26
Dann war der Moment gekommen, im Gleiter Platz zu nehmen. Heute war der Tag, an dem dem Kalender zufolge das Sporenschiff auf den Weg geschickt wurde, und sie waren alle auf ihre Art sehr aufgeregt, allen voran Samson, der diese Reise vor allem machte, weil die ganze Metropole ihn darum bat, obwohl er eigentlich etwas anderes mit seinem Leben vorhatte. Er hatte in den Tagen der Vorbereitung niemals einen Zweifel daran gelassen, dass er nicht mit einem Erfolg der Mission rechnete, ohne ihnen mit dieser Auffassung allzu sehr auf die Nerven zu fallen.
Er tat es, weil die ganze Stadt es von ihm erwartete. Und weil er, tief in seinem Herzen, ein alter Romantiker sei, behauptete er. Ryk glaubte es unbesehen. Sein Bild von dem Mann im Overall hatte sich nun schon das zweite Mal um hundertachtzig Grad gewendet und jetzt erschien er ihm absolut authentisch.
Hoffentlich.
Zum Abschied waren Dassio, Dahn und Theosius erschienen. Allen drei fehlten die richtigen Worte und das beruhte auf Gegenseitigkeit, denn zumindest Ryk fielen nur Äußerungen gespielter Zuversicht ein, die für sie alle eher unbefriedigend sein würden. Sie standen einen Moment da und machten optimistische Grunzlaute oder streichelten das Taxi, als würde das die Maschine zu höherer Funktionsfähigkeit ermuntern. Eine seltsamere, schwierigere Situation als der Sex, den er mit Sia gehabt hatte, und dessen schwerer, süßer Eindruck immer noch wie eine sanfte Decke auf seinen Gedanken lag.
Als Samson ungeduldig wurde, war die Abschiedszeremonie auch schon beendet. Die Delegation verabschiedete sich. Theosius hatte feuchte Augen. Das war das Problem gescheiterter Revolutionäre, sie waren romantischer als alle zusammen.
Der Pilot trug wie immer seinen etwas schmutzig wirkenden Overall und setzte nun darüber hinaus einen vorne offenen Helm auf, der mit dem Emblem der Streitkräfte verziert war. Er hatte einmal einem Kampfpiloten gehört, wie Samson erzählte. Seine Schilderung des Fundes ging so weit, dass er ausführte, wie er den abgetrennten Kopf des ehemaligen Besitzers aus dem Helm hatte entfernen müssen. Details, die aber keiner wirklich hören wollte.
Samson gab solche Geschichten gerne zum Besten. Ryk glaubte, dass er damit prüfte, wie seine Zuhörer reagierten. Als seien sie nicht schon mehr als genug geprüft worden.
»Dann geht es jetzt los.« Die Ankündigung war simpel, eine Untertreibung, und als der Gleiter laut zu summen begann und eine tiefe Vibration davon zeugte, dass die mächtigen Antriebe aktiviert worden waren, rutschte Ryk das Herz in die Hose.
Es ging los.
Mit großer Willensanstrengung kämpfte er den massiven Fluchtimpuls nieder, der seinen Körper erfasste, und er atmete schneller, als er sollte.
Es ging los!
Sias Hand fand den Weg in seine, ihr fester Druck war gleichermaßen Trost wie Aufforderung. Ryk beruhigte sich nicht, das wäre auch kaum zu erwarten gewesen, aber er fand die Kraft, nicht laut zu schreien und um sich zu schlagen.
Sein Blick fiel in Uruhards aschfahles Gesicht und dort sah er nichts anderes als blankes Entsetzen, als hätte er niemals ernsthaft damit gerechnet, dass dieser Moment jemals kommen würde.
Schöne Helden waren sie!
Der Gleiter schwang nach oben, hinein in den blauen, wolkenlosen Himmel. Der leichte Andruck gab den Passagieren ein Gefühl für Flugrichtung und Beschleunigung. Samson wirkte sehr konzentriert, keine lose Bemerkung kam mehr über seine Lippen, als der Gleiter noch einmal beschleunigte und sie alle etwas tiefer in die verschlissenen Polster drückte. Das brummende Geräusch der Maschine hatte etwas Beruhigendes, ein falsches Versprechen, aber eines, das Ryk in diesem Augenblick gerne akzeptierte.
»Wir nähern uns in einer weiten Schleife dem Hive. Sobald wir den Sicherheitsabstand unterschreiten, kommen die Drachen aus ihren Nestern.« Samsons Stimme hatte jetzt einen besorgten Unterton. »Ab dann wird es kribbelig. Ich versuche, direkt zum Startplatz der Sporen vorzudringen, aber genau das werden die Drachen versuchen zu verhindern. Denken Sie an unsere Vereinbarungen. Wenn Sie zögern, breche ich ab und suche das Heil in der Flucht. Ich bin nur bereit, das Risiko bis zu einem bestimmten Punkt einzugehen.«
Dass Samson sich dadurch vernünftiger anhörte als seine Passagiere, ärgerte Ryk. Doch seine Nervosität wurde langsam durch eine wilde Entschlossenheit ersetzt. Er wollte glauben, dass es eine Chance war. Und er würde jetzt tun, was getan werden musste.
