsflasche mit etwas Milch darin und steckte sie dem Baby in den Schal. Dann drückte sie mir das ganze Bündel hastig in die Arme.

Ich ging zur Tür. Herr Cohen folgte mir. Auf der Schwelle blieb ich einen Moment stehen. „Sie haben mir nicht gesagt, wie das Kind heißt“, sagte ich.

„Ihr Name ist Tikva“, gab er mir zur Antwort. „Das ist das hebräische Wort für ‚Hoffnung‘. Warten Sie, ich will den Namen für Sie aufschreiben.“

Aus der einen Tasche zog er einen Bleistift hervor und aus der andern ein Stück Papier, das wie eine Rechnung aussah. Er kniete auf dem Boden nieder, glättete es auf einem Stein aus und schrieb einige Worte darauf. „Wir haben unsern Tisch verkauft, um Medikamente zu kaufen“, erklärte er entschuldigend, ohne vom Schreiben aufzublicken. „Aber sie haben nicht geholfen!“ Darauf sprang er wieder auf die Füße und steckte den Zettel zur Flasche in den Schal.

Ohne weiteres Zögern machte ich mich auf den Weg zu Fräulein Ratcliffes Haus zurück. Der letzte Schein des Tageslichtes war gerade noch am Himmel sichtbar, doch in den engen Straßen war es schon beinahe finster. Das Baby wimmerte zunächst ein wenig, dann aber verstummte es. In der Jaffastraße ließen die Ladenbesitzer eilig ihre Schaufensterläden herunter. Nur ein paar Bummler blieben noch auf der Straße.

Bis ich zum Allenby-Platz kam, war es Nacht geworden, und die Straßen hatten sich entleert. Meine Augen machten die Umrisse der Altstadtmauer vor mir aus. Ich musste an die erste Nacht zurückdenken, als ich sie zusammen mit Fräulein Gustafsson vom Taxi aus gesehen hatte. Damals war sie mir fremd und abweisend vorgekommen, aber jetzt schien mir die dunkle, schattige Masse Schutz anzubieten. Instinktiv hielt ich mich so nahe wie möglich bei ihr.

Ich wollte gerade die letzte Steigung zu Fräulein Ratcliffes Haus hinaufeilen, als die Dunkelheit vor mir von einem grellen, klagenden Ton durchbrochen wurde, dessen Echo zwischen den Häusern widerhallte und mir einen fürchterlichen Schreck in die Glieder jagte. Ich drückte mich an eine Hauswand, hielt das Baby fest in meinen Armen und wagte kaum zu atmen. Etwas bewegte sich in der Straße auf mich zu. Ich strengte meine Augen an, um die Umrisse erkennen zu können. Dann stieß ich einen langen Seufzer der Erleichterung aus. Was da mitten auf der Straße unterwegs war, entpuppte sich als ein gemächlich dahertrottender, einsamer Esel!

Ich wartete noch ein paar Augenblicke, um zu sehen, ob sich jemand beim Esel befand, aber niemand kam. Als ich weitergehen wollte, stellte ich fest, dass meine Knie weich wie Pudding waren. Unter Aufwendung der letzten Willenskraft erreichte ich Fräulein Ratcliffes Haus, stolperte die Steintreppe hinunter, öffnete die Eisentür zu meinem Zimmer und legte das Baby auf mein Bett nieder.

Im Schein meiner Lampe polsterte ich meinen Flechtkoffer mit Unterwäsche aus, bettete das Baby hinein und deckte es mit dem weichen Wollpullover zu, den Mutter mir zu Weihnachten geschickt hatte. Dann holte ich die Flasche mit Olivenöl aus dem Schrank, netzte meine Fingerspitzen damit und fuhr mit ihnen behutsam über die Stirn des Kindes, indem ich sagte: „In deinem Namen, Herr Jesus!“

Bevor der Tag anbrach, zündete ich wieder die Lampe an und hielt sie über den Koffer, in dem Tikva lag. Behutsam legte ich meinen Handrücken auf ihre Stirn. Sie fühlte sich immer noch trocken und heiß an. Wenn es überhaupt möglich war, sah sie eher noch schwächer aus mit der gelben Haut, die sich über die Wangenknochen spannte. Das Lampenlicht ließ sie für einen Moment ihre Augen auftun. Als sie den meinen begegneten, hatte ich wieder dieses Gefühl von Vertrautheit. Sollte ich sie möglicherweise doch schon vorher gesehen haben?

