8
Zwei Stunden Schlaf gönnten ihm seine Begleiter. Es war deutlich nach Mitternacht und somit Zeit, wieder aufzubrechen.
»Draußen ist es ruhig geworden«, teilte ihm Uruhard mit und reichte ihm eine Kostbarkeit aus Sias Vorräten: eine echte elektrische Taschenlampe. Sie hatte eine Kurbel, mit der sie aufgeladen werden konnte. Ryk betrachtete sie beinahe ehrfürchtig. Elektrische Geräte wurden mit jedem Jahr seltener, da es immer weniger Leute gab, die sie reparieren konnten. Hergestellt wurden sie schon lange nicht mehr. Die Menschen plünderten die letzten verbliebenen Habseligkeiten ihrer Vorfahren, doch diese würden nicht mehr lange vorhalten. Sia hatte sich aus ihren eigenen Schätzen bedient, auf die sie als Hybride Zugriff hatte. Im Gegensatz zu Ryk startete sie in ihre Expedition ohne jede vorherige Nachtruhe.
»Ihr wisst, wo wir hinwollen, ja?«, vergewisserte sich der Springer.
»Uruhard führt uns zur richtigen Stelle. Danach übernehme ich«, sagte Sia mit der Bestimmtheit einer Alpha und Ryk nickte nur zustimmend, obgleich er sich dabei eher unbehaglich fühlte. »Ich kann gut im Dunkeln sehen. Wie eine Katze.«
Ryk zuckte mit den Schultern. Er hatte einmal Katze gegessen, mit Kartoffeln. Schmeckte wie Hühnchen, nur etwas zäher.
Sie verließen die Herberge. Unten an der Theke hockte immer noch Olga, den Kopf auf die Arme gelegt. Ihr Oberkörper hob und senkte sich in regelmäßigen Atemzügen. Sie schlief. Verließ sie jemals ihren Posten? Ryk blickte ein wenig traurig zu ihr zurück. Wenn Olga am Morgen das Zimmer aufsuchte, wären sie verschwunden und sie würde denken, Ryk sei auf dem Weg, von Terra ins All zu springen, und damit eigentlich schon tot. Er würde zu einer ihrer Geschichten werden. Das war nicht ganz das Schicksal, das er sich erhofft hatte.
Sie standen im Freien.
»Wir müssen …«, begann Uruhard.
»Halt!«, sagte Ryk. Er sah Sia an, die ihm bedeutungsvoll zunickte. War Ryk der Erste, der die Präsenz des Fremden spürte? Er war mit einem Mal sehr angespannt, doch Sia zeigte alle Anzeichen, dass auch sie etwas wahrgenommen hatte. Sie konnte wohl wirklich sehr gut sehen im Dunkeln. Oder hören. Es war jemand da, bewegungslos, eine stumme, dunkle Bedrohung vielleicht. Das ging ja gut los. Er beging hier einen großen Fehler!
»Wer ist da?«
Ein großer Schatten bewegte sich aus der Dunkelheit ins Licht der fahlen Gaslampe über dem Eingang. Ryk stockte fast der Atem. Ein Deformierter, kein Zweifel. Wieder ein Grund mehr, Angst zu haben. Ryk ermahnte sich. Nicht so schnell.
Der Mann … war es ein Mann? Der Deformierte also, groß wie breit, massig, mit Fettwülsten um seinen nackten Bauch herum, starrte sie aus wässrigen Augen an. Er war nicht deformiert, weil er dick war – es gab auch in diesen Zeiten genug Menschen, die reichlich zu essen hatten, manchmal mehr, als gut für sie war. Er war deformiert, weil sein Schädel asymmetrisch war, als ob jemand seitlich auf ihn eingeschlagen hätte und eine Delle geblieben wäre, haarlos, mit blassrosa, fester Haut. Keine Brandwunde. Keine Schlägerei. Er war so geboren, wie viele derer, die in den Metropolen wohnten.
