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Für manche, besonders für sehr pietätvolle Menschen, von denen es zu jeder Zeit und an jedem Ort welche gab, selbst in Metropole 7, war eine berüchtigte Bar bei Tage ein schönes Sinnbild für die Falschheit der Vergnügungen, die diese bei Nacht bot. Was in der Dunkelheit durch sorgfältige Komposition von Lichteffekten und verheißungsvolle Darstellungen der sündigen Versuchungen in dreidimensionaler Abbildung – oder im Original – die wohltuend anregende Atmosphäre von Verruchtheit erzeugte, die manch biederen Besucher dazu brachte, alte Gewohnheiten und Verhaltensweisen nur für diese eine Nacht infrage zu stellen, sah tagsüber profan aus.
Profan .
Es gab, da war sich Sia sicher, kein besseres Wort, das den Absturz vom erregenden Glamour der Nacht in die Realität des Tages eindeutiger beschrieb. Ohne die Lichter war das Gebäude der Bar simpel und langweilig. Es war aus Beton, solide gebaut und manche der Ornamente, die die Besitzer an den Wänden angebracht hatten, sahen geradezu billig aus. Der Platz vor der Bar war staubig und etwas dreckig, an einer Ecke entfernten Defos die Spuren der vorhergehenden Nacht und es waren keinesfalls appetitliche Zeugnisse der vergangenen Vergnügungen. Sie warfen Momo einen kurzen Blick zu und nickten. Es war nur leichte Überraschung erkennbar. Momo war Nachtwache gewesen, Türsteher, Rausschmeißer, und schlief, wenn es hell wurde. Ihn hier zu sehen war also zumindest außergewöhnlich.
Der Weg hierher war nicht einfach gewesen. Tatsächlich beschrieb das Wort »Umweg« ihren Marsch auch nur unzureichend. Ständig auf der Hut waren sie am Rand des Stadtviertels entlanggeschlichen und hatten sich vor jeder verdächtigen Bewegung verborgen, bis sie sich schließlich ein Herz gefasst und den direkten Weg zur Bar mitten durch Stink genommen hatten. Doch das Glück war auf ihrer Seite gewesen und die Stadtwachen mit anderen Dingen beschäftigt. Es gab Gerüchte um eine große Schlägerei, eine Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Clans, die um die Gunst des neuen Stadtherren rangen und sich dabei nicht einig werden konnten. Dort waren sicher viele der Wachen benötigt worden. Was des einen Disput, war des anderen Schlupfloch, jedenfalls erreichten Sia und Momo die Bar unbehelligt, wenngleich bestimmt nicht unbeobachtet.
Über den Rückweg würden sie sich Gedanken machen, wenn es so weit war.
Es war also kein großes Problem gewesen, die Bar zu erreichen. In sie hineinzukommen war für einen Nichthybriden tagsüber unmöglich. Nur Bar und Restaurant im vorderen Teil des großen Gebäudes, das sich über ein beachtliches Areal erstreckte, war für die nachtschwärmende Öffentlichkeit bestimmt. Dahinter befand sich die Kolonie der Hybriden, auf drei Stockwerke verteilt, mit Wohneinheiten, manchmal nicht mehr als kollektive Schlafsäle, sowie dem medizinischen Zentrum, in dem, auch für zahlende Kunden, allerlei Dienstleistungen durchgeführt wurden. Darüber hinaus waren hier die privaten Orte der Hybriden angesiedelt, ihre Gemeinschaftsräume, die Bereiche, in denen sie sich trafen und Entscheidungen fällten, der Raum, in dem sich der hiesige Hybridenrat traf, die Vorratslager für ihre eigenen Erweiterungen und die Unterkünfte jener, die regelmäßig zu allerlei Expeditionen aufbrachen, um diese Lager zu füllen. Die Werkstätten und Operationstheater für die eigene Gemeinschaft, verborgen vor den Augen aller anderen, waren gleichfalls hier zu finden, ein Mikrokosmos, der zwar nicht völlig autark agierte und rein formell ebenfalls unter der Herrschaft der Stadt stand, de facto aber von niemandem besucht oder berührt wurde, der kein Hybride war.
Oder in seiner Begleitung.
Das galt auch für Momo. Sia bürgte für ihn und das war erst einmal gut genug. Ob es weiterhin gut genug sein würde, blieb abzuwarten.
Sie kannte die Eingänge und wusste, wie sie sich zu identifizieren hatte, und so betrat sie das Refugium der Hybriden ohne Behinderung. Da sie zudem eine besonders angesehene Frau von Rang war, begegnete man ihr mit Höflichkeit. Als sie nach einem Treffen mit ihrem Onkel verlangte, wurde dieses arrangiert, wenngleich sie zu warten hatte. Er war mit einer Operation beschäftigt.
Das war Dassios größte Fähigkeit, der Ursprung seines Ruhms und seines Ansehens. Ihn dabei zu stören wäre ein Sakrileg. Sia würde es nicht einmal wagen, wenn alles in Flammen stehen würde. Geduld war in diesem Moment ihre größte Stärke und die Strapazen der Reise verlangten sowieso nach etwas Ruhe, die sie sich gerne gönnte. Die Erlebnisse mit Sebastian lasteten schwer auf ihrem Gemüt. Momo wollte nicht darüber reden, für ihn schien die Sache abgeschlossen. Sia dagegen bedurfte des Austauschs. Sie vermisste in diesem Moment Ryk, mit dem man immer reden konnte.
Als der Mann eintrat, erfüllte seine Präsenz den Aufenthaltsraum, in dem Sia und Momo auf ihn gewartet hatten. Er war kein Hybride von beeindruckender Größe, aber die beiden vollmechanischen Servoarme, überzogen mit silbernen Pailletten, die bei jeder Bewegung im Licht der trüben Neonlampen glitzerten, waren berühmt-berüchtigt. Hybriden war Eitelkeit nicht fremd. Onkel Dassio war der Meinung, dass er die wichtigsten Instrumente seiner Kunst – von seiner Begabung als Chirurg einmal abgesehen – auch in der Öffentlichkeit glänzen lassen konnte. Sein Alter war schwer zu bestimmen, obgleich Sia natürlich wusste, dass er nicht mehr der Jüngste war. Genauso, wie er sich um die schimmernde Erscheinungsform seiner Prothesen kümmerte, achtete er auch sonst auf sein Äußeres. Die Haut in seinem Gesicht wirkte straff und frisch, ebenfalls das Ergebnis eines chirurgischen Eingriffs. Möglicherweise war es auch gar nicht mehr seine natürliche Haut. Hybriden der höchsten Ränge standen Materialien aus der Zeit der Union zur Verfügung und hatten sie sich um die Gemeinschaft verdient gemacht – woran bei Dassio keinerlei Zweifel bestand –, durften sie sich, in Maßen, aus ihnen bedienen. Dassio hatte sich bedient und verbunden mit seinem Genie ein Gesamtkunstwerk geschaffen, das exakt so aussah, wie es Sia von ihrem ersten Eingriff, damals mit sechzehn, in Erinnerung hatte. Auch seine angenehme, schön modulierte Stimme, deren Timbre jedem Patienten sofort großes Vertrauen einflößte, war noch genauso wie früher. Dassio war nicht nur ein Chirurg höchster Güte, er war auch Sias Gesangslehrer gewesen. Sie waren in ihrer Jugend mehrmals als Duo aufgetreten, in einem bescheidenen Maße, da ihr Onkel auf der Bühne niemals nach besonderem Ruhm gestrebt hatte. Sia hatte ihn durch Talent und Einsatz auf diesem Feld weit hinter sich gelassen, doch jedes Wort, das er sprach, enthielt das Versprechen eines Liedes.
Dassio hatte ein strahlendes Lächeln. Es war, als hätte jemand das Licht eingeschaltet.
»Sia«, singsangte er. »Sia, meine Taube.« Es war ernst gemeint. Onkel Dassio war immer ein guter Freund und treuer Verbündeter ihrer Familie gewesen. Das Gefühl der Vertrautheit, das sie erfüllte, hatte sie lange vermisst.
