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Als sie in Uruhards Unterkunft angekommen waren, verloren sie keine Zeit damit, die Inneneinrichtung lobend zu erwähnen oder Drinks anzubieten. Ryk durfte sich setzen und zuhören, wie zwei von plötzlicher Begeisterung erfüllte Menschen zu handeln begannen – wenngleich das Gespräch schnell eine unvorhergesehene Wendung nahm.
Er war etwas müde, aber das Gespräch erwies sich als interessant und Ryk, ewig begierig zu lernen, konzentrierte sich darauf. Er kannte die Verkaufsgespräche auf den Märkten und in den kleinen Gassengeschäften, jeder Bewohner von 7 wusste, wie man sich in einem gemeinsamen Ritual dem richtigen Preis näherte. Uruhard und Sia waren darin gewiss keine Ausnahme.
»Die Karte ist sicher von besonderem Wert. Ich verkaufe sie für 30.000 VE. Das ist nicht nur ein gutes Angebot, es dürfte auch Ihre Möglichkeiten nicht überschreiten«, kam der Wachtmeister schnell zu einer konkreten Forderung. VE waren keine reale Währung, jedenfalls nicht im engeren Sinne. Man konnte sie am ehesten mit Schuldscheinen vergleichen, mit denen exakt formulierte Waren oder Dienstleistungen definiert wurden. Das VE-Komitee der Metropole 7, neben dem Wachtmeister die zweite Institution, auf die sich die Stadtherren geeinigt hatten, war dafür verantwortlich, dass nichts in diesen Listen geführt wurde, was nicht entweder real existierte oder von denjenigen, die es anboten, auch getan werden konnte. Ein jeder, der im Besitz eines VE-Scheins war, wusste ganz genau, was diesen 30.000 Verrechnungseinheiten entsprach, und konnte exakt diese Waren oder Dienste einfordern. Wertveränderungen traten vor allem dann auf, wenn die Waren etwa durch ein Feuer vernichtet wurden oder der Dienstleister aufgrund einer Krankheit nicht in der Lage war, den versprochenen Service zu leisten. Und Zinsen gab es, wenn der Dienstleister versprach, den Dienst zu einem späteren Zeitpunkt zu vollbringen, und dafür eine erhöhte Leistung akzeptierte. Ein kompliziertes System, aber einigermaßen krisenfest und aufgrund der zugrunde liegenden Struktur mit den VE anderer Städte teilweise kompatibel – soweit jemand das Bedürfnis hatte, Dienste oder Waren in einer anderen Metropole zu erwerben. Wie etwa Sia für ein Engagement in einen Club einzuladen. Sie musste einen ganzen Koffer voller VE-Scheine mit sich führen.
Oder in ihrem Handgelenk tragen, soweit es sich um Geschäfte unter Hybriden handelte.
»30.000 sind zu viel. Und ich habe gar nicht genug einheimische VE für Metropole 7. Ich kann Ihnen Guthaben in 5-VE und 8-VE anbieten, falls Sie dorthin verreisen wollen.«
Uruhard verzog das Gesicht. »Nein, dazu werde ich auf absehbare Zeit wohl nicht kommen. Dann ein Tauschgeschäft? Ich zeige Ihnen gerne meine Sammlung.«
Sia lehnte sich zurück und sah den Wachtmeister prüfend an, als überlege sie genau, welche Forderung sie stellen könne – aber tatsächlich dachte sie wohl über etwas ganz anderes nach, wie die folgende Frage zeigte.
Bevor sie sprach, sah sie kurz Ryk an. Er runzelte die Stirn. Diese Blicke hatten ihn bereits in der Bar irritiert. Hier war doch im Grunde niemand auf seine Zustimmung, Meinung oder auch nur Aufmerksamkeit angewiesen.
»Sie kennen die Legende um Admiral Rothbard, oder?«, fragte sie dann.
Uruhard nickte.