Keiner wusste, warum.
Alle hatten sie Angst vor der rohen Kraft dieser massigen Menschen, die nichts dafürkonnten, wie sie waren. Wer von ihnen Glück hatte, durfte eine Tür bewachen. Die meisten hatten Pech. Sie starben früh. Sie lebten in ihrer eigenen Straße, blieben unter sich und damit waren sie für die meisten Stadtbewohner aus den Augen, aus dem Sinn. Manche verachteten sie, andere machten sich über sie lustig, die meisten ignorierten die Existenz der Defos, soweit das möglich war. Man konnte ihnen nicht immer aus dem Weg gehen, selbst wenn man es sich vornahm.
Ryk erinnerte sich. Er hatte diesen Mann schon einmal gesehen. Vor der Hybridenbar. Ja, der Türsteher, dessen Präsenz ihn damals schon beeindruckt hatte.
»Momo!«, sagte der Defo schwerfällig. Seine rissigen Lippen formten die Laute unter Anstrengung, seine Stimme klang tief und irgendwie … knarzig. »Ich bin Momo.« Er stand da und schaute Sia an wie ein verliebter Junge. Diese war nun ganz entspannt. Hybride konnten gut mit Defos, sie engagierten sie oft als Wachpersonal für ihre Einrichtungen. Wenn jemand keine Berührungsängste mit ihnen hatte, dann waren es Sias Leute.
»Momo«, sagte sie und nickte ihm zu. »Ich bin Sia.«
»Du hast schön gesungen«, artikulierte er gut, vielleicht schon zu gut. Ryk runzelte die Stirn. Er wusste nicht, dass Defos vollständige Sätze bilden konnten.
»Du hast mich gehört, Momo?«
»Ich stehe an der Eingangstür der Bar. Ich passe auf. Ich greife bei Ärger ein.«
Einer der Glücklichen, ganz offensichtlich. Ein Angestellter der Hybriden, ein privilegierter Defo. Er aß regelmäßig und schlief möglicherweise unter einem Dach. Die Hybriden zahlten ganz gut, hieß es.
Momo hatte seine beiden klobigen Hände ineinander verkrampft. Kein Finger sah aus wie der andere, manche waren dünn und wirkten zerbrechlich, andere waren dick und fleischig. Die Arme waren muskulös und dick wie Oberschenkel. Er war ein Mann voller Kraft, die er bewusst sparsam einsetzte. Er konnte mit jeder unachtsamen Bewegung Verletzungen verursachen. Ryk entspannte sich nun auch. Momo war keine Bedrohung, das war ganz offensichtlich. Seine Gestik machte tatsächlich viel eher deutlich, dass er sich schämte und schüchtern war – ein bemerkenswerter Kontrast zu seiner massiven Gestalt.
»Singst du für mich?«, fragte er leise. Wer jetzt erwartet hätte, dass Sia ihm eine böse Abfuhr erteilen würde, der hatte sich geirrt. Die Sängerin trat auf den Defo zu und berührte ihn ohne Scheu am Arm, etwas, das sich Ryk nicht getraut hätte, der sich angesichts seiner Vorbehalte jetzt ein wenig dumm vorkam, sich fast schon schämte.
»Ich kann jetzt nicht singen, Momo. Wir haben eine gefährliche Mission vor uns.«
»Ich mag die Lieder.«
»Ein andermal.«
»Der Sire mag dich nicht.«
Momo war an einer Position, an der man viel mitbekam, hörte und seine Schlüsse zog. Es war offensichtlich, dass die umständliche, einfache Ausdrucksweise des Mannes keine Rückschlüsse auf seine Aufmerksamkeit zuließ.
»Das kann gut sein«, antwortete Sia.
