12
Nach einem mehrstündigen Marsch durch dunkle Gänge, den Anweisungen des Kommandokerns folgend, kamen sie schließlich wieder an die Oberfläche. Ryks letzte Tat war gewesen, der alten KI die Anweisung zu geben, sich nach ihrem Verlassen der Anlage wieder selbst abzuschalten und auf eine erneute Autorisierung zu warten. Es hatte etwas Tragisches, denn sollte der unwahrscheinliche Fall, dass Ryk hierher zurückkehren würde, nicht eintreten, war dies gewissermaßen das endgültige Todesurteil.
Sie kamen weder im Hive noch in der Stadt heraus, sondern am Rand von Metropole 7. Sie hatten einen halbkreisförmigen Bogen geschlagen, der unter einem Hügel endete. Niemand hatte gewusst, dass hier ein Ausgang verborgen war, und nur die Lagehinweise, die ihnen die alte KI der Anlage zur Verfügung gestellt hatte, wiesen sie darauf hin. Von außen war die Tür nicht zu erkennen und Momo hatte einiges an Geröll und verwachsenen Pflanzen aus dem Weg räumen müssen, ehe sie ans Freie treten konnten. Eine große Erleichterung für sie alle. Der stundenlange Weg durch das unterirdische Labyrinth war deprimierend gewesen, nicht einfach nur anstrengend. Sie hatten einige weitere Skelette gefunden, ein Anblick, an den sich alle recht schnell gewöhnt hatten, dann aber waren da die Graffiti gewesen. Die Soldaten hatten sich vor ihrer Evakuierung durch Henderson noch einmal an den Wänden verewigt. Es musste eine schwere Zeit gewesen sein, den Hive über sich wissend, mit der Gewissheit, den Kampf um die Erde verloren zu haben. Ihre Wandzeichnungen und Notizen drückten diese Gefühle auf unterschiedliche Weise aus. Die Verlierer hatten geflucht, gefleht und vor allem verzweifelte Nachrichten an verschollene Angehörige hinterlassen, die sie wahrscheinlich für immer verloren glaubten. Hoffnung war ein schlimmes Gefühl, es führte zu Illusionen, die einen wechselweise vorantreiben oder niederschmettern konnten. Die an die Wand gekrakelten Botschaften – Aufschreie, Aphorismen, mal zynisch, mal naiv und oft genug anrührend – legten darüber beredt Zeugnis ab. Ryk hatte sie alle gelesen und war das eine oder andere Mal stehen geblieben, um sie genauer zu studieren. Er fühlte sich auf eine seltsame Weise dazu verpflichtet. Es musste doch jemanden geben, der den Altvorderen Respekt zollte und ihre Botschaften zumindest zur Kenntnis nahm. Es sollte nicht alles völlig vergebens gewesen sein.
Henderson, die legendäre Gründergestalt von Metropole 7 und Ryks Urahn, bekam ebenfalls sein Fett weg. Nicht alle schienen damals mit der Anordnung der Evakuierung einverstanden gewesen zu sein. Manche forderten weiteren Widerstand gegen den Hive, andere bezichtigten den Kommandanten der Feigheit. Sarkastische Kommentare über seine Führungsschwäche waren keine Seltenheit und Ryk fühlte sich dadurch eigentümlicherweise persönlich angegriffen. Er las irgendwann darüber hinweg, aber er versuchte, zu verstehen, wie sein Vorfahr entschieden hatte und warum – und wie er sich dabei gefühlt haben mochte. Es war für Ryk sehr schwer, sich richtig in diese Rolle zu versetzen. Es war alles so weit weg. Eine ganz andere Zeit.
Aber durch ihn war sie trotz all der Jahre mit dem Hier und Jetzt verbunden, eine Verbindung, die er niemals mehr würde lösen können.
Es war nicht so, dass der Alte Henderson jemals ein besonderer Held für ihn gewesen war. Eher eine mythische Gestalt, Teil des lückenhaften Unterrichts, den er genossen hatte. Jetzt, wo ihm klar wurde, wie seine eigene Beziehung zu diesem Mann war, war er plötzlich greifbar, noch greifbarer durch den Besuch der unterirdischen Anlage, die ihm näherbrachte, was damals hier vorgefallen war. Ryk hatte nie so etwas wie ein Geschichtsbewusstsein gehabt, die Vergangenheit war nur eine abstrakte Vorstellung gewesen, Fetzen von Geschichten ohne große Relevanz.
Das hatte sich jetzt ganz grundsätzlich geändert. Alles hier atmete Geschichte. Er atmete Geschichte. Er war nun ein untrennbarer Bestandteil davon.
Er wusste aber noch nicht genau, was das für ihn bedeutete.
Als sie die Anlage verließen, brach die Nacht herein. Es war ein langer Tag gewesen und Ryk spürte die Müdigkeit in seinen Knochen. Aufregung, Anstrengung, Angst – alles Einflüsse, die irgendwann ihren Tribut forderten. Als sie die Lichter von Metropole 7 vor sich sahen, blieben sie stehen und wirkten alle drei für einen Moment ratlos.
»Was tun wir jetzt? Wir können nicht einfach einen Gleiter klauen«, sagte Ryk.