Und dann erinnerte ich mich mit einem Male – der Gebetstag in der Pfingstgemeinde in Korsør! Auf den Knien dort hatte ich die Gegenwart Gottes zum Greifen nahe verspürt. Und dann hatte ich das Gesicht eines Babys gesehen; es lag in einem kistenähnlichen Etwas und blickte mich mit seinen dunklen Augen an. Kein Zweifel, es war Tikva gewesen, die ich gesehen hatte, und die „Kiste“ war nichts anderes als mein Weidenkoffer!

All das war also wirklich von Gott so geplant gewesen – ehe es tatsächlich geschah! Diese Erkenntnis ergriff mich aufs Tiefste. Wie wichtig war es, dass ich meinen Platz treu ausfüllte, damit Gottes Wille vollumfänglich geschehen konnte. Nur gerade wir zwei befanden uns in diesem Raum – Tikva und ich –, aber beide waren wir Teil einer offensichtlich göttlichen Führung.

Die Milch in der Säuglingsflasche war geronnen. Ich spülte sie aus, füllte sie mit frischem Wasser und setzte sie an Tikvas Lippen. Ein paar schwache Saugversuche war alles, wozu sie fähig war. Ich stopfte den blauen Pullover etwas fester um sie und begab mich dann wieder zu Bett, um den Tag abzuwarten.

Während ich dalag, begann ich mir in Gedanken eine Liste zusammenzustellen, was ich alles einkaufen musste, sobald die Geschäfte geöffnet waren: Milch, Windeln, Sicherheitsnadeln, ein Nachthemd, ein sauberes Leintuch und wenn möglich eine zweite Säuglingsflasche. Aber was konnte man eigentlich für zwei Mark achtzig kaufen? Und was, wenn Tikva während meiner Abwesenheit etwas zustoßen sollte?

Ich wurde in meinen Gedanken von einem Geräusch auf der inneren Treppe unterbrochen. Es war das Tappen von Nijmehs Stock.

„Entschuldigen Sie, dass ich zu so früher Stunde komme“, sagte sie. „Aber der Herr weckte mich vor Tagesanbruch auf und hieß mich Ihnen das hier zu bringen.“ Sie drückte mir sechs Mark fünfzig in die Hand. „Es ist nicht viel, und ich weiß auch nicht, warum Sie es gerade brauchen – aber Gott weiß es!“

Es vergingen einige Augenblicke, bis ich sprechen konnte. „Nijmeh, erinnerst du dich an das kranke Baby, von dem wir gestern sprachen?“

„Natürlich erinnere ich mich daran, habe ich doch seither dafür gebetet. Werden Sie es aufnehmen?“

„Ich werde nicht – ich habe es bereits aufgenommen. Ich ging gestern Abend hin.“

„Gestern Abend sind Sie gegangen? In der Dunkelheit? Wo ist es?“

„In meinem Flechtkoffer. Aber es ist sehr schwach.“

Ich fasste Nijmeh an der Hand und geleitete sie zum Koffer. Dort knieten wir Seite an Seite nieder. Vorsichtig führte ich Nijmehs Hand an Tikvas Stirn.

„Wie ihre Haut brennt!“, rief Nijmeh aus.