»Der Sire ist nicht gut zu uns. Ich bin ein Wachmann. Ich bewache Alphas, Betas und Gammas. Ich kann dich bewachen.«
Sia nickte ernsthaft. »Das kannst du ohne Zweifel und normalerweise würde ich dein Angebot gerne annehmen. Aber unser Weg führt uns weit weg und der Sire ist uns auf den Fersen.«
Momo nickte schwerfällig. »Der Sire mag niemanden. Niemand mag den Sire.« Er öffnete seine Hände und streckte einen breiten Daumen in seine Richtung. »Ich mag den Sire auch nicht.«
»Das stimmt. Er ist recht unbeliebt. Aber du lebst in Stink und es soll dir gut gehen. Du dienst den Hybriden. Sie geben dir Obdach und Nahrung.«
Momo beugte sich vor und flüsterte verschwörerisch: »Sie geben mir sogar was zum Kaufen. Ich spare alles. Ich kaufe mir ein Bett.«
Das war keine geringe Investition angesichts Momos Körpermasse.
»Das ist gut. Daher musst du weiterhin arbeiten und uns unseres Weges ziehen lassen«, schloss Sia ihre Argumentation und es schien, als würden ihre Worte bei Momo durchaus fruchten. Er sah sehr traurig aus. Er hatte offenbar in seiner Einfalt auf ein Privatkonzert gehofft und durfte sich glücklich schätzen, keine harte Abfuhr erhalten zu haben.
»Geh jetzt, Momo. Es ist früh am Morgen. Du musst sicher noch arbeiten.«
»Ja, arbeiten«, murmelte der Defo, schaute Sia noch einmal sehnsuchtsvoll an, ließ ein wenig die Schultern hängen und machte sich in die Dunkelheit davon. Trotz seines massiven Körpers bewegte er sich bemerkenswert leise. Ryk sah ihn verschwinden, hörte ihn aber schon bald nicht mehr.
»Arme Schweine«, sagte Uruhard.
»Die schmutzigen Bomben, die wir am Ende auf die Hivestöcke geworfen haben, hätten wir uns sparen können«, erwiderte Sia. »Aber wir waren wohl arg verzweifelt. Und dann kamen die Defos zur Welt. Ich habe andere gesehen, denen es schlimmer als Momo geht. Aber lasst uns nicht länger davon reden.«
Sie sah blass aus, soweit Ryk das erkennen konnte. Das Schicksal der armen Kreaturen ging ihr tatsächlich ans Herz. Ryk wusste nicht, ob das Naivität ihrerseits war oder ein schöner Zug, der von Mitgefühl zeugte und damit ihre menschliche Seite betonte. Er mochte es. Er hatte nie lange über Defos nachgedacht – traf man einen auf der Straße, reichte es meist, ihm aus dem Weg zu gehen – und jetzt empfand er deswegen eine seltsame Schuld.
Sia berührte sie alle, jeden auf seine Weise. So gesehen waren sich Ryk und Momo erstaunlich ähnlich.
»Hier entlang!«, sagte Uruhard. »Und leise. Wir wollen keiner Patrouille des Sire in die Arme laufen.«
So machten sie sich auf den Weg.
Stink war nachts relativ laut für Metropole 7, da hier viel gefeiert wurde. Es schien, dass die unmittelbare Nähe des Hives in vielen das Gefühl der ständigen Verzweiflung erhöhte und sie ein Ventil suchten, um sich der Tatsache zu vergewissern, dass sie noch am Leben waren – oder einfach nur vergessen wollten, wie erbärmlich dieses Leben war. Das bedeutete im Regelfall Drogen und Sex. Der Sire regierte über ein großes, stinkendes Vergnügungsviertel, aber so früh am Morgen schlief auch der heftigste Zecher seinen Rausch aus. Es waren nur wenige Stunden, aber um diese Zeit war Stink tatsächlich ruhig und roch einfach nur erbärmlich schlecht.
Ryk sog prüfend die Luft ein.
Er bemerkte den Geruch schon gar nicht mehr richtig. Man gewöhnte sich wirklich irgendwann an alles.
Sie erreichten unbehelligt den Rand der Stadt und das Müllfeld. Darunter sah man den alten Asphalt mit seinen Markierungen, hergestellt aus dem scheinbar ewig haltenden Plastikbeton der Vorväter. Viele der toten Straßen führten am Müllfeld vorbei bis zum Hivestock, dessen schwarze und massive Präsenz vor dem Sternenhimmel nur zu erahnen war. Das Gebäude mit seinen seltsamen Auswüchsen war in der Regel unbeleuchtet. Großmäuler und Drachen benötigten wenig Licht.
Von dort kam nun, in der Stille des frühen Morgens, ein beständiges Glucksen und Tröpfeln. Die Abfälle des Hives waren am Leben, doch niemand wusste, welches Ziel diese Existenz hatte, welchen Nutzen, falls überhaupt noch einen. Vieles starb nach kurzer Zeit, anderes lebte weiter, wie Organe, die aus dem Körper entnommen wurden und es dann irgendwie schafften, weiter zu existieren, tagelang auf der blinden Suche nach einem Leib, der sie wieder in Gnaden aufnehmen würde. Wenn die Hybriden sich auf ihre Suche begaben, dann töteten sie, was sie fanden, ein Akt der Gnade, dem niemand widersprach. Noch nie hatte ein Teil des lebendigen Abfalls Intelligenz und Bewusstsein gezeigt. Es gab also keinen Grund, übertriebene Rücksicht walten zu lassen.
»Hört ihr das?«, fragte Ryk, der plötzlich instinktiv zusammengezuckt war. Er war seit der überraschenden Begegnung mit Momo sehr aufmerksam, vielleicht ein wenig paranoid. Nicht jeder nächtliche Besucher mochte so harmlos sein wie der musikbegeisterte Defo.
Uruhard und Sia blieben stehen und lauschten in die Nacht.
»Da ist nichts«, beharrte der Bärtige nach einem Moment. Ryk gab nichts auf seine alten Ohren, er sah Sia auffordernd an.
»Da ist was«, sagte diese sofort. Ihre Stimme hatte nun einen alarmierten Unterton. Die Frau empfand plötzlich Angst, ein schlechtes Vorzeichen. »Schritte. Viele Schritte.«
»Hybriden, die …«, begann der Wachtmeister.
Sia schüttelte den Kopf. »Alphas können die Präsenz anderer Hybriden wahrnehmen. Das sind nicht meine Leute. Das sind …«
Dann sahen sie Fackeln und Klingen, die im Schein der Fackeln funkelten, und Männer, die beides trugen, und schließlich das glänzende Kostüm des Sire, der an der Spitze eines halben Dutzends schwer bewaffneter Gefolgsleute in ihr Sichtfeld trat. Er wirkte gelöst, beinahe heiter, und er hatte auch jeden Grund dazu, denn es waren weit und breit keine Betas und Gammas zu sehen, die jetzt noch hätten eingreifen können.
»Oh«, machte Uruhard. »Keine Samurai. Seine Leibgarde.«
Sie wurden Exekutoren genannt und machten ihrem Namen alle Ehre, wie man hörte. Weitaus mehr als nur eine Leibgarde waren sie eine Truppe dem Sire ergebener Schläger, die vor nichts zurückschreckten, um ihrem Herrn dienlich zu sein. Kein Ehrenkodex, keine Regeln, es galt allein das Wort des Sire – und wie dieses ausfallen würde, war mittlerweile allgemein gefürchtet.
Grobschlächtige Gestalten, massiv gebaut, mit Klingen aller Art, Waffen, die sie mit Sicherheit gut beherrschten. Privilegierte Männer, die zu essen bekamen, gut schliefen, Frauen erhielten, ohne um sie werben zu müssen, und deren Lebensabend gesichert war, denn der Sire kümmerte sich um die Seinen. Darauf achtete er. Sie würden für ihn töten, ohne mit der Wimper zu zucken – jeden, auf den sich der Zeigefinger ihres Herren richtete, egal ob Mann oder Frau, alt oder jung. Diesen Preis zahlten sie gerne.