»Heute passiert gar nichts mehr. Wir müssen uns ausruhen. Nach Stink können wir nicht zurückkehren, aber die anderen Stadtteile müssten erst einmal für uns sicher sein. Der Herr von Stink war nicht gerade eines der beliebtesten Ratsmitglieder und niemand wird ihm eine Träne nachweinen«, erwiderte Uruhard. »Und die anderen Stadtherren mischen sich ungern in die Angelegenheiten ihrer Kollegen ein, wenn es sich vermeiden lässt.«
»Aber der Wachtmeister ist desertiert«, erinnerte ihn Ryk. »Das geht alle was an.«
»Denkst du wirklich, ich wäre der Erste?« Uruhard lachte trocken. »Sie erzählen es nicht groß herum, aber die Fluktuation auf diesem extrem langweiligen und sehr stationären Posten ist weitaus höher, als du vielleicht annimmst. Es ist ärgerlich, aber nicht so ungewöhnlich. Ich habe Freunde und Bekannte, bei denen ich immer wohlgelitten bin. Wir sollten einen Ort finden, an dem wir in Ruhe Pläne schmieden können. Andererseits muss das wohlüberlegt sein, ich will ja auch niemanden in Schwierigkeiten bringen.«
Uruhard verstummte und zog die Stirn kraus, während er angestrengt nachdachte. Auch Sia warf einen langen, sinnierenden Blick auf den Stadtrand. Schweigen senkte sich über sie.
Ryk sah von Uruhard zu Sia und zurück, dann dämmerte es ihm. »Ihr habt euch über diesen Schritt noch gar keine Gedanken gemacht«, platzte es aus ihm heraus. »Ihr habt nie damit gerechnet, so weit zu kommen und so viel zu erfahren.«
»Wir … haben größere Fortschritte gemacht als erwartet«, gab Sia mit betretenem Gesichtsausdruck zu. »Ich gebe zu, dass ich … angenehm überrascht bin.«
Ryk schlug die Hände zusammen und schüttelte den Kopf. »Ich glaube es nicht! Da lockt ihr mich mit einem von langer Hand vorbereiteten Plan in die Falle und benutzt mich, aber im Grunde habt ihr niemals damit gerechnet, erfolgreich zu sein.«
»Das ist … leider nicht ganz falsch«, gestand nun Uruhard. »Wir müssen uns wohl bei dir entschuldigen. Andererseits haben wir gewiss nicht vorhersehen können, dass uns der Sire in die Quere kommt – und plötzlich sein Blut an unseren Händen klebt. Das kannst selbst du nicht von uns erwarten, Ryk.«
»Ich möchte gar keine Entschuldigung. Höchstens dafür, dass ihr nicht weit genug geplant habt. Vor jedem Sprung wäge ich die Risiken ab. Das ist eine Angewohnheit, die ich euch auch empfehlen würde.« Ryk spürte beinahe so etwas wie Triumph. Auch Sia und Uruhard kochten nur mit Wasser. Das war eine ungemein beruhigende Erkenntnis. »Wir stehen also jetzt wieder am Anfang.«
»Das kann man so sagen«, murmelte Sia.
»Dann weiß ich
jemanden, der uns helfen kann. Der uns aufnimmt. Und der für den Sire oder irgendeinen der anderen Herren von 7 wenig bis nichts übrighat. Wir sollten zu Theosius gehen.« Ryk zeigte auf die Stadt. »Sein Haus ist nicht weit von hier, ich kenne die Gegend.«
Uruhard und Sia starrten Ryk entsetzt an, Momo beteiligte sich nicht, denn er wusste wahrscheinlich gar nicht, von wem der junge Springer da sprach, obwohl Ryk sich mittlerweile ermahnte, keine voreiligen Schlüssen über den Defo mehr zu ziehen. Der Wachtmeister und die Sängerin aber kannten den Namen ganz gewiss.
»Woher kennst du Theosius?«, wollte der Bärtige wissen.
»Ich habe ihm Nachrichten gebracht, dreimal.«
»Er hat dich vorgelassen?«
»Er liest gerne Briefe und es gibt noch genug, die ihm schreiben.«
Uruhard räusperte sich. »Theosius ist geächtet.«
Das dachten sie alle. Aber Ryk wusste es ein wenig besser, denn Theosius hatte sich stets als leutseliger und freundlicher Gastgeber erwiesen.
»Er wurde gestürzt. Er lebt und ist guter Dinge. Keiner der Herren mag ihn besonders. Viele andere misstrauen ihm. Sein Leben unterliegt gewissen Restriktionen. Aber er ist keinesfalls geächtet.«
»Das ist eine interessante Interpretation«, sagte Sia. »Wenn ihn keiner mag und ihm viele misstrauen und er alleine und zurückgezogen in seinem Haus lebt, wie ein Überbleibsel aus einem bösen Traum, dann ist er geächtet.«
»Viele hätten es wohl gerne so. Weil sie ihn nicht töten konnten und weil sie immer noch Angst davor haben, es zu tun. Es gibt genug Leute, die noch an seine Ideen glauben und die viel Ärger machen würden, wenn er gewaltsam sterben sollte. Also, er ist da, er lebt, er spricht und er hat ein Haus, das keiner betritt, der nicht über seinen Schatten zu springen imstande ist. Ich weiß, wie man hineinkommt. Theosius ist unser Mann.«
»Wer ist das?«, fragte Momo nun langsam, nachdem er dem Austausch zugehört hatte. Ryk nickte. Es war nur recht und billig, wenn man den Defo einbezog. Er hatte sich die gleiche Behandlung verdient.
»Theosius war der Erste Regent von Metropole 7«, sagte Sia.
»Es gab einen Ersten Regenten?«
»Etwa drei Wochen lang. Dann haben ihn die Stadträte gestürzt. Die Bevölkerung hat damals große Hoffnungen auf Theosius gesetzt, aber es fehlte ihm an Macht, an Durchsetzungsvermögen.«
Momo hob seinen Knüppel. Er hatte ihn sich aus den Schrottteilen im unterirdischen Hauptquartier herausgefischt, mit scharfen, schartigen Kanten. Er lag offenbar gut in seiner Hand. »Das da.«
»Das auch. Er entging dem Tod, da er viele Sympathisanten hatte und die Räte einen langwierigen Bürgerkrieg vermeiden wollten. Eine vernünftige Einstellung. Er wurde in sein Haus verbannt, für drei Jahre. Die sind um, aber er lebt dort immer noch sehr zurückgezogen. Viele denken wahrscheinlich, er sei tot.« Sia sah Ryk an. »Er ist doch noch am Leben, oder?«
»Vor zwei Monaten wirkte er recht lebendig auf mich. Wir haben Tee getrunken. Es war richtiger Tee.«
»Er hat seine Gönner.«
»Armselig lebt er nicht. Das Haus ist groß.« Ryk sah seine Freunde bedeutungsvoll an. »Und ich habe das Gefühl, dass Theosius Sympathie für jene haben dürfte, die den Lord von Stink getötet haben. Wenn ich mich richtig erinnere, war dieser sehr eifrig dabei, als es um den Sturz des Ersten Regenten ging. Zu viel Sympathie bei den einfachen Leuten erschien dem Sire gewiss schon immer verdächtig und Theosius zu stürzen dürfte seine vorzüglichste Pflicht gewesen sein.«
»Vorzüglichste Pflicht?« Sia zwinkerte Ryk zu. »So gewählte Worte?«
»Theosius’ Worte. Deswegen meine ich ja – wir sind dort möglicherweise sehr willkommen.«
»Dann ist es entschieden«, sagte Uruhard, nachdem auch Sia keine Einwände erhob und Momo gleichmütig die ihm gegebenen Informationen verarbeitete. »Das Haus des Theosius.« Er nickte Ryk zu. »Du führst uns hin, ja?«
»Es ist nicht weit. Am Stadtrand, wie es sich für ein ordentliches Exil gehört.«
Und so machten sie sich auf den Weg.
Die abendliche Metropole 7 war angefüllt von den Gerüchen und Geräuschen jener Phase des Tages, zu der viele mit der Arbeit aufhörten und jene kurze Zeit nutzten, in der es nichts zu tun gab. Für viele aber war das Konzept von Freizeit entbehrlich: Die engen Straßen um die teilweise aus alten Ruinen wiederhergestellten, teilweise neu errichteten Gebäude waren voll mit Ständen, Garküchen und Verkäufern, die jedem Passanten ihre Bauchläden entgegenstreckten. Laternen mit Kerzen, flackernde, alte LED-Leuchten, die gelegentliche Karbidlampe, alle erhellten die engen Gassen unzureichend und boten ein ideales Biotop für Taschendiebe, vor allem jene, die noch sehr jung und sehr flink waren und durch die Menschenmassen schossen wie Fische durchs Wasser. Die Gespräche des Abends erfüllten die Straßen ebenso wie die Musik aus den halb geöffneten Zugängen zu Bars und Restaurants, kleinen Imbissen wie großen Trinkhallen, die nun ihr Geschäft machten. Auch auf den Straßen boten manche Künstler ihre Arbeit an, entweder in der Hoffnung auf ein Almosen oder auf ein Engagement. Der Geruch gebratenen wie auch verbrannten Fleisches hing schwer in der Luft, dazu die lockenden Versuchungen aus den Rauschhöhlen, deren dichte Dampfschwaden ihren Weg ins Freie fanden und Vergessen versprachen. Andere Etablissements boten traditionelle Vergnügungen anderer Art an, mit Männern und Frauen in knapper Bekleidung und mit meist gelangweilten Gesichtsausdrücken, die mechanisch vor rötlich schimmernden Lampen posierten. In den kleinen Krämerläden deckten sich Bürger mit Dingen des täglichen Bedarfs ein und überall wurde gehandelt, mal leise und konzentriert, mal laut und gestikulierend, aber in den meisten Fällen mit einem für beide Seiten zufriedenstellenden Ergebnis.
Dies war die Seite von Metropole 7, die Ryk mochte. Diese Mischung aus Gerüchen und Geräuschen, aus Zielstrebigkeit und Müßiggang, aus Zuversicht und völliger Selbstaufgabe, alles fokussiert auf die engen Gassen rund um die großen Zentralplätze, die jedes der höchst diversen Stadtviertel ausmachten. Hier zeigte die Menschheit, dass sie lebte. Vielleicht im Schatten des Hives, der in den abendlichen Himmel aufragte wie ein drohendes Menetekel und selbst meist keine Lampen aktivierte, wenn es dunkel wurde, sodass es den Bemühungen der Menschen oblag, sich und die Umgebung in ein fahlweißes Licht zu tauchen. Dazu kamen die schillernden Lampen der Muskelzüge, die unentwegt die Schienen entlangstrebten und die Fabriken da draußen mit dem Hive verbanden wie Blutbahnen. Diese schnellen, flackernden Lichter hatten Ryk damals als kleiner Junge besonders fasziniert. Sie hatten dazu geführt, dass er Springer geworden war.
Das und die Aussicht, damit einen Schlag bei den Frauen zu haben und gutes Geld zu verdienen.
Hatte nicht immer so funktioniert.
»Hier entlang!«, sagte Ryk. Sie befanden sich nun im Stadtviertel Schimmer, das unter der Herrschaft von Lea Taka stand, einer wohlwollenden Stadträtin, die dafür bekannt war, die Leute in Ruhe zu lassen, soweit sie keinen Ärger machten. Nicht zuletzt deswegen war Theosius’ Exil am Rande ihres Einflussbereiches eingerichtet worden, in der korrekten Annahme, dass beide Persönlichkeiten einander geflissentlich ignorieren würden und daher der Friede nicht in Gefahr sei.
So war es auch geschehen, ein Arrangement, das in aller Interesse zu sein schien.
Sie durchquerten das pulsierende Leben, ohne richtig an ihm teilzunehmen, und obwohl sie keinesfalls wie Fremdkörper wirkten, fühlten sie sich so. Sie ignorierten die Aufforderungen und Angebote und bahnten sich ihren Weg. Momo ging voran. Man machte ihm bereitwillig Platz und niemand versuchte, ihm etwas zu verkaufen, nicht einmal diejenigen, die besonders verzweifelt nach Geld Ausschau hielten. Defos, nahm man an, hatten kaum Geld und wenn, gaben sie es für die absoluten Notwendigkeiten des Lebens aus. In seinem Fahrwasser kamen sie gut voran. Allein Ryk empfand ein wenig Wehmut. Er wäre gerne eingekehrt, zu einer anderen Zeit und zumindest teilweise in anderer Gesellschaft, ohne drängende Probleme und Absichten auf der Seele. Es schien, als sei diese Gelegenheit ein für alle Mal verstrichen, und er fragte sich, ob er Metropole 7 jemals wiedersehen würde, sollte ihre abenteuerliche Absicht gelingen, Terra zu verlassen.
Der Gedanke schmerzte ihn ein wenig. Dies war seine Heimat. Eine stinkende, lärmende und nicht ungefährliche Heimat, aber der Ort, an dem man ihn kannte und er wusste, mit wem er es zu tun hatte. Ihn zu verlassen, dauerhaft möglicherweise, erfüllte ihn kurzzeitig mit einer Art von Grauen, das er nie zuvor empfunden hatte.
Er blendete das Treiben um sich herum aus, als er an diesem emotionalen Punkt angekommen war. Es erschien ihm nun wie eine Verheißung der Vergangenheit, die mit seiner Gegenwart und seiner Zukunft nichts mehr zu tun hatte.
Theosius’ Haus lag in einer Seitengasse, abseits des Trubels, und während das Pflaster der Straße selbst hier zu wünschen übrig ließ, zweifelte niemand, der das Gebäude betrachtete, am Rang des dort Lebenden. Eine weiß getünchte hohe Mauer mit einem meisterhaft geschmiedeten metallenen Gittertor als Zugang umgab das Grundstück. Die Verzierungen hatten möglicherweise eine Bedeutung, doch obgleich manche eine Wissenschaft daraus gemacht hatten, welche subtilen Botschaften der Exilant dadurch dem zufälligen Beobachter vermitteln wollte, war noch keiner darauf gekommen. Ryk vertrat die Auffassung, dass sie einfach nur gut aussehen sollten.
Ein kurzes Band hing neben dem Gitter aus der Mauer und Ryk zog daran, in der Gewissheit, dass irgendwo im Haus eine Glocke ihre Ankunft signalisieren würde. So hatte er bei seinen bisherigen Besuchen jedenfalls immer auf sich aufmerksam gemacht. Trotz dieser Erfahrung erfasste ihn doch eine gewisse Nervosität und die selbstsichere Zuversicht, die ihn bisher vorangetrieben hatte, verflog. Natürlich, Theosius blieb eine gute Wahl. Aber es war keinesfalls gesichert, dass er sich der vier Flüchtlinge annehmen würde. Möglicherweise wollte er sich mit dem Stadtrat gutstellen und würde sie nach Stink ausliefern. Es war sehr unwahrscheinlich, aber wer wusste schon, was die Mächtigen – oder die ehemals Mächtigen – wirklich dachten? Ryk war sich der Tatsache bewusst, dass es jetzt zu spät war, um seinen Vorschlag noch zu bereuen.
Jemand trat ans Tor, eine verhutzelte Gestalt in einer Art Kutte, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Die Stimme der Gestalt klang krächzend, alt und angestrengt. »Wer begehrt Einlass?«
Und normal reden konnte sie auch nicht. Niemand begehrte heutzutage Einlass. So wurde man, wenn man zu viel in den überlieferten Schriften las: unverständlich.
»Wir wollen Theosius treffen«, sagte Ryk.
»Ich fragte ›Wer?‹, nicht ›Was?‹!«, wies die Gestalt ihn sogleich zurecht. »Also?«
Ryk räusperte sich schuldbewusst. Er machte diesen Fehler jedes Mal.
»Ich bin Ryk, ein Springer. Ich habe Ihrem Herrn schon mehrmals die Post gebracht. Das da ist Sia, die hybridische Sängerin, und Uruhard, vormals Wachtmeister in Stink. Momo ist ein Defo.« Ryk zögerte, als die Gestalt nicht reagierte. »Er ist ungefährlich, bestimmt.«
Die Kapuze drehte sich in Richtung Momo und musterte ihn. Momo stand ungerührt da, den mächtigen Prügel an den Gürtel gebunden. Er wirkte alles andere als ungefährlich, das musste Ryk einräumen.
Es kam Bewegung in den Kapuzenträger. Er entriegelte die Gittertür und diese öffnete sich lautlos. Eine einladende Handbewegung folgte. Die Gruppe zögerte nicht.
Ein kurzer Steinweg führte direkt zur Tür des zweistöckigen Anwesens. Es war ein Neubau, was man an der einfachen Architektur erkannte. In den Jahrzehnten nach dem Sieg des Hives waren nur wenige künstlerische Erfolge gefeiert worden, denn das Überleben stand immer im Vordergrund. Häuser mussten funktional sein. Theosius war ein Kind seiner Zeit und so lebte er auch.
Er lebte ansonsten gut. Der Raum, in den die vier geführt wurden, hatte weiche Sessel und eine Art Vertäfelung. Der Teppich schluckte selbst Momos schwere Schritte. Ein großes Bild hing an der Wand, kein Gemälde, eines dieser 3-D-Szenarien aus alter Zeit, das ständig wechselnde Landschaften zeigte: Wälder, Strände, Wüsten, alles sehr lebensnah und schön anzusehen. Vielleicht gab es diese Gegenden sogar noch, auszuschließen war das nicht. Abgesehen von den Metropolen war die Erde dünn besiedelt. In gewisser Weise hatte sich die Natur sicher gefreut über die geringere Beanspruchung, bis der Hive seine Anlagen überallhin ausgebreitet und dort weitergemacht hatte, wo die Menschheit unterbrochen worden war. Ryk jedoch hatte nie das Bedürfnis gehabt, sich solche Ecken der Erde anzusehen. Er musste dort sein, wo Springer gebraucht wurden.
»Warten Sie hier«, krächzte der Alte und verschwand.
Sie mussten nicht lange ausharren. Momente später trat ein hochgewachsener Mann ein. Er trug einen klassischen Anzug, tadellos und adrett, und seine Frisur lag glatt wie auf den Schädel gemalt an. Das schmale Gesicht war rasiert, der dünne Schnurrbart wirkte gepflegt, nahezu wie ziseliert, und die blauen Augen schauten sie aufmerksam und klar an. Er roch angenehm und die Tatsache allein, dass man das überhaupt feststellte, unterstrich das distinguierte Auftreten des Hausherrn. So hatte Ryk Theosius in Erinnerung. Er war damals von seiner Persönlichkeit beeindruckt gewesen und heute fühlte er sich nicht anders. Er betrachtete verstohlen die Reaktion seiner Gefährten. Uruhard und Sia waren ebenfalls von ihrem Gastgeber eingenommen, daran bestand kein Zweifel. Momo wirkte wie immer ruhig, nicht eingeschüchtert, nicht irritiert. Er genoss den breiten Sessel, in den er sich niedergelassen hatte und aus dem er sich auch nicht erhob, als Theosius eintrat.
Niemand nahm es ihm übel.
Ihr Gastgeber sah sie sich der Reihe nach an. Ryk nickte er mit Erkennen in den Augen zu, vor Sia verbeugte er sich und auch Uruhard gegenüber zeigte er ein respektvolles Auftreten. Momo nickte er zu, was bemerkenswert genug war. Andere hätten sich höchstens bemüht, den Defo zu ignorieren.
»Ich bin überrascht über den Besuch einer so … interessanten Gruppe von Menschen.« Theosius ließ seinen aufmerksamen Blick von einem zum anderen wandern, als wolle er sich vergewissern, dass sie alle tatsächlich so interessant waren. Er nickte Uruhard zu. »Der Wachtmeister. Sollten Sie nicht in Ihrem Turm sitzen und aufpassen?«
»Es haben sich Umstände ergeben, die meine Abreise erforderlich machten.«
»Wie der Tod des Herrn von Stink?«
»Ich befürchte, dass es da in der Tat einen Zusammenhang gibt.« Es war völlig sinnlos, das abzustreiten, jedenfalls vor Theosius. »Der eigentliche Anlass ist etwas … wagemutiger.«
Theosius hob seine Augenbrauen. »Dann beglückwünsche ich Sie herzlich. Es gibt niemanden, den ich weniger geschätzt habe als diesen affektierten Bastard. Sein vorzeitiges Ende erfüllt mich mit großer Freude und Befriedigung. Haben Sie selbst Hand an ihn gelegt?«
»Nein, es war Momo«, sagte Uruhard mit einem Kopfnicken in Richtung des Defos.
Theosius ging auf den Sitzenden zu und reichte ihm die Hand. Momo regte sich, aus seiner stoischen Zurückgezogenheit gerissen.
»Der Herr von Stink war ein Mann, dem ich in herzlicher Abneigung verbunden war, ein Mann von großer Niedertracht und mit vielen schlechten Angewohnheiten. Ich hätte ihn liebend gerne selbst beseitigt, doch darin bin ich, wie in so vielem, gescheitert. Meinen Respekt, edler Momo, und meinen Dank.«
Momo starrte auf die ausgestreckte Hand. Zu viele Worte, zu lange Sätze, aber das Gefühl, das Theosius ausdrückte, kam zweifelsohne irgendwie bei ihm an. Zögernd ergriff er die schlanke Hand des Mannes, fast sanft, behutsam genug jedoch, um jedes Risiko einer Verletzung zu vermeiden. Er schüttelte sie mit der gleichen Bedachtsamkeit. Er ließ sie rasch wieder los, sicher froh, niemanden verletzt zu haben.
Theosius wandte sich wieder der Gruppe zu. »Sie sehen erschöpft aus und ich kann kaum meine Neugierde beherrschen, was Sie in diesen Rucksäcken verborgen halten, die alle das Emblem der Union tragen.« Und die so viel praktischer waren als jene, die sie unten im alten Hauptquartier zurückgelassen hatten. »Doch allzu große Neugierde ist unhöflich und wenn ich in meinem Leben auch nicht viel erreicht habe, so halte ich mich doch für einen guten Gastgeber.« Er klatschte vernehmlich in die Hände. »Ribaldo! Ribaldo!«
Das Hutzelmännchen erschien, als habe er nur darauf gewartet, herbeigerufen zu werden. Recht betrachtet musste es sich genau so verhalten.
»Herr.«
»Sag der Küche Bescheid, wir haben Gäste. Es soll hier aufgetragen werden. Bring den guten Wein aus dem Keller.«
»Den richtig guten?«
Theosius lächelte. »Der gute genügt erst mal.« Er sah Uruhard prüfend an. »Ich habe so eine Ahnung, dass es sich nicht um einen Höflichkeitsbesuch handelt. Ihre Erwartung ist eine andere. Mal sehen …«
»Es ist so …«, begann der Wachtmeister umständlich.
»Wir hatten gedacht …«, warf Sia ein.
Ryk sagte nichts, so lange alle durcheinander sprachen. Doch Theosius hob nur eine Hand.
»Natürlich. Ribaldo. Die Gästezimmer. Unsere neuen Freunde werden hier nächtigen.«
Ribaldo sah nicht besonders begeistert aus, aber dafür wurde er sicher auch nicht bezahlt. Er verbeugte sich und verschwand, und Ryk war sich absolut sicher, dass er die Anordnungen seines Herrn ohne Tadel ausführen würde.
»Danke«, sagte Ryk nur. Theosius lächelte.
»Wir wollen uns alle setzen und dann schildern Sie mir Ihr Anliegen. Und wenn der Abend voranschreitet, werde ich die hochedle Sia bitten, nur ein Lied zu singen, um das Herz eines alten Mannes zu erweichen. Ich habe viel von Ihnen gehört. In der Tat kannte ich Ihren Vater recht gut. Er war ein großer Mann, ein Mann voller Visionen.«
»Manche hielten ihn für verrückt«, sagte Sia trocken und setzte sich.
Theosius zuckte mit den Schultern. »Viele halten mich für verrückt. Nehmen wir also an, meine Sympathie beruht auf einem Gefühl von Seelenverwandtschaft.«
Theosius setzte sich auch, schlug die Beine übereinander und sah sich um. »Wer möchte beginnen? Ich verspreche, ein aufmerksamer Zuhörer zu sein und Sie nur zu unterbrechen, wenn es mir gar zu abenteuerlich wird und ich meinen Unglauben nicht mehr bändigen kann. Dazu müssen Sie sich aber sehr anstrengen. Ich ertrage manchen Irrsinn.«
Er lächelte dabei. Er hatte es nicht böse gemeint. Ryk vermeinte vielmehr, eine leichte Wehmut in den Worten ihres Gastgebers zu vernehmen. Das Exil war zweifelsohne nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Eine gute Geschichte bedurfte eines guten Erzählers und so viel Besuch bekam Theosius nicht, sonst hätte er bei den drei Botengängen Ryk nicht jedes Mal zum Essen eingeladen.
Uruhard begann und Sia unterstützte ihn, Ryk dagegen schwieg, ebenso wie Momo. Irgendwann zwischendurch gab es etwas zu essen und vor allem der Defo war sehr glücklich über das Angebot. Es waren »Reste«, aber im besten Sinne des Wortes, und es gab keinen Grund zur Klage. Sie waren Ausdruck echter Gastfreundschaft und wurden so angeboten und angenommen.
Als die Schilderung zu Ende war, sah Theosius sie alle an, ein wenig überrascht, ein wenig beeindruckt, aber weiterhin freundlich.
»Das ist eine interessante Geschichte. Und jetzt bitten Sie mich um Hilfe?«
»Deswegen sind wir hier«, sagte Uruhard.
»Es war meine Idee«, erklärte Ryk. »Wenn es Ihnen missfällt …«
»Aber nein. Es ehrt mich.« Theosius nickte. »Es ehrt mich wirklich. Und es ist faszinierend. Endlich jemand, der nicht immer nur an den nächsten Tag, das unmittelbare Überleben, die kleinen Erfolge und die kurzfristige Sicherheit denkt. Das ist so … erfrischend. Verrückt, ja, aber jede große Idee war am Anfang verrückt. Ich werde Ihnen das nicht vorwerfen, denn wie gesagt: Auch ich wurde des Irrsinns bezichtigt.«
»Sie werden uns also tatsächlich helfen?«, fragte Ryk.
»Was soll ich sonst tun? Mein Leben ist nur von begrenztem Reiz. Ich bin dem Schicksal sehr dankbar dafür, dass es Sie alle hierhergeführt hat. Sehr, sehr dankbar.«
Er sah auf ihre Gläser. »Noch Wein?«
Es war definitiv ein guter Tropfen, das fanden alle. Niemand hatte etwas dagegen, als ihr Gastgeber weitere Flaschen öffnete. Als alle versorgt waren, seufzte er und wirkte beinahe gelöst und heiter, in jedem Fall aber sehr zuversichtlich.
»Ich werde zwei Dinge tun. Zum einen werde ich mit Ihnen die Liste der Gleiter durchgehen, von deren Existenz ich sicher weiß, sodass wir schauen können, welchen man sich … ausleihen kann. Zum anderen sollten Sie alle einen Freund von mir kennenlernen, der uns möglicherweise helfen kann, die richtigen Vorbereitungen für die Reise zu treffen.«
»Uns?«, echote Ryk, darauf bedacht, ja nicht vorwurfsvoll zu klingen.
»Nein«, erwiderte Theosius und hob abwehrend die Hände. »Ich will nicht mitkommen. Ich habe einmal in meinem Leben für etwas großen Mut aufgebracht und bin daran gescheitert. Ich werde das kein zweites Mal fertigbringen, so reizvoll der Gedanke auch sein mag. Außerdem wird es in jedem Gleiter, den ich jemals gesehen habe, langsam voll, wenn die Gruppe noch größer wird. Aber lassen Sie mich in Ihrem Bunde der Fünfte sein – bis die Reise beginnt. Danach begleitet Sie meine Hoffnung.«
Er lächelte und erhob sich. »Sind Sie alle müde oder haben Sie noch Kraft für eine ganz außergewöhnliche Begegnung?«
Wer wollte angesichts dieser freundlichen Einladung Müdigkeit vortäuschen oder sich hinter tatsächlicher Erschöpfung verstecken? Sie hatten alle gut gegessen und es hatte sogar Instantkaffee aus alten Flottenbeständen gegeben. Das vakuumverpackte braune Pulver war heiß begehrt und da es ganze Warenlager voll davon gegeben hatte, war es auch immer noch im Umlauf. Es gab das Gerücht, dass man in der Nähe von Metropole 3 wieder begonnen hatte, die Kaffeepflanze zu kultivieren, doch bisher war davon noch nichts in 7 angekommen. Dass Theosius ein Leben in Luxus lebte, konnte durch wenig besser dokumentiert werden, als durch die kleinen silbernen Plastiktüten, die man aufriss und deren Inhalt, mit heißem Wasser aufgegossen, auf so aromatische Weise belebte.
Momo hatte sogar zwei Tassen bekommen. Der Defo hatte dafür den Wein abgelehnt. Dabei war doch anzunehmen, dass sein massiger Leib eine Menge vertragen konnte. Wie dem aber auch sei: Theosius war wahrlich ein großzügiger Mann.
»Dann folgen Sie mir. Hier entlang.«
Es ging hinaus ins Foyer und dann eine Treppe hinab, die hinter einer Paneltür verborgen war, die man auf den ersten Blick gar nicht als Zugang wahrnahm. Die Treppe war eng, aber gut beleuchtet, es ging vielleicht zwanzig Stufen in die Tiefe. Das Kellergeschoss war dann wieder wohnlich ausgebaut, mit weiteren Vertäfelungen und einem weichen Teppich. An der Wand hingen einige Gemälde, doch sie waren nicht allzu alt. Sie zeigten Szenen aus Theosius’ kurzer Regentschaft, manche auch ihn selbst, aber auf allen sah er sehr traurig aus. Es gab keine Gelegenheit, sich in diesen Anblick zu vertiefen, denn ihr Gastgeber führte sie direkt ans Ende eines Gangs. Vor einer schweren Metalltür blieb Theosius stehen. Sie wirkte gar nicht wohnlich, eher wie die eines Kerkers, soweit sich die Bewohner der Metropole den Luxus eines Gefängnisses noch leisteten. Theosius drehte sich um und wirkte nun ernst.
»Hier drin habe ich meinen Gast.«
»Es sieht eher aus, als wäre er ein Gefangener«, bemerkte Sia.
»Das ist er auch und Sie alle werden gleich verstehen, warum. Bevor wir hineingehen, müssen Sie daher etwas über den Hintergrund meines Gastes erfahren. Seine Existenz ist nicht allzu vielen bekannt, und egal wohin Sie Ihre Reise führt, es würde mich sehr freuen, wenn Sie die Tatsache, dass ich ihn hier beherberge, für sich behalten könnten.«
»Die Metalltür sieht sehr solide aus«, sagte Uruhard. »Schützt er Sie vor ihm oder ihn vor der Welt?«
Theosius nickte lächelnd. »Richtig. Eine berechtigte Frage. Lassen Sie es mich so sagen: Die Grenzen verschwimmen manchmal ein wenig. Es ist etwas von beidem. Mein Gast ist kein Mensch. Er ist Hive.«
Alle schwiegen und versuchten, zu verstehen, was der Mann damit meinte. Theosius wartete keine Fragen ab, sondern erklärte es in einem ruhigen, sachlichen Ton. Ryk merkte, welche Absicht der Mann verfolgte. Er wollte ihnen keine Angst machen. Gut.
Trotzdem. Die Metalltür war sehr solide. Und sie hatte drei dicke Schlösser. Das konnte schon ein wenig Furcht auslösen, wenn der nächste Schritt tatsächlich sein sollte, diesen Ort zu betreten.
»Der Hive ist kein Wesen in einer Zelle«, sagte Uruhard.
»Der Hive besteht aus Individuen, in gewisser Hinsicht jedenfalls, wenngleich es mit ihrer Individualität nicht weit her ist«, widersprach Theosius.
»Der Hive hat keine aktive Intelligenz«, beharrte Uruhard.
»Der Hive kann sich multiplizieren, adaptiert Technologie und passt sich seinen Gegnern an. Er breitet sich zielgerichtet aus und kommuniziert intern. Er kommunizierte nie mit uns und wahrscheinlich auch niemals mit jemand anderem und er scheint keine andere Absicht zu haben, als sich permanent auszubreiten, aber das, was unsere Wissenschaftler in ihrer Hilflosigkeit ›passive Intelligenz‹ genannt haben, greift zu kurz. Vor allem, wenn man tut, was mir gelungen ist.«
Theosius genoss das ein wenig. In seiner Stimme schwang Stolz mit. Er sah aus wie ein Wissenschaftler, der ein Experiment vorführte, und Ryk hatte zunehmend den Eindruck, dass es in genau diese Richtung ging.
»Sind Sie sicher? Es wurden immer wieder Hiveteile isoliert und gefangen genommen«, entgegnete nun Sia, die diese Diskussion mit plötzlicher Leidenschaft zu erfüllen schien. »Jeder Versuch einer sinnvollen Auseinandersetzung scheiterte, die abgetrennten Teile, wie Körperglieder, vegetierten nur vor sich hin und starben irgendwann.«
Theosius warf Sia einen eigentümlichen Blick zu. »Sie wissen viel darüber.«
»Die Hybriden haben immer ein großes Interesse am Wesen des Hives gehabt. Er ist in manchen Dingen wie wir.«
»Nur nicht so schlau«, warf Ryk ein.
»Hat uns nicht viel geholfen«, murmelte Sia. Dann, wieder an Theosius gerichtet: »Was haben wir also Ihrer Ansicht nach übersehen?«
Theosius zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, ob es übersehen oder nur zu spät entdeckt wurde oder man die falschen Schlüsse daraus gezogen hat«, sagte der Mann abwägend. »Ich behaupte nicht, besser und klüger zu sein als die Wissenschaftler der alten Union. Ich bin aber vielleicht etwas beharrlicher. Meine Hypothese war immer die folgende: Wir müssen bestimmte Steuerelemente des Hives isolieren, nicht irgendwelche Teile, sondern vor allem solche, die bewusst auf autonomes Handeln ausgerichtet sind. Wir müssen darüber hinaus eine gewisse Zeit dafür aufbringen, sie zu isolieren – nicht Wochen oder Monate, sondern Jahre. Und wir müssen sie während dieser Zeit stimulieren, damit sie nicht absterben. Das geht über den Erhalt des Körpers hinaus.«
»Moment«, sagte Uruhard nachdenklich. »Sie meinen demnach, dass ein abgetrennter Akteur des Hives vor allem deswegen nach kurzer Zeit abstirbt, weil ihm die geistige Stimulation fehlt?«
Ihr Gastgeber nickte eifrig.
»Der Hive hat ein massives, zentrales Eigenbewusstsein auf einer sehr niedrigen Stufe, das alles und jeden miteinander verbindet. Für die nichtautonomen Elemente ist das die normale und einzige Existenzform. Für jene, die aus Notwendigkeit zu einer gewissen Handlungsautonomie in der Lage sein müssen – wie mein Gast hier –, ist sie normal, aber nicht alternativlos.«
Uruhard hatte es nun auch erwischt, er beugte sich interessiert vor, ein interessiertes Glitzern in den Augen. Ryk schaute von Sia zu dem Wachtmeister und zurück und versuchte wirklich, dem Gespräch zu folgen und seiner Verwirrung nicht allzu sehr Ausdruck zu verleihen, dennoch fragte er schließlich nach, um nicht gänzlich abgehängt zu werden: »Wer oder was ist ein autonomer … ich meine, sie alle …«
»Nein, eben nicht alle.« Theosius drehte sich um und öffnete die Tür. Ryk zuckte dabei ebenso zusammen wie seine Gefährten, bis auf Momo, der bereit war, es mit wirklich jedem aufzunehmen.
»Gehen wir hinein?«
Die Zelle war groß, geräumig nahezu, und weder kalt noch abweisend. Sie hatte auch kaum Möbel: In der Mitte gab es eine Art Matte, die Wände waren schmucklos, aber an einer Wand hing ein riesiger Bildschirm. Er schaltete sich ab, als die Besucher eintraten, sodass Ryk nicht mehr mitbekam, was dort zu sehen gewesen war. Auf der Matte saß ein gut drei Meter hohes, muskulöses Lebewesen, halb Mensch, halb Maschine, mit einem Hautpanzer aus Metallplastik und langen, klauenbewehrten Händen, die es friedlich in seinem Schoß hielt. Das schmale, wie aus Stein gemeißelte Antlitz mit den auf dünnen Fühlern sitzenden Augen wirkte gelassen, vielleicht sogar etwas verwirrt, und der knochige, von einem metallenen Rahmen umgebene Mund mit den röhrenförmigen Lippen und jeweils zwei Mandibeln am Rand der Öffnung war geschlossen, wie in einer Mimik des Nachdenkens. Ryk wusste, dass die extrem flexible Mundöffnung sich auf ein Mehrfaches ausdehnen konnte, deswegen nannte man die Schocktruppen des Hives Großmäuler. Und der glühend rote Kamm auf dem haarlosen Schädel dieses Großmauls machte ihn zu einem »Feldwebel«. Ob er tatsächlich ein Kommandant oder doch nur ein farblich markierter, wandelnder Orientierungspunkt war, wusste Ryk nicht, aber sobald eine Gruppe Großmäuler eine gewisse Größe überschritt, wurde sie durch einen Feldwebel begleitet. Da dieser sich exakt genauso verhielt wie die anderen, hatte man nie darauf schließen können, ob er mehr war als nur der Erste unter Gleichen.
Wie es schien, hatte sich Theosius genau dieser Frage angenommen. Seine Worte ergaben jetzt langsam Sinn.
Der Mann breitete die Arme aus und zeigte auf das friedlich dasitzende Großmaul. »Ich darf Sie bekannt machen? Das ist mein Dauergast. Ich nenne ihn Oli.«
Als der Name fiel, ruckte der Kopf nach oben. Die Mundöffnung bewegte sich sanft, in einer fast schon fließenden Bewegung, als der Feldwebel zu einer Antwort ansetzte. »Ich fühl mich schön mit Oli. Ich verlass mich voll auf Oli. Das Leben ist schön, schön mit Oli.«
Ryk starrte den Feldwebel an. Eine gutturale Stimme, die tief aus dem Inneren des Körpers ertönte, kraftvoll, gleichzeitig aber unartikuliert, ungeübt. Das war nicht verwunderlich. Es war das erste Mal, dass er einen hatte sprechen hören. Und dann auch noch so einen unverständlichen Blödsinn.
Theosius lächelte entschuldigend. »Ich erkläre es gleich. Er kann sprechen und sogar Fragen beantworten. Er ist aber … auf Stimulation angewiesen und er hat … vielleicht nicht immer das Richtige gelernt. Ich musste experimentieren und am Ende blieb ich bei einer Methode hängen. Aber er lebt und es geht ihm gut.«
Er sah wohlgenährt aus, nicht dreckig oder verwahrlost, und die Fesseln, die seine Arme und Beine banden, endeten in langen Ketten, die einiges an Bewegungsfreiheit erlaubten. Oli schien sie gar nicht richtig wahrzunehmen, er beobachtete seine Besucher aufmerksam und nicht aggressiv.
Ryk sah Oli an, der auf eine allzu menschliche Art nickte.
»Wie der Hive, so der Oli!«, verkündete das Großmaul.
»Lassen Sie uns jetzt ein Gespräch führen«, sagte Theosius.
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