»Es ist die Legende, die diese Karte so wertvoll macht!«
»Ja, bei oberflächlicher Betrachtung.«
Ryk hob die Hand. »Ich kenne diese Legende nicht.«
Er sah von einem zum anderen und beide wechselten einen Blick, als wollten sie entscheiden, ob sie das übergehen oder darauf eingehen wollten. Es war Sia, wie Ryk gehofft hatte, die seufzte und sich zu einer Erklärung bequemte. Sie schlug elegant die Beine übereinander und lehnte sich auf dem Sofa zurück. Ryk stellte fest, dass während ihrer Abwesenheit ein dienstbarer Geist für Ordnung und Sauberkeit gesorgt hatte. Andererseits würde sich eine Persönlichkeit wie die Sängerin auch durch Spermaflecken nicht beeindrucken lassen, da war er sich einigermaßen sicher.
»Es ist eine Geschichte, die ihren Ursprung in den letzten Tagen der untergehenden Union hat. Der Zeitpunkt, an dem allen klar war, dass jegliche militärischen Aktivitäten vergebens waren und man dem sicheren Untergang gegenüberstand. Die Hivestöcke waren nicht mehr aufzuhalten, die ersten Welten der Union bereits von den Invasoren unter Kontrolle gebracht, der Krieg nicht einmal mehr ein Rückzugsgefecht. Die Legende sagt, dass der letzte Chef des Admiralstabs der Unionsflotte, Admiral Freder Rothbard, sich damals entschloss, die verbliebenen Streitkräfte auf einem abgelegenen Stützpunkt zu verstecken, Raumschiffe, Roboter, alles, was noch funktionsfähig war, dazu automatische Produktionsanlagen und Rohstoffvorräte. Er entschied darüber hinaus, die Soldaten alle zu entlassen, auf dass sie ihr Heil in der Flucht suchten. Er aber verschloss den Stützpunkt, mottete alle Waffen ein und setzte ein automatisches KI-Waffenforschungsprogramm in Gang, mit dem alleinigen Ziel, effektivere Mittel gegen den Hive zu identifizieren. Sich selbst versetzte er in Hibernation, mit dem Befehl, ihn zu wecken, wenn die Forschungen so weit gediehen wären, dass an eine Befreiung der Menschen vom Joch des Hives zu denken wäre. Und so ist es immer noch: Der Legende nach schläft Admiral Rothbard und wartet darauf, geweckt zu werden, um die Union zu retten.«
»Die ist kaputt, seit über dreihundert Jahren«, wies Ryk auf das Offensichtliche hin.
»Ja. Es ist eine Legende. Ein Märchen. Eine Geschichte, die Hoffnung geben soll, wo es wenig davon gibt«, ermahnte ihn Uruhard.
»Ich finde, es hört sich eher gruselig an«, meinte Ryk. »Ein uralter Typ, der in irgendeinem antiken Kältetank vor sich hin runzelt und darauf wartet, dass alles wieder gut wird?«
»Er wird nicht runzeln, da der antike Kältetank das verhindert«, erklärte Sia mit einem leicht missbilligenden Unterton. »Und er wartet nicht darauf, dass alles wieder gut wird, sondern darauf, die Instrumente in die Hand zu bekommen, es gutzumachen.«
Ryk schaute sie an, dann dämmerte es ihm. Ihre Ernsthaftigkeit und ihre Begeisterung hatten nichts mit Sammelleidenschaft zu tun, nichts mit einem etwas seltsamen Hobby. Sie nahm das alles auf einer anderen Ebene ernst. Sie glaubte …
»Sie glauben die Geschichte«, sagte er leise und versuchte, jeden Vorwurf aus seiner Stimme zu halten. »Sie glauben, dass Admiral Rothbard wirklich existiert. Dass er irgendwo schlummert und … seit sehr langer Zeit wartet.«
»Zu lange«, sagte Sia, immer noch absolut ernsthaft. »Es ist etwas schiefgelaufen.«
»Es ist so einiges schiefgelaufen«, meinte Ryk. »Der Hive ist gekommen. Wir haben verloren. Er hat die Menschheit fast ausgerottet und seitdem ignoriert er sie mehr oder weniger, während wir in seinem Müll leben und knapp über die Runden kommen. Fasst es das in etwa zusammen?«
»Die Forschungs-KI«, murmelte Uruhard nachdenklich, während beide Ryks Sarkasmus ignorierten. Er schien Sias Haltung absolut nicht zu missbilligen. »Sie hätte bei normaler Vorgehensweise längst fertig sein müssen. Aber sie ist es offenbar nicht.«
»Alles Mögliche kann passiert sein. Funktionsfehler, Energieausfälle, ein paar Sackgassen … wir können es nicht einmal erahnen. Umso wichtiger ist, dass wir ihn finden, wecken und die Situation neu analysieren.«
Ryk starrte sie entgeistert an. Soeben hatte sich eine hochintelligente, begabte und faszinierende Frau in eine lallende Idiotin verwandelt, und das mit nur einem Satz. So etwas brachten wirklich nur wenige fertig und er warf auch Uruhard einen fragenden, überraschten Blick zu, den dieser geflissentlich ignorierte.