Ryk machte sich da keine Illusionen. Ihm sank der Mut. Ein Kampf wäre sinnlos. Konnte der Wachtmeister überhaupt kämpfen? Hybride waren dafür bekannt, dass sie sich verteidigen konnten, wenn es darauf ankam. Sia würde sich auf jeden Fall wehren. Doch allein der Gedanke daran, dass diese Schlächter ihre ätherische Gestalt in Stücke hacken würden, ließ in ihm Übelkeit aufsteigen.
Aus einer spontanen Regung heraus trat er vor, beide Hände erhoben, damit der Sire sah, dass er nichts im Schilde führte.
»Springer!«, sagte der Herr von Stink und seine Mundwinkel verzogen sich verächtlich. Er winkte seinen Männern, die sich im Halbkreis um ihn herum aufstellten. Zwei trugen große Laternen, die die unheilvolle Versammlung in einen fahlen Schein tauchten. »Mitgesprungen, mitgehangen, wenn ich das mal so sagen darf. Du hast kein Glück in der Wahl deiner Freunde. Willst du Abbitte leisten, um Gnade betteln?«
»Ich möchte vermeiden, dass hier heute Abend jemand stirbt«, sagte Ryk. Er sprach es laut aus, mit fester Stimme, und gerade deswegen hörte er sich an wie ein Fremder, dem er nur lauschte. Es war, als würde er sich selbst aus der Ferne beobachten. Ihm war auf einmal furchtbar kalt.
Der Sire tat so, als würde er über diese Worte nachdenken, doch er konnte niemanden täuschen.
»Ich
möchte das nicht
vermeiden. Ich denke, jetzt ist nicht die Zeit für Gnade. Nein, ich bin davon überzeugt, dass Gewalt unausweichlich sein wird. Armer kleiner Springer. Aber Ihr habt mich auf meinem eigenen Gebiet erniedrigt, habt Euch meinem Willen widersetzt. Das ist nicht akzeptabel. Ihr werdet jetzt an einem dafür sehr geeigneten Ort sterben, hier, auf der Müllhalde. Da modert dann zusammen, was zusammengehört.« Der Sire kicherte. Er war sehr von seinen Wortspielen eingenommen. »Allein die Art Eures Todes ist verhandelbar. Meine Leute sind Profis. Es kann ein schneller, absolut schmerzfreier Streich werden, eine Gnade. Oder ein schön langsames und blutiges Ausweiden. Dann haltet Ihr Eure Gedärme in Händen und fragt Euch, ab welchem Zeitpunkt Euer Leben aus den Fugen geraten ist. Die Antwort lautet: als Ihr Euch mir widersetzt habt. Gebt mir ohne Widerworte die Karte und alle anderen Wertgegenstände. So zeigt Ihr Eure Reue und ich will in unser beiderseitigem Interesse die gnadenvolle Variante befehlen. Widersetzt Ihr Euch, versucht zu fliehen oder sonst irgendwelche Tricks, wird es eklig. Wie ist Eure Wahl?«
Er sah sie alle abwartend an. Der Sire scherzte nicht. Ryk fiel kein weiteres Wort mehr ein. Die Kälte lähmte ihn und er sah seinen Tod voraus. Er versuchte, ein Zittern seines Körpers zu unterdrücken, aber er war jetzt kein Vorbild.
»Lasst den Jungen gehen«, sagte Uruhard. »Ich stelle mich und kooperiere, aber lasst den Jungen gehen.«
»Ja«, hörte Ryk die sanfte Stimme Sias. »Der Springer ist da reingeschlittert. Verschont ihn und wir geben Euch alles, was Ihr möchtet, Sire.«
Der Herr von Stink sah sehr selbstzufrieden von einem zum anderen, dann drehte er sich halb um und sprach zu seinen Leuten.