Sie umarmte ihn, anstatt selbst etwas zu sagen, und die Geste wurde mit Wärme und Herzlichkeit erwidert.
»Sia. Du hast einen Freund mitgebracht.«
So war Dassio. Momo war ein Defo und damit selbst für viele Hybride nicht mehr als ein Diener. Nicht so für Dassio. Er sah am Äußeren vorbei und suchte nach dem Kern der Menschen, denen er begegnete. Das kam mit seiner Profession. Er wusste selbst, aus eigener Erfahrung und als Resultat seiner Arbeit, dass der äußere Schein keinesfalls ausreichend war, um jemanden zu beurteilen.
»Das ist Momo. Er redet nicht viel.«
Momo nickte. Dassio sah ihn freundlich an.
»Wie erfreulich. Ich bin oft genug von meinem eigenen Geschwätz genervt. Lass dich ansehen, mein Engelchen.« Er hielt sie auf Armeslänge und sein professioneller Blick wanderte über ihre Haut. »Wer hat die letzte Operation gemacht? Die beiden neuen Rippen?«
»Elwin.«
Dassio war gnadenlos, wenn es um Operationen ging. Er zog Sias Oberteil nach unten und schaute auf ihre Brüste. Es war absolut nichts Sexuelles an diesem Verhalten, es war das Interesse eines Hybridenchirurgen, der wusste, dass er der Beste war.
»Etwas schlampig, die Narbe. Nässt sie?«
»Manchmal.«
»Schmerzt sie?«
»Selten.«
Dassio verzog abschätzig das Gesicht. Es machte ihn nicht hässlicher, tatsächlich unterstrich seine eigene Schönheit die damit ausgedrückte Kritik nur noch.
»Sie sollte gar nicht schmerzen. Hast du Zeit? Ich gehe mit dem Glätteisen drüber.«
Er meinte das nicht ganz wörtlich. Aber fast. Dassio hatte seine eigenen Methoden entwickelt, ihm ging ein entsprechender Ruf voraus. Er war absolut in der Lage, manche ihrer Beschwerden zu beheben, und sie hätte längst einen Termin mit ihm gemacht, wenn sie beide nicht dauernd anderweitig beschäftigt gewesen wären. Jetzt aber …
Sia hob abwehrend eine Hand. »Ich bin nicht hier, um mich operieren zu lassen, Onkel. Ich habe ein anderes Problem.«
»Eins?« Der Mann lächelte und entblößte, wie zu erwarten war, perfekte Zahnreihen. »Ich habe gehört, dass du deine Karriere als Sängerin um einige andere, interessante Aktivitäten erweitert hast.«
Natürlich war er informiert. Dassio war ein Mitglied des lokalen Rates.
»Erweitert? Du weißt, dass ich schon vor langer Zeit in die Fußstapfen meines Vaters getreten bin.«
»Aber niemals so entschlossen.«
»Es ist an der Zeit.«
Dassios Lächeln verblasste. Er wirkte nicht mehr so fröhlich und aufgekratzt, als sei diese Phase ihrer Begegnung nun formell abgeschlossen und er müsse auf ein anderes Kommunikationsprotokoll schalten. Dassio war ein Hybride, der nicht nur in seiner körperlichen Form die Vereinigung von Fleisch und Metall sehr ernst nahm, auch manche seiner Verhaltensweisen hatten sich diesem Ideal angepasst. Das machte ihn jedoch nicht weniger menschlich in dem Sinne, dass es seine Empathie ausgeschaltet hätte. Sia kannte ihn als gefühlvollen Menschen und an diesem Eindruck hatte sich über die Jahre auch nichts geändert. Aber er reagierte zunehmend wie jemand, der sich gleichermaßen vorgefertigter Routinen bediente, statt der Spontaneität, die einen Menschen im Regelfall ausmachte. Für manche war das schwer zu verstehen, es wirkte wie eine Beleidigung oder zumindest sehr befremdlich. Es gab Gründe dafür, warum Dassio es vorzog, unter Seinesgleichen zu bleiben und Kontakte mit rein Biologischen darauf beschränkte, sie gegen Geld zu betäuben, aufzuschneiden und zu reparieren.
»Ich bin mir nicht sicher, ob du nicht einem wilden Traum nachjagst«, sagte er leise.
»Ich jage einem wilden Traum nach und ich bin mir da ganz sicher«, war ihre Antwort, mit der sie für einen Moment wieder ein Lächeln auf seine Lippen zauberte.
»Ich urteile nicht«, versicherte er.
»Doch, das tust du, schon immer, und das ist auch gar nicht schlimm. Ich respektiere dein Urteil.«
»Aber du scherst dich nicht darum.«
Sia ignorierte den Vorwurf. »Dassio, ich benötige deine Hilfe. Du kennst viele, du kennst eigentlich jeden, und andere respektieren dich weitaus mehr, als ich es tue. Ich benötige einen Gleiter und einen Piloten. Ich benötige Samson.«
Der Chirurg kniff die Augen zusammen, die einzige offensichtliche Reaktion auf ihre Bitte. »Samson? Das ist mal eine große Bitte. Wozu brauchst du unseren besten Kurier und Lieferanten? Sia, er ist nicht irgendwer. Er ist eines der wichtigsten Verbindungsglieder unserer Gemeinschaft, wie eine Ader, die zwischen unseren Kolonien in den verschiedenen Metropolen verläuft. Er ist wertvoll. Ich will meinen, dass er sogar wertvoller ist als ich. Dein Traum in allen Ehren, aber ich kann so eine Idee nicht unterstützen, vor allem nicht, wenn mir das Risiko nicht klar ist.« Er sah sie forschend an. »Ich vermute, dass das Risiko erheblich ist? Sonst würdest du nicht nach dem Besten verlangen.«
»Es kann ihn das Leben kosten.«
Sia sah keinen Grund, Dassio zu belügen. Sie war ohnehin nicht gut darin. Dassio hatte schon immer gewusst, was in ihrem Inneren vorging, und das betraf nicht nur ihre Eingeweide.
Der Chirurg setzte sich in einen der weichen Sessel des Aufenthaltsraumes und wirkte für einen Moment sehr nachdenklich, doch Sia konnte seinem schönen Gesicht auch ohne viele Worte ablesen, was er dachte – und seine Gedankengänge entwickelten sich nicht zu ihren Gunsten.
»Ich kann das nicht verantworten, Sia. Du weißt, dass ich vieles für dich tun würde, aber hier muss ich das Wohl der Gemeinschaft im Auge haben.«
»Es wäre zum Wohl der Gemeinschaft, den Letzten Admiral zu finden.«
Dassio rang mit sich, um seine wahren Gefühle nicht zu zeigen, aber das war auch gar nicht nötig. Sia ahnte, was er eigentlich sagen wollte. Dass das alles völliger Quatsch sei, Traumtänzerei und auf jeden Fall nicht wert, sich weiter damit zu befassen oder gar das wertvolle Leben des Taxifahrers zu riskieren. Von ihrem eigenen einmal ganz abgesehen.
»Ich will dir wirklich nicht sagen …«
»Sag es.«
Dassio nickte ergeben. »Du spinnst, Sia. Ich habe wirklich den Eindruck, dass du dich auf Abwege begibst. Dein Vater hatte immer einen ungebührlichen Einfluss auf dich, aber ich habe nicht geahnt, dass er dir in diesem Maße Flausen in den Kopf gesetzt hat. Ich hätte mich vielleicht ein wenig mehr in deine Erziehung einmischen sollen.«
»Du hast meine Ersatzteile ausgesucht.«
Er sah sie strafend an. »Das meine ich nicht.«
»Du hilfst mir also nicht?«
Dassio schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Definitiv nicht. Mit Bedauern, aber aus Überzeugung. Komm bitte wieder auf den Boden der Tatsachen. Du hast ein Leben voller Erfolg, Respekt und Leidenschaft. Dein Talent ist überall gefragt. Du musst dir keine Sorgen machen. Aber jetzt bist du dabei, alles wegzuwerfen, und das ist Verschwendung in meinen Augen. Und damit meine ich nicht die teuren Teile, die ich in dich hineinoperiert habe.«
Sia biss sich auf die Zunge, um zu verhindern, dass exakt diese Vermutung doch aus ihr herausplatzte. Dassio war ein genialer Chirurg, aber wie alle Hybriden natürlich auch ein Geschäftsmann, und gerade bei kargen Ressourcen achtete man immer auf das Preisschild. Da konnte er sagen, was er wollte.
Sie sprach, leise, gemessen, respektvoll. Entschieden. »Dieses Leben voller Erfolg ist sinnlos, wenn ich parallel dazu mit ansehen muss, wie unsere Zivilisation endgültig vor die Hunde geht und am Ende als schwaches Abbild ihrer selbst vor sich hinvegetiert. Du weißt doch, was hier passiert, Onkel. Wie lange wird der Hive sich noch mit der Erde befassen? Wann wird er abreisen und nur den Müllhaufen zurücklassen? Wie viele von uns werden dann noch am Leben sein, in Metropole 7 oder anderswo? Wir hatten letztes Jahr schon die ersten Probleme mit dem Trinkwasser. Die klimatischen Veränderungen sind ebenfalls nicht zu übersehen. Kannst du das nicht erkennen oder steckst du wie alle den Kopf in den Sand?«
Dassio antwortete erneut nicht sofort, und das aus gutem Grund. Natürlich war Sias Frage rhetorisch gemeint. Er war ein gebildeter Mann und hatte Zugriff auf das ausgezeichnete Informationsnetzwerk seiner Gemeinschaft. Er wusste sehr gut, wie die Erde und mit ihr alle Metropolen langsam, aber sicher auf den Abgrund zusteuerten.
»Du kämpfst gegen Windmühlen«, versetzte er dann.
»Ich weiß nicht mal, was das bedeuten soll.«
»Alte Literatur. Aus einer anderen Zeit. Möglicherweise einer besseren.« Er seufzte. »Du lässt dich natürlich durch meine Worte nicht von deinen Plänen abbringen.«
»Ich habe nicht die Absicht.«
»Gut. Dann bleibt mir nichts anderes, als dir Glück zu wünschen. Ich bete, dass du scheiterst, und zwar bevor du überhaupt in die Nähe eines flugfähigen Gleiters kommst. Mir liegt viel an dir, Sia. Ich will nicht, dass du unter die Räder kommst. Du bist sehr wertvoll, viel wertvoller, als dir möglicherweise selbst bewusst ist.«
Sia fühlte die Wärme in Dassios Worten und kämpfte einen Moment mit sich. Ihr Onkel sprach aus echter Sorge, daran hatte sie keinen Zweifel. Gleichzeitig aber war er nicht imstande, über den Tellerrand hinauszublicken, und seine hohe Position ließ ihn vor jedem Risiko zurückschrecken. Ihm ging es gut. Es würde ihm gut gehen bis zu seinem Tod. Was genau kümmerte ihn da das Siechtum kommender Generationen? Da endete irgendwann auch seine Sorge um Sia, die noch leben würde, wenn er längst zu Staub zerfallen war. Das war der wahre Egoismus der Alten. Sie schätzten die Gesellschaft jener, die sie liebten, solange sie lebten. Waren sie tot, wurde diese Sorge belanglos.
»Ich danke dir, dass du mich angehört hast«, sagte sie tonlos. Sia war enttäuscht und sie hatte nicht vor, das vor Dassio zu verbergen. Die plötzliche Mutlosigkeit, die sie befiel, war schmerzhaft. So viel war schon geschafft worden, so viel Porzellan hatte sie auf dem Weg zerschlagen, so viele Brücken hinter sich abgebrochen. Und nun stand sie vor einer Wand, errichtet von einer Person, der sie jederzeit ihr Leben anvertrauen würde – und mehrmals anvertraut hatte.
Das war nicht fair.
Sie sah Momo an, der ihren Blick mit der gleichen Ratlosigkeit erwiderte, die sie empfand.