Sia sagte es mit einer Selbstverständlichkeit, die Ryk nun, jenseits aller Faszination für eine wunderschöne Frau mit der Stimme eines Engels, nicht mehr ernst nehmen konnte. Vielleicht war es so mit herausragenden Talenten, mit Ausnahmeerscheinungen, wie sie sicher eine war: Sie alle hatten einen Knacks weg. Andererseits – wer hatte das heutzutage nicht?
»Wecken?«, echote Uruhard mit leichtem Unglauben. »Wecken?«
»Finden, dann wecken«, korrigierte ihn Sia. »Und ich ahne, wo ich mit der Suche beginnen kann. Mein Vater hat die Spur entdeckt. Allerdings komme ich nur an sie heran …«
Sie ließ den Satz in der Luft hängen und warf dann einen bezeichnenden Blick auf den Gegenstand ihrer bisherigen Geschäftsverhandlungen, dem Ryk unwillkürlich folgte.
»Mit der Codekarte«, vervollständigte Uruhard den Satz. Ryk musste genauer hinhören, denn er befürchtete, nicht richtig zu verstehen. Aber doch, nun war es auch in seiner ganzen Haltung deutlich zu erkennen. In ihr lag eine plötzliche Verlockung, eine Begeisterung. Er wollte glauben, was Sia da erzählte. Er wollte es mit ganzem Herzen. Tief in sich nahm er die Geschichte um den mythischen Admiral tatsächlich ernst. Es war absolut nicht zu glauben.
Zwei Idioten, die sich gefunden hatten! Ryk zwang sich, nicht empört den Kopf zu schütteln. Es war gewissermaßen enttäuschend.
»Sie helfen mir?«, wisperte Sia hoffnungsvoll. Sie wollte jetzt nicht mehr handeln. Das war nie ihre Absicht gewesen, wie Ryk nun verstand. Sie sah in Uruhard eine verwandte Seele, die den gleichen Quatsch glaubte wie sie. Und sie hatte sich nicht verkalkuliert. Uruhard hing am Haken, auch wenn er es vielleicht jetzt noch nicht erkannte. Er zappelte nicht einmal. Ryk fragte sich, wie ein intelligenter Mann so leicht …
»Sie sind nicht überrascht, Wachtmeister«, sagte er spontan. »Etwas irritiert, noch ein wenig am Zweifeln – aber nicht überrascht.«
Uruhard nickte langsam.
»Unter uns Wachtmeistern … in jeder Metropole einer, wie du weißt … gibt es allerlei Geschichten, die sich aus dem Vergleich unserer Beobachtungsprotokolle ergeben. Da wird viel diskutiert. Auch unter den Aposteln ist es ein beliebtes Thema. Wir schreiben uns viele und lange Briefe. Der letzte Admiral kommt daher immer wieder zur Sprache und ja, ja, es gibt Indizien, die aus der Legende mehr machen als ein Märchen. Ein wahrer Kern. Etwas«, er sah Sia an, »das uns Hoffnung gibt.«
Eine Hoffnung, die er offenbar teilte.
Ryk sagte erst einmal gar nichts, irgendwie hatte die momentane Stille etwas Andächtiges. Es war das Verharren von Wahnsinnigen, die einer perfekten Illusion erlagen.