»Seht ihr? Am Ende haben sie alle Angst und erkennen nur noch meine Macht an! Warum können nicht alle von Anfang an vernünftig sein und schlicht tun, was ich von ihnen verlange? Mir macht so was doch auch keinen Spaß.«
Einer der Exekutoren nickte. »Wie lauten Eure Befehle, Sire?«
»Hm.«
Der Herr von Stink musterte erneut seine drei Opfer. Dann schüttelte er langsam den Kopf. Er nahm sein weißes Tüchlein, das er wieder unverwechselbar in einer Hand hielt, und tupfte sich mit einer gleichermaßen sinnlosen wie affektierten Geste die Lippen ab, ehe er sprach.
»Nein, nein«, sagte er dann. »Ihr müsst alle sterben. Diese Karte … diese ganze Idee … sollte nicht in die Hände dummer Idealisten geraten. Ich habe es immer gesagt. Alles muss mit Euch sterben. Wir wollen doch nicht, dass unnötige Hoffnungen die Ordnung in Metropole 7 untergraben. Hoffnung führt ebenso wie Verzweiflung leicht zu Revolutionen. Das würde mir doch sehr widerstreben.« Er streckte die flache Hand aus. »Die Karte und alles andere. Jetzt, und Ihr sterbt ohne Schmerz. Aber jetzt sofort.«
Sia sah Uruhard an, traurig und mutlos, ein Anblick, der Ryk berührte, trotz seiner eigenen Angst. Uruhard sah Ryk an, traurig und um Entschuldigung bittend, eine stumme Regung, die dennoch beim Springer ankam. Ryk sah beide an, einen nach dem anderen, Sia etwas länger, den Hauch einer verlorenen Hoffnung im Herzen, was hätte sein können, wenn sie sich ein wenig länger gekannt hätten. Der Sire sah seine ausgestreckte Hand an – die von einer Klinge vom Arm getrennt wurde, den Strom von Blut, der aus dem Stumpf schoss – und öffnete den Mund zu einem Schrei, der in weiterem Blut erstickt wurde, ein Gurgeln nur, als eine Klinge seinen Hals durchbohrte.
Eine Klinge, lang und unendlich dünn, die aus Sias Arm geschnellt war.
Die Exekutoren schrien auf. Sie zogen ihre Klingen und es wurde gefährlich auf dem Müllfeld in dieser dunklen Nacht. Ryk stolperte zurück, spürte Blut an seinen Händen und brauchte eine Weile, bis er merkte, dass es nicht seins war. Dann krachten die Laternen zu Boden und die Beleuchtung erlosch. Er sah nur Schemen, hörte Ächzen und Grunzen und Schreie des Schmerzes, das Geräusch von brechenden Knochen, von Gewebe und Sehnen, die durchschnitten wurden, ein seltsam reißender Laut, das Krachen, als ein Schädel mit etwas Hartem Bekanntschaft machte. Körper fielen zu Boden und Leben erloschen. Schreie zeugten von Schmerz, ihr Abbruch von …
Dann war es vorbei. Es gluckerte. Ryk wollte gar nicht wissen, woher dieses Geräusch kam.
Jemand stöhnte.
Ein heftiger Fußtritt, ein hässliches Knacken und das Stöhnen verstummte.
»Stirb doch leise!«, sagte eine Stimme missmutig. »Stirb leise und stirb schnell.«
Ryk kannte die Stimme. Mit klebrigen Fingern holte er seine Lampe hervor. Der Lichtkegel traf direkt auf Momos massigen Leib, als er sich Reste von frischem Gehirn von der Tunika wischte, eine unbeholfene und sinnlose Geste, die alles noch viel mehr verschmierte.
Sie hatten Hilfe bekommen.
Ryk versuchte, dankbar zu sein.