„Ich weiß. Wenn nur das Fieber nachlassen würde!“

„Fräulein Christensen, der Herr hat gesagt, dass er Gebet erhören will, wenn zwei eins werden in dem, worum sie bitten. Wir zwei wollen gerade jetzt zusammen im Glauben darum bitten, dass Gott das Fieber wegnimmt.“

Unsere Hände berührte sich auf Tikvas Kopf, während wir abwechselnd für das Kind beteten und Gott anflehten, sein Leben zu erhalten und das Fieber weichen zu lassen. Als es schien, dass wir nicht mehr beten konnten, schwiegen wir einige Minuten. Dann spürte ich, dass Nijmeh und ich wirklich eins im Geiste geworden waren und unser vereintes Gebet zu Gott durchgedrungen war. Auch Nijmeh musste das gemerkt haben, denn sie nahm meine Hand von Tikvas Kopf fort und umfasste sie mit beiden Händen. „Gott hat unser Gebet erhört“, sagte sie. Indem ich sie zum Stuhl zurückführte, sagte ich: „Nun muss ich gehen und einkaufen, was ich für Tikva nötig habe. Das ist der Grund, warum Gott dir den Auftrag gab, mir das Geld zu bringen. Sonst hätte ich nicht genügend gehabt. Bleibe du hier und pass auf Tikva auf.“

So schnell ich konnte, eilte ich von Geschäft zu Geschäft. Ich wollte meine Zeit nicht mit Feilschen verschwenden, aber andererseits wollte ich auch sparsam mit meinem Geld umgehen. Als ich zurückkehrte, fand ich Fräulein Ratcliffe und Maria in Nijmehs Gesellschaft vor. Unverzüglich trat ich zu Tikva. In ihrem Zustand war keine Veränderung eingetreten. Es war das erste Mal, dass ich Fräulein Ratcliffe sichtbar aufgeregt sah. „Fräulein Christensen“, sagte sie mit einer Stimme, tiefer als gewöhnlich, „soll das bedeuten, dass Sie alleine nach Einbruch der Dunkelheit hinausgegangen sind und dieses Baby geholt haben?“

„Es war noch hell, als ich ging“, versuchte ich mich zu rechtfertigen, „aber es wurde Nacht, ehe ich zurückkommen konnte.“

„Ich kann Gott nur danken, dass er Sie bewahrt hat“, sagte sie weiter, „hoffentlich machen Sie so etwas nicht wieder!“

„Ja, das hoffe ich auch“, antwortete ich.

In diesem Augenblick unterbrach uns Maria: „Schaut, das Baby!“

Ich beugte mich nieder zu ihm und fühlte seine Stirn. Sie war klatschnass. Ihr schwarzes Haar glänzte vor Nässe und kleine Schweißtropfen perlten auf ihrer Stirn. Plötzlich wurde mir klar, was geschehen war! „Nijmeh“, rief ich, „das Fieber lässt nach!“ Nijmeh erhob ihre Arme und fing an, Gott auf Arabisch zu preisen. „El-hamd il-Allah! El-hamd il-Allah!“, wiederholte sie immer wieder. Maria tat es ihr nach, ebenfalls auf Arabisch, während Fräulein Ratcliffe sich auf Englisch anschloss. Ich für meinen Teil konnte in diesem Augenblick nur auf Dänisch meinen Empfindungen Ausdruck geben. Und so war das Zimmer vom Lobpreis in drei verschiedenen Sprachen erfüllt. Von diesem Moment an begann ich an die Genesung Tikvas zu glauben.

Gegen Abend konnte ich – wenn auch nur leichte – Anzeichen entdecken, dass wirklich eine Besserung eingesetzt hatte. Ihr Atem ging leichter, und sie konnte jetzt ihre Augen wenigstens zwei oder drei Minuten aufs Mal offenhalten. Wenn ich meinen Zeigefinger in ihre Hand legte, versuchte sie ihn zu umklammern.

Die Ereignisse des Morgens bestätigten die Lektion, die ich in Marseille gelernt hatte: Gebet vermag viel, wenn es zum Lobpreis wird.

Ich entschloss mich daher, Tikva beständig in eine Atmosphäre des Lobens einzuhüllen. Sooft ich konnte, preis ich laut Gott, sowohl im Gebet als auch im Gesang. Aber auch bei der Beschäftigung mit praktischer Arbeit lobte ich in meinem Herzen den Herrn in andern Sprachen.

Am Sonntagmorgen hörte ich jemand vom Hof her rufen: „Fräulein Christensen! Fräulein Christensen!“ Ich erkannte Herrn Cohens Stimme und öffnete ihm. Er stand auf der andern Hofseite so weit wie möglich weg von meiner Tür.

„Ist sie schon tot?“, fragte er. Wieder dieser beinahe abergläubische Schrecken vor dem Tod!

„Nein“, erwiderte ich, „sie ist nicht tot – und sie wird auch nicht sterben! Kommen Sie herein und schauen Sie selber!“

„Nein, nein!“, sagte er. „Ich komme nicht herein, ich bleibe hier draußen!“

Ich drängte ihn, sich doch selber zu überzeugen, aber er blieb noch ein paar Minuten an seinem Platz und verabschiedete sich dann.

Sonntag war der Tag, an dem ich Mutter meinen wöchentlichen Brief schrieb. Selbstverständlich handelte er an diesem Nachmittag vor allem von Tikva. Ich wollte Mutter als Erste in Dänemark von ihr wissen lassen. „Bete, dass ich sie behalten darf“, schloss ich.

Beide, Nijmeh und Maria, zeigten sich beinahe so besorgt um Tikva wie ich. Das erleichterte meine Aufgabe beträchtlich. Musste ich weggehen, so konnte ich die eine oder die andere bitten, Tikva zu hüten.

Am ersten Tag des Jahres 1929 erhielt ich einen Brief von Valborg mit einer Weihnachtskarte und einem Geldbetrag von 26 Mark. In einer kurzen Notiz erklärte sie: „Ich hatte dies rechtzeitig für Weihnachten abgeschickt, aber der Brief kam zurück, weil er ungenügend frankiert war.“

Wenn ich auf die letzten paar Tage zurückschaute, konnte ich nur staunen über die Zeiteinteilung Gottes. Hätte Valborgs Brief keine Verspätung gehabt, würde ich ihn vor Weihnachten bekommen haben, also ehe ich Tikva zu mir genommen hatte. Mein Entschluss, sie aufzunehmen, hatte sich nur auf einen einzigen Punkt gegründet: auf der Überzeugung, dass es Gottes Wille für mich war – ohne ein Anzeichen, dass ich auf menschliche Unterstützung zählen konnte. Erst nachdem ich meinen Entschluss in die Tat umgesetzt hatte, ließ Gott das Geld kommen, zuerst von Nijmeh und nun von Valborg.

Mitte der Woche hörte ich wieder Herrn Cohen vom Hof her rufen. Mein Herz stand für eine Sekunde still. War er gekommen, um Tikva zu holen?

„Ich bringe Ihnen Tikvas Bett“, sagte er und stellte es im Hofe ab, „für den Fall, dass Sie es brauchen.“

„Natürlich brauche ich es“, sagte ich zu ihm. Als er gegangen war, fügte ich zu mir selber hinzu: „Aber ich werde sie nicht wieder auf diese schmutzige, lumpige Matratze legen!“

Am folgenden Tag ging ich in die Altstadt einkaufen und kehrte mit einer neuen Matratze, einer Kanne weißer Farbe sowie mit einem großen Pinsel zum Anstreichen zurück. Vierundzwanzig Stunden später hob ich Tikva aus dem Weidenkoffer und legte sie stolz auf ihre neue Matratze in einem leuchtend weißen Kinderbett. Vom Einkauf dieser und anderer Dinge waren mir noch zehn Mark übrig geblieben.

Ich machte mir jetzt aber keine unnötigen Sorgen mehr über den genauen Geldbetrag, den ich noch besaß. Meine Verantwortung bestand darin, dass ich mich um Tikva kümmerte. Wenn ich hierin treu war, konnte ich die Verantwortung für das Geld Gott überlassen. Statt für meine Bedürfnisse zu beten, fing ich an, Gott beständig für all das zu danken, was er mir schon erwiesen hatte. Danksagung stärkte meinen Glauben mehr als das Bitten um die verschiedensten Dinge.

Als ich am nächsten Morgen die Tür nach dem Hof öffnete, entdeckte ich, dass ein Umschlag daruntergeschoben worden war. Er enthielt ein einziges palästinensisches Pfund, etwa 13 Mark, aber keinerlei Notiz. Das war ja beinahe zum Fürchten. Es musste jemand in der Dunkelheit da gewesen sein. Ich überlegte, wer das gewesen sein konnte. Vielleicht jemand, der die Versammlungen von Fräulein Ratcliffe besuchte? Ich hatte keine Ahnung. Aber schließlich war das nicht meine Sorge! Woher auch die Hilfe kam, es war letzten Endes doch der Herr.

Die nächste Überraschung ließ nicht auf sich warten. Es kam ein Brief von Kristine Sonderby in Korsør mit einer Geldüberweisung von 150 Mark sowie einem Kalenderblock für das neue Jahr. Sie schrieb in ihrem Brief: „Einige von uns Lehrern waren Weihnachten beieinander, und wir beschlossen, dir dies als verspätetes Weihnachtsgeschenk zu schicken.“ Am überraschendsten war der Zusatz am Schluss: „16 Mark davon sind von Erna Storm.“

Erna Storm! Dieselbe Person, die gesagt hatte, meine Anwesenheit wäre eine Schande für die ganze Schule! Gott kann sogar Steine in Brot verwandeln, sinnierte ich.

In meinem Dankesbrief an Kristine Sonderby erzählte ich ihr von Tikva und fügte ergänzend hinzu: „Was du über den Hirten auf dem Kalender sagtest, wird wahr. Jesus hat eines seiner Lämmer in meine Arme gelegt.“

Ich hatte mich so sehr an ein einfaches Leben gewöhnt, dass mir 150 Mark wie ein Vermögen vorkamen! Ich beschloss, 50 Mark für momentane Bedürfnisse zu behalten und mit dem Rest bei der Barclays-Bank mein eigenes Konto zu eröffnen. Als ich die Bank verließ, lag mir das Tanzen näher als das Gehen!

Auf meinem Heimweg kam ich an einem Geschäft vorbei, das auf eingeführte europäische Lebensmittel spezialisiert war. Ich entdeckte im Schaufenster dänischen Blaukäse. Ein kleines Stück davon kostete ebenso viel wie eine vollständige Mahlzeit aus einheimischer Nahrung. Aber die Versuchung war zu groß, wieder einmal etwas richtig Dänisches zu essen. Ich kaufte also ein Stück von diesem Käse und dazu noch etwas Butter aus Dänemark. Zum Mittagessen strich ich Butter und Käse genießerisch auf das einheimische grobe, braune Brot. Ein Gast im Tivoli-Restaurant in Kopenhagen hätte keinen größeren Genuss haben können!

Langsam aber sicher ging es Tikva besser. Aber ihre Hautfarbe machte mir Sorge. Ihre Wangen waren immer noch zu fest gespannt und sahen wie Pergament aus. Wahrscheinlich war das lange Liegen in dem dunklen, grottenähnlichen Raum, wo ich sie gefunden hatte, schuld daran. Sie brauchte frische Luft und Sonnenlicht.

Ich machte mich auf und suchte einen Kinderwagen. Schließlich entdeckte ich einen in einem Gebrauchtwarengeschäft an der Jaffastraße – ein englisches Produkt mit großen Rädern und langem, elegantem Chassis. Er war alles andere als neu, aber sauber und in gutem Zustand. Der Ladenbesitzer verlangte 65 Mark dafür. Nach zehn Minuten Feilschen bekam ich ihn auf 39 Mark herunter.

An diesem Abend schaute Fräulein Ratcliffe zu mir herein und hielt einen Umschlag in der Hand. „Das habe ich gerade heute bekommen“, sagte sie. „Es sind 39 Mark von einem anonymen Spender – ‚Für ein jüdisches Kind in Not‘. Ich kenne niemand, der das Geld besser brauchen könnte als Sie!“

Ich staunte einmal mehr über Gottes rechtzeitige Hilfe.

Als ich am folgenden Tage Tikva im Kinderwagen spazieren führte, hatte ich das Gefühl, als ob Jerusalem mir gehörte. War je eine Mutter stolzer und glücklicher gewesen als ich?

Von nun an ging ich mit Tikva jeden Tag hinaus, und ihr Zustand begann sich schnell zu bessern. Ihre Wangen verloren die Spannung und nahmen dafür Farbe an. Es dauerte nicht lange, und ich konnte ihr zusätzlich zu ihrer Milch auch etwas Weizenschleimsuppe zu essen geben.

Während unsern Spaziergängen sprach ich mit Tikva, wie wenn sie alles verstehen würde. Ich sang ihr auch Evangeliumschorusse vor, die ich von den Pfingstlern in Korsør gelernt hatte. Die Lieder kannte ich nur auf Dänisch, aber sonst sprach ich englisch mit ihr. Es war für sie sicher wichtiger, Englisch zu verstehen und zu sprechen als Dänisch.

Tikva schien das ebenso viel Vergnügen zu bereiten wie mir. Solange ich sang oder mit ihr sprach, lag sie still in ihrem Kissen da und hielt ihre dunklen Augen wie mit ernstem Einverständnis auf mich gerichtet. Schwieg ich aber oder wandte ich meine Aufmerksamkeit von ihr ab, so wurde sie unruhig und verdrießlich, gähnte und rieb sich die Augen, wie wenn sie mir protestierend sagen wollte: „Warum sprichst du nicht mit mir?“

Während ich eines Tages den Kinderwagen durch die King George V Avenue schob, hörte ich auf dem Gehsteig zwei Ehepaare dänisch reden. Es war das erste Mal, dass ich seit meinem Abschied von Kitty in Marseille meine Muttersprache hörte. Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, ihrer Unterhaltung zuzuhören. Sie waren auf der Suche nach einem bestimmten Reisebüro. Ich entschuldigte mich für meine Einmischung und erklärte ihnen den Weg.

„Verzeihen Sie bitte meine Frage“, sagte eine von ihnen, „ist das Ihr Kind? Es ist so dunkel, und Sie haben doch blondes Haar!“

„Ja“, entgegnete ich, „es gehört mir, aber ich bin nicht seine Mutter.“

Meine Antwort löste weitere Fragen aus, und schließlich bestanden sie darauf, mich in ein nahes Café zu einer Tasse Kaffee „und zu gutem dänischem Gebäck“ einzuladen. Hier saßen wir eine ganze Stunde lang, während ich ihnen von meiner Herkunft in Dänemark erzählte und wie ich nach Jerusalem geführt worden war. Im Laufe des Gesprächs erfuhr ich, dass die beiden Herren pensionierte Beamte von der Direktion der Dänischen Staatsbahnen in Kopenhagen waren und sich mit ihren Frauen auf einer privaten Reise im Heiligen Lande befanden.

Ehe wir uns voneinander verabschiedeten, baten sie um meine Adresse, und eine der Damen drückte mir unauffällig etwas Geld in die Hand. „Sie werden von uns hören“, sagte sie.

Als ich wieder auf die Straße trat, schaute ich auf das Geld in meiner Hand: 65 Mark.

„Tikva“, sagte ich, „Gott ist gütig zu uns!“ Das Glänzen in ihren Augen schien zu besagen, dass sie ganz meiner Meinung war.