Uruhard hielt die Karte in die Luft. »Die hier«, fragte der Wachtmeister, »passt zu … was?«
»Zur Festung, zur Station, in der Rothbard ruht. Davon gehe ich zumindest aus. Zu einem Hinweis auf die genauen galaktischen Koordinaten, an denen sie sich befindet. Die uns verraten, wo wir hinmüssen.«
Wo wir hinmüssen , das klang in Ryks Ohren auf so vielen Ebenen absurd, er musste unwillkürlich lachen. Er unterdrückte es sofort, als er die Blicke der beiden anderen auf sich spürte, und obgleich er es immer noch für absurd hielt, schwieg er betreten, ein wenig peinlich berührt vielleicht.
»Erklären Sie mir das«, verlangte Uruhard. Das war albern. Ryk sah ihm an, dass er genau wusste, wovon die Frau sprach.
»Das will ich tun, denn ich brauche Ihre Hilfe.«
Der Bärtige sah sie forschend an. »Dass Sie in der Bar hier in Metropole 7 aufgetreten sind, war kein Zufall, oder?«
»Es war meine Hoffnung, Ihnen zu begegnen.«
»Sie haben es geplant.«
Sia lächelte entschuldigend.
»Kann man heutzutage wirklich noch etwas planen? Ich habe meiner Hoffnung eine etwas konkretere Gestalt gegeben. Mehr möchte ich für mich nicht in Anspruch nehmen.«
Ryk schüttelte den Kopf. »Noch mal«, sagte er leise und so ernsthaft, wie er konnte. »Wie wollen Sie die Erde verlassen, selbst wenn all das stimmt, was Sie da sagen? Ich meine … es gibt keine Flotte mehr. Seit über dreihundert Jahren nicht mehr! Die einzigen Schiffe, die Terra noch verlassen …« Er wollte gar nicht daran denken, geschweige denn es aussprechen.
»Es gibt Schiffe der Streitkräfte der Union. Reste der Flotte.« Sie sah seinen zweifelnden Blick. »Funktionsfähige Reste.«
»Wo? Auf der Erde?«
»Nein. Aber ich weiß, wo. Wie wir dorthin kommen, ist unser zweites Problem.«
»Was war gleich noch mal das erste?«
Es war Uruhard, der die Frage beantwortete, und diesmal war wieder ein starker Unglaube in seiner Stimme, eine Angst, und beides zusammen waren starke Emotionen, die ihn blass werden ließen.
»Sie wollen doch nicht … Sie haben nicht ernsthaft die Absicht …?«
Sia streckte einen wohlgeformten, schlanken Arm aus. »Was liegt unter diesem Hivestock, dem von Metropole 7, Wachtmeister?«
Uruhard schüttelte den Kopf.
»Sie wissen es«, sagte Sia.
»Alle Wachtmeister wissen es. Es ist unser Geheimnis.«
»Die meisten Apostel wissen es auch, oder?«
Uruhard schüttelte resigniert den Kopf. »Junger Mann, du solltest jetzt besser gehen«, sagte er zu Ryk und nickte in Richtung Ausgang. Der Springer, halb bedauernd, halb erleichtert, stand auf, doch Sia hob eine Hand und gebot ihm innezuhalten.
»Nein«, sagte sie mit großer Bestimmtheit. »Wir brauchen jemanden wie ihn.«
»Ihn?«
»Jemanden wie ihn. Er ist da. Er ist geschickt und erfahren. Er ist stark und belastungsfähig. Er ist gesund.« Sie sah ihn prüfend an, als würde sie eine Frucht auf dem Markt begutachten. »Sie sind doch gesund, oder?«
Ryk fühlte sich nicht wohl unter ihrem Blick. Er nickte vorsichtig. Ja, im Rahmen des Möglichen war er gesund.
»Ich biete Ihnen an, in unsere Dienste zu treten«, sagte Sia.
»Dienste?«
»Ich biete Ihnen 500 VE am Tag. Plus Spesen.«
500 VE am Tag. Er bekam 500 VE für einen weiten Sprung, eine schwierige Reise, und weniger für kürzere Strecken. Am Tag! Er machte 1.000 im Monat, wenn es gut lief. Er war schließlich nicht der einzige Springer in Metropole 7.
Am Tag!
Mein Gott, was er sich dafür würde leisten können!
Uruhard seufzte.
Sia lächelte Ryk an.
Das gab irgendwie den Ausschlag.