»Hallo«, sagte der Defo und brachte ein Lächeln zustande, was ihn nur noch gruseliger aussehen ließ. »Diese Männer waren böse. Sehr böse.« Er sah Sia an. »Sie hätten dich getötet. Das geht nicht. Du singst so schön. Das geht einfach nicht.«
Er beugte sich zu einem der Toten hinab und nestelte mit geschicktem Griff einen Beutel von seinem Gürtel. Dass darin die wertvollsten Habseligkeiten des Verstorbenen enthalten waren, stand außer Zweifel. Und dass Momo sehr genau wusste, wie man aus einer Situation profitierte, eben auch. Er war ein Defo, aber er war auch ein Kind von Metropole 7. Hier lernte jeder schnell, die Gelegenheit zu nutzen.
»Du …«, begann Ryk und räusperte sich. So ein Gemetzel – er stand noch ganz im Bann der Ereignisse. Er hatte viel gesehen, viele unschöne Dinge. Aber in Metropole 7 herrschte eine gewisse Ordnung. Niemand lief metzelnd durch die Straßen, oder jedenfalls kam er nicht weit, wenn er es tat. Daher war Gewalt in diesem Ausmaß kein täglicher Anblick. Nicht einmal ein wöchentlicher. Tatsächlich war er noch nie mit derlei konfrontiert worden.
Momo schaute Sia unbekümmert an.
»Der Sire hatte eine Tasche. Er war der Chef. Du solltest nehmen, was ihm gehörte. Er wollte dich töten.« Momo verzog die Lippen und zeigte jetzt Verachtung. »Er braucht nichts mehr.«
Sia trat vor, ihr Gesicht hart, aber nicht ohne Zustimmung, nicht ohne Erleichterung, und als sie an Momo vorbeiging, legte sie ihm in einer kurzen Geste die schlanke Hand auf den Arm und drückte zu. In Momos Augen leuchtete Dankbarkeit auf. Dann folgte sie seinem Rat und beugte sich über den Körper des Sire. Dem hatte der Defo nicht nur die Hand abgehackt, sondern danach auch den Schädel zertrümmert. Der Kopf des toten Herrn von Stink sah jetzt ein wenig aus wie der seines Mörders, nur eben tot.
Sia öffnete seine reich bestickte Jacke und ignorierte das Blut, während ihre grazilen Finger kundig über die Leiche tanzten. Es hatte etwas ungewollt Erotisches und Ryk konnte den Blick nicht von ihren Bewegungen abwenden. Dann zog sie eine flache Tasche hervor, die sich der Sire um den Bauch gebunden hatte, für jeden unsichtbar und ganz sicher nicht leicht zu stehlen. Momo hatte recht gehabt. So ein Türsteher sah viel. Und ein Defo wurde im Regelfall nie richtig beachtet. Für Leute wie den Sire war er nicht mehr als ein bewegliches, atmendes Möbelstück.
Ryk schwor sich, diesen Fehler niemals zu machen.
Er konnte nicht sehen, was in der Tasche war, Sia ließ sie sofort in ihrer eigenen Kleidung verschwinden. Vielleicht würden sie später Gelegenheit haben, sich um die Beute zu kümmern. Er ging davon aus, dass ein dickes Bündel VE darin enthalten war. Geldnot war jedenfalls nicht ihr Problem.
Ryk widerstand der Versuchung, sich ebenfalls zu bereichern. Der Gedanke, die zermatschten Körper der Toten zu durchsuchen, bereitete ihm Übelkeit. Er war für die Dunkelheit dankbar, und dafür, dass sie nur wenig Licht machten, um keine neugierigen Blicke auf sich zu ziehen.
»Momo«, sagte Sia. »Wir müssen die hier verschwinden lassen.«
Der Defo machte eine vage auszumachende, ausholende Bewegung mit beiden Armen.
»Überall Leichen. Wir schieben sie in die Müllhalde und bedecken sie mit dem Abfall des Hives.« Momo bleckte die Zähne, man sah sie als helle Flecken in der Schwärze seines ungleichmäßig beleuchteten Gesichts. »Abfall zu Abfall. Wie es sich gehört.«
Der Defo hatte eine sehr zynische Sicht auf die Welt. Wer wollte es ihm verdenken? Aber seine Worte entsprachen zu sehr den Äußerungen des Sire, als dass sich Ryk darüber amüsieren konnte. Ihm war nicht mehr so kalt. Jetzt war ihm schlecht. Es stank sehr nach Blut und Urin.
»Kannst du …?«, fragte Sia.
»Ich bin stark«, erwiderte Momo und begann mit einer Arbeit, zu der sich Ryk niemals hätte aufraffen können. Sia leuchtete ihm den Weg. Sie fanden eine Kuhle, aus der die Hybriden wahrscheinlich jüngst etwas geborgen hatten. Die Leichen fanden darin alle Platz. Momo bedeckte sie mit organischem Material, bis die Kuhle aufgefüllt war. Er verteilte einige besonders verweste, extrem stinkende Organfetzen über der Fläche. So schnell würde sie keine Interessenten anziehen. Spuren zu verwischen war nicht nötig. Alles hier war bedeckt von Blut und verschiedenen organischen Flüssigkeiten, Spuren der Hybriden, die sich hier auf die Suche begaben. So lange sie keine anderen Hinweise hinterließen – und Sia hatte darauf geachtet, dass Momo alles mit vergrub –, würde man die Leichen nicht so schnell finden.
Ein kleiner Zeitgewinn. Vielleicht genug, um nach Stink zurückzukehren, wenn alles getan war. Vielleicht auch nicht. Sie hatten den Sire getötet und die Tatsache, dass es in erster Linie Momo gewesen war, würde niemanden interessieren.
Also besser nichts riskieren.
»Ich komme mit!«, sagte Momo, als die grausame Arbeit getan war. Alles stank nach Blut und Eingeweiden und Ryk fragte sich, ob er diesen Geruch jemals wieder loswerden würde.
»Du kommst mit«, bestätigte Uruhard. »Du hast unser Leben gerettet. Es nützt wohl nichts, dir zu sagen, dass wir eine sehr gefährliche Reise vor uns haben?«
»Gefährlich ist gut. Ich bin stark. Ich komme mit.«
Damit war vonseiten ihres neuen Gefährten wohl alles gesagt. Ohne weitere Diskussionen machten sie sich wieder auf den Weg, allesamt froh, den Berg an Leichen hinter sich zu lassen, den ihr neuer Freund gerade produziert hatte.
Die ganze Sache, so fand Ryk, lief mehr und mehr aus dem Ruder.
Momos Anwesenheit hatte aber gerade deswegen etwas sehr Beruhigendes. Doch die Tatsache, dass es gut war, jemanden dabeizuhaben, der schnell und effektiv töten konnte, war wiederum sehr beunruhigend.
Ryk wusste nicht mehr, was er fühlen sollte.
Und dann war da dieses Gefühl, dass ihn anfiel, als er sich mit den anderen abwandte und sie sich auf den Rückweg machten. Es war der Instinkt eines Springers, der vor einer wichtigen Bewegung auf dem Muskelzug etwas Wichtiges vergessen hatte und nicht richtig vorbereitet war. Er konnte seinen Finger nicht drauflegen, aber …
»Sagt mal«, wisperte er. »Wie viele Protektoren waren das gewesen?«
Stille antwortete ihm. Dann, Sia: »Ich habe sechs getötet.«
»Ich habe nicht gezählt«, sagte Momo. »Aber ich habe sechs begraben.« Uruhard schwieg.
»Sechs mit oder ohne den Sire?«, hakte Ryk nach.
»Oh«, machte Sia.
Dann sagte niemand mehr etwas. Ihnen war einer entwischt.