Und Fliegen war absolut geil , daran gab es keinen Zweifel. Ryks Angst verwandelte sich langsam in Begeisterung. Das war besser als springen. Das wollte er auch können.
Samson wusste, was er tat.
Der Gleiter war ein unbeschreibliches Produkt der Alten, eine so perfekte und kraftvolle Konstruktion. Ryk empfand nur Bewunderung dafür – und ein plötzliches, starkes Bedauern, dass all dies eine Sache der Vergangenheit sein sollte, eine letzte Erinnerung an die Zeit, die unwiederbringlich verloren schien. Unwiederbringlich?
Dieser Gedanke rief in Ryk erneut Entschlossenheit hervor. Wenn es eine kleine Chance gab, dass vier Spinner es schaffen konnten, sie doch wiederzubringen, die Uhr ein wenig zurückzudrehen, dann war es das wert, ein wenig Angst zu empfinden.
Das Brausen des Windes und der Anblick der Gebäude der Stadt, so klein unter ihnen, ließ Ryk für einige Momente alles vergessen. Seine Faszination war vollkommen. Er hätte das hier noch stundenlang machen können, ach was, sein ganzes, ehemals so erdverbundenes Leben.
Doch der Flug näherte sich schnell seinem Ende.
»Wir kommen jetzt in die Sicherheitszone«, kündigte der Pilot an, die Stimme etwas heiser vor Anspannung. Ryk hörte hinter sich ein jammerndes Geräusch, als sich die Gatling in ihrer Fassung zu drehen begann, wie ein Hund, der die Ohren aufstellte und den Kopf bewegte, um herauszufinden, woher eine Bedrohung kommen könnte.
Sie starrten aus der Kanzel und suchten die wachsende Hülle des Hives ab, die glasklar im hellen Sonnenschein zu erkennen war.
»Da sind sie!«, rief Sia.
Ryk schaute in die Richtung, in die sie zeigte. Was er eben noch nur als kleine Punkte in der Ferne ausgemacht hatte, war nun deutlich zu erkennen. Samson drückte einen Schalter, ein Teil der Frontscheibe veränderte sich und fungierte als Vergrößerungsglas. Der erste der Drachen, der sich vom Hive gelöst hatte, um auf sie zuzustreben, sprang ihnen optisch ins Gesicht. Ryk zuckte unwillkürlich zusammen.
Zu nah. Zu plötzlich.
Er war ein erschreckender Anblick, eine Mischung aus Lebewesen und Maschine, wie man es vom Hive kannte. Ein großer, breiter Kopf mit blinden Augen, bedeckt mit Metallplatten, zwei mächtige Schwingen, die den Körper schwerfällig in der Luft hielten, und statt weiterer Gliedmaßen eine Art Geschütz, das aus dem Bauch herauswuchs.
Ein … Geschütz?
»Samson, Sie sagten, die hätten keine Distanzwaffen«, warnte Ryk.
Der Pilot nickte. »Das dachte ich auch. Aber ich war noch nie so nah dran. Und verdammt, die sehen anders aus als die Drachen, die ich kenne.« Seine Stimme klang alarmiert.
Ryk starrte auf den Drachen. Eine Konstruktion voller Mängel. Das Wesen musste mit dem ganzen Körper zielen. Dann sprang das Bild auf einen seiner Kameraden, der ganz anders aussah. Schlank und anstatt zweier Flügel, die wie die eines Vogels schlugen, hatte er starre Tragflächen, unter denen Triebwerke saßen. Dafür trug er in Klauenhänden eine lange Lanze, deren eines Ende unheilvoll glühte. Der Schädel war eine metallische Grimasse, aus der allzu menschlich wirkende Augen auf den Feind starrten.
»Es gibt Hunderte von Variationen«, sagte Samson. »Eine schrecklicher als die andere. Der Hive verschwendet nichts. Und er hat ausreichend Ressourcen, um Diversität zu erlauben. Achtung, es wird jetzt …«
Sein Satz ging in einem Krachen unter, als es drüben bei den Drachen blitzte. Ein gutes Dutzend war in die Luft aufgestiegen und strebte dem Gleiter entgegen. Der erste hatte das Feuer eröffnet und gut gezielt. Das Fahrzeug schüttelte sich, als es getroffen wurde, eine Vibration, die Ryk durch Mark und Bein ging, seinen Blick verschwimmen ließ und ihm den Magen umdrehte. Ein krachender Laut, der das Schlimmste befürchten ließ. