17
Das alte Parkdeck war eine wahre Fundgrube. Selbst Ryk, der die Leidenschaft der beiden alten Männer für antike Dinge nicht teilte, war sehr beeindruckt, als sie das weite, unterirdische Areal betraten, vollgestopft mit Dingen, die auf den ersten Blick nur an Gerümpel erinnerten. Vieles war tatsächlich hart an der Grenze zum Abfall anzusiedeln und Ryk hatte nicht den Eindruck, dass es Andhmergen mit seinen Auswahlkriterien allzu genau nahm. Das hatte andererseits aber auch zur Folge, dass ihm nichts entging, und sicher fand sich in mancher Kiste mit Elektroschrott die eine oder andere Preziose von Wert. Der Punkt war, dass sich der Sammler, hatte er diese Preziose erst gefunden, auch vom mehr oder weniger wertlosen Rest nicht trennen konnte. Stattdessen wurden hier unten wohl alle Dinge aufbewahrt, auf die jemals sein Blick gefallen war, frei nach dem Motto: »Das kann ich vielleicht noch mal gebrauchen« – und sei es nur, um etwaige Besucher wie Uruhard und Ryk zumindest anfänglich gehörig zu beeindrucken.
Zumindest dieses Ziel hatte er nun erreicht. Anfänglich.
Man musste aufpassen, nirgends dagegenzustoßen. Die Statik mancher Stapel sah gefährlich aus, mit unabsehbaren Konsequenzen, sollten sie unvermittelt in Bewegung geraten. Alles war so vollgestellt, dass nur schmale Gassen frei waren, und sie mussten an manchen Stellen hintereinandergehen. Es roch alt. Ryk hatte nicht gewusst, dass Alter einen eigenen Geruch hatte, aber jetzt wurde es ihm klar. Es war nicht einfach nur muffig. Tatsächlich war die Luft hier unten gar nicht schlecht.
Es war einfach alt.
Ihr Gastgeber war stolz. Das war ihm anzusehen. Er zeigte hin und wieder auf ein Stück, das ihm besonders am Herzen lag oder dessen Besonderheitswert er für die Uneingeweihten, also Ryk, hervorhob. Für den jungen Springer wurde es eine Geduldsprobe, die er mit mustergültiger Selbstbeherrschung überstand, bis sie in einer Ecke eine Reihe von Gleitern stehen sahen, alle in unterschiedlich schlechtem oder gutem Zustand, je nach Sichtweise. Mehr als die zwei, von denen Theosius gesprochen hatte, sicher ein halbes Dutzend. Jemand steckte bis zur Taille in einem Fahrzeug, dessen Karossiere aussah, als hätte man mehrfach eine Herde wilder Hivesoldaten darüber gejagt, und war mit etwas in dem Wrack beschäftigt. Wenn stimmte, was der Museumsdirektor angekündigt hatte, dann war es der Prozess des Ausschlachtens, der hier begonnen hatte und die ganze Aufmerksamkeit des Mannes zu beanspruchen schien. Er reagierte auf ihre Anwesenheit erst, als ein lautes Räuspern ihre Ankunft ankündigte.
Der Mann war drahtig, schmal, von kleiner Gestalt und sein Körper steckte in einem verschmierten und verdreckten Overall, der die verblassten Insignien der Streitkräfte trug, ein praktisches und ganz offensichtlich sehr haltbares Kleidungsstück. Sein Gesicht, umrahmt von einem wilden, blonden Bart und wirr abstehendem, lichter werdendem Haar, war runzlig, die Augen zu Schlitzen zusammengekniffen. Die Haut war ebenfalls dreckig, die Flecken wirkten frischer als die auf dem Overall und Ryk erkannte, dass dem Mann ein halbes Ohr fehlte. In seiner rechten Hand hielt er ein altes Multifunktionswerkzeug, ein echter Schatz, der auf jedem Markt erhebliche Summen einbringen würde, vor allem, da seine interne Stromversorgung noch zu funktionieren schien.
Er sah der Gruppe entgegen und wirkte absolut nicht überrascht. Hatte Kros sie insgeheim angekündigt? Ryk hatte nichts davon mitbekommen.
»Mit wem habe ich das Vergnügen? Oha. Den
kenne ich. Uruhard der Wachtmeister. Sollten Sie nicht auf Ihrem Posten sein? Ich wusste nicht, dass Ihre Amtszeit schon abgelaufen ist.«
Die Stimme war krächzend und schien hin und wieder mitten im Wort mit einem Kieks zu versagen, um dann unvermittelt in eine tiefe Fülle umzuschlagen, was aus den Sätzen einen unerwarteten, etwas dissonanten und durchweg anstrengenden Singsang machte. Ryk musste sich konzentrieren, um den Worten zu folgen.
»Es haben sich Dinge ergeben«, erwiderte Uruhard, »die eine Neuorientierung meines Lebens erforderlich machten.«
»Gehörte dazu, den Sire umzubringen?«, fragte der plötzlich dann doch gut informierte Mechaniker.
Uruhard blieb gelassen. »Ich habe keine Hand an ihn gelegt. Ich bringe keine Leute um. Ich war aber … zugegen.«
Uruhard sah offenbar keinen Sinn darin, seine Beteiligung, so indirekt sie auch gewesen sein mochte, in Abrede zu stellen, und der Mann im Overall nickte anerkennend.
»Der Sire war ein Arschloch. Ist nicht schade um ihn«, kommentierte er. »Es ist nur ärgerlich, wenn so was passiert. Politik, Macht, Verantwortung, das spielt alles mit rein. Ich würde mich von Stink fernhalten, so für die nächsten zwanzig Jahre. Am besten wäre wohl, Metropole 7 ganz zu verlassen, wenn Sie meinen Rat annehmen wollen.«
Er sah Theosius an und zögerte mit seinen nächsten Worten, ehe er anfügte: »Ich sehe, Sie suchen die Gesellschaft von Leuten, die sich gerne ins Abseits stellen.« Es lag kein Vorwurf in seinem Tonfall. Der Mann schien selbst mit dem Abseits gut zurechtzukommen. Er wirkte sehr entspannt.
»Wir haben in der Tat die Absicht, Metropole 7 zu verlassen«, sagte Ryk nun, weil er fand, dass er die Konversation nicht durchgehend alten Männern überlassen konnte. »Wir wollen sehr weit weg reisen und dazu benötigen wir einen Gleiter.«
Der Mann im Overall lachte. »Mit den Mühlen hier gibt es kein ›sehr weit weg‹. Einer ist noch ganz brauchbar, aber ich würde keine langen Strecken mit ihm zurücklegen wollen. Als Ersatzteillager ist er eher geeignet.«
Er zeigte auf eines der Fahrzeuge. Theosius stieß einen Pfiff aus und es war in diesem Falle ein Laut der Enttäuschung. Der Gleiter zeigte die Reste einer gelbgoldenen Lackierung und hatte wohl so etwas wie hellbraune Ledersitze gehabt, die jetzt reichlich zerrissen aussahen. Er musste irgendwann einmal ein durchaus manierliches Fahrzeug gewesen sein. Ryk war kein Fachmann und in der Tat war der Gleiter möglicherweise noch irgendwie flugfähig. So wie er aussah, konnte es sich aber um keinen besonders langen Flug handeln – und vor allem keinen in Regionen, in denen die Drachen auf sie warteten und sie ein waghalsiges Lande- oder Absprungmanöver zu fliegen hatten. Es war nicht die zerschrammte Karosserie, die diesen Eindruck erweckte, es war vor allem die gesprungene Passagierkanzel und die Tatsache, dass eines der beiden Schubtriebwerke seine Abdeckung eingebüßt hatte und einen Blick in das Innere offenbarte, der zeigte, dass dieser Gleiter nur halben Schub haben würde.
Der Mann erkannte ganz sicher die tiefe Enttäuschung in den Blicken der Besucher. »Sie wollten wirklich einen Gleiter, nicht wahr?«, fragte er interessiert. »Haben Sie denn einen Piloten? Die Automatik ist bei den meisten noch flugfähigen Einheiten hinüber und wenn sie noch funktioniert, dann ist sie nicht sehr zuverlässig. Sie brauchen jemanden, der fliegen kann.«
»Eins nach dem anderen«, brummte Uruhard. »Erst mal ein Gleiter, ohne nützt uns auch ein Pilot nichts.«
»Das eine bedingt das andere«, sagte der Mechaniker und kratzte sich hinter dem kaputten Ohr. »Wohin soll es denn gehen? Vielleicht kenne ich jemanden.«
Uruhard wechselte einen stummen Blick mit Ryk. Je mehr sie ihre Pläne in Umlauf brachten, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass all jene, die ihnen übelwollten, sich ihnen entgegenstellen würden. Wenn auch noch herauskam, dass sie voll funktionsfähige Schutzanzüge erbeutet hatten, würde die Jagd auf sie beginnen, und sei es nur aus blinder Gier. Andererseits …
Theosius räusperte sich. »Ich helfe ihnen. Das sollte doch genügen.«
»Ihr Ruf eilt Ihnen voraus, Theosius«, sagte der Mann im Overall. »Für mich sind Sie aber nicht halb so vertrauenswürdig, wie Sie meinen. Tatsächlich halte ich Sie für einen ziemlichen Spinner. Ihre kleine Revolution hat mehr zerstört als erschaffen.«
»Sie ist gescheitert.«
»Sie war zum Scheitern verurteilt.«
»Im Nachhinein betrachtet stimme ich Ihnen sogar zu«, gab Theosius erstaunlich ruhig zu. »Aber wissen Sie, damals, da hat man jeden Zweifel mit Hoffnung überdeckt. Hoffnung haben Sie doch bestimmt auch manchmal.«
Die Augen des Mannes verschleierten sich, als er an Theosius vorbei verloren auf die Schrotthaufen starrte, ohne sie zu sehen. Ryk kannte diesen Gesichtsausdruck von Menschen, die sich an einen tiefen Schmerz oder eine verlorene Sehnsucht erinnerten und für Momente davon absorbiert wurden, bevor sie in die Realität zurückfanden. Meist waren sie dann wütend auf jene, die die Erinnerung ausgelöst hatten, da sie diese normalerweise tief in sich begraben hatten, um sie möglichst zu vergessen.
Was nie funktionierte.
Der Mechaniker war nicht wütend. Er sah für den Augenblick sehr traurig aus, dann nickte er gemessen. »Ja, Hoffnung. Die kenne ich. Und Sie wollen irgendwohin fliegen, wo die Hoffnung sich erfüllen soll?«
»Wir wollen zum Letzten Admiral, in seine verborgene Festung«, sagte Ryk, einer spontanen Eingebung folgend. »Wir wollen den Hive besiegen und die Erde befreien.«
Stille. Keine andächtige Stille, sondern eine geschwängert durch gespannte Erwartung. Der Mechaniker sah Ryk an, als habe dieser nicht alle Tassen im Schrank, und vielleicht war das ja auch so.
»Den Letzten Admiral?«
»Das sagte ich«, erwiderte Ryk mit fester Stimme, denn er wollte den plötzlichen Zweifel nicht zeigen, der durch die Reaktion des Mechanikers in ihm geweckt wurde. Den hatte er nämlich eigentlich auch tief begraben und er sollte bleiben, wo er war.
Was nie funktionierte.
»Das ist interessant. Ich habe in meinem Leben schon viele Verrückte kennengelernt, aber so seriös wirkende Spinner wie Sie noch nie. Ich bin wirklich beeindruckt. Das passiert mir nicht sehr oft. Ich habe schon viel gesehen. Meinen Glückwunsch.«
Spott? Ja. Aber kein Hohn. Immerhin.
»Danke«, murmelte Uruhard trocken und warf Ryk einen strafenden Blick zu.
Eine Geste, die der Mechaniker durchaus mitbekam.
»Nein, so habe ich es nicht gemeint«, warf der Mann sofort ein. »Es war ernsthaft. Wirklich. Ich bin beeindruckt. Wozu genau
benötigen Sie den Gleiter?«
Ryk hatte sich bereits vorgewagt, also schadete es auch nicht, den Rest der Geschichte zu erzählen. Er beschränkte sich auf das Wesentliche, aber das war schon genug, um den Mann in andächtiges Schweigen zu versetzen. Irrte er sich oder wuchs mit jedem seiner Worte das Interesse des Mechanikers? Ryk fasste plötzlich neuen Mut. Das Schicksal mochte ihnen diesmal gewogen sein.
»Faszinierend. Wirklich. Sie wissen, dass der Hive die Drachen aufsteigen lassen kann? Ehe Sie auch nur zur Plattform kommen, von der die Sporenschiffe starten, werden Sie angegriffen.«
»Ein guter Pilot und ein gut ausgerüsteter Gleiter können es schaffen. Wir müssen nur abspringen und das Sporenschiff erreichen. Sobald wir drin sind, reagiert der Hive nicht mehr. Wenn es so klappt wie bei den Triebwürmern.«
»Sie sind Springer?«, fragte der Mechaniker mit einem wissenden Unterton. »Die Analogie könnte hinken, andererseits, wenn Sie das Steuergroßmaul schnell paralysieren …«
Er kannte sich aus, erkannte Ryk.
»Das dürfte gehen«, sagte der Mann dann nachdenklich. »Der Weg dorthin ist schwierig. Die Sporenschiffe selbst sind ohne voll funktionsfähiges Großmaul geistlose Roboter, die nicht einmal merken, ob sich jemand an Bord schleicht oder nicht. Das gleiche Prinzip, dass hier die Springer anwenden. So lange nichts beschädigt oder anderweitig in seinen Funktionen eingeschränkt wird, kann man mitreisen. Ist wie Ungeziefer.«
»Sie haben sich damit befasst?«, fragte Uruhard.
»Ich kenne die Geschichten. Und die Aufzeichnungen aus der Vergangenheit. Früher gab es noch viele Leute, die sich für so was interessiert haben. Heute ist vieles in Vergessenheit geraten. Deswegen mag ich meinen Freund Andhmergen so gerne. Er ist vom alten Schlag. Er will die Erinnerung bewahren, auch wenn er manchmal dabei etwas übers Ziel hinausschießt.«
Der Museumsdirektor räusperte sich leise, wirkte aber eher selbstzufrieden und geschmeichelt denn beleidigt. Die beiden mussten sich schon lange kennen, das Gefühl gegenseitiger Vertrautheit war quasi greifbar.
Ryk verbarg seinen Triumph. Sein Instinkt hatte ihn keinesfalls getrogen. »Können Sie uns helfen?«, fragte er den Mechaniker.
Der schaute ihn mit einem plötzlich sehr berechnenden Gesichtsausdruck an, der Ryks Euphorie sofort verfliegen ließ. Da war noch was.
»Das kann ich. Aber will ich es auch? Das hängt ganz wesentlich davon ab, ob Sie mir
helfen können und wollen.«
»Was können Sie uns denn anbieten?«, fragte Uruhard. In seiner Stimme lag immer noch ein Unterton des Misstrauens.
»Ich bin ein guter Pilot. Ich kann einen guten Gleiter organisieren. Einen, der nicht in der Luft zerbricht. Einen mit einer funktionierenden Autokanone, um die Drachen abzuwehren. Die beste Chance, die Sie jemals bekommen werden.« Der Mann wirkte etwas arg selbstgefällig für Ryks Geschmack, andererseits war es durchaus möglich …
»Was wollen Sie dafür?«, fragte Theosius. »Ich habe Geld.«
»Das haben Sie«, nickte der Mann in seine Richtung. »Ich brauche aber keins. Mein Problem lässt sich nicht mit Geld lösen. Es bedarf eines etwas … radikaleren Engagements. Ich brauche dafür Leute, die etwas riskieren wollen. Ich glaube, das könnten Sie sein, nach dem, was Sie mir erzählt haben. Schauen Sie her.«
Er legte sein Werkzeug weg und öffnete seinen Overall an der Brust. Darunter trug er nichts und auf seiner nackten Haut war ein sanft vor sich hin blinkendes, etwa handgroßes, sternförmiges Gerät zu sehen, das halb in seinen Leib eingebettet zu sein schien. Sia würde sofort verstehen, was das war. Es musste sich um das Werk eines Hybridenarztes handeln.
»Das ist …«, begann Uruhard.
»Das ist mein Herz«, sagte der Mann. »Und ich brauche ein neues. Von dieser alten Tech gibt es noch weniger Exemplare als gute Gleiter. Helfen Sie mir, ein neues Herz zu bekommen, und ich fliege sie, wohin sie wollen.« Er sah Theosius an. »Sie wissen, was ich meine. Sie wissen vor allem, wen
ich meine.«
Der gescheiterte Revolutionär nickte langsam, das Gesicht wachsbleich. Er sprach kein Wort.
Der Mechaniker schloss seinen Overall wieder. Er sah in die Runde und nickte dann Ryk zu. »Ich bin übrigens Samson«, sagte er. »Vielleicht haben Sie schon von mir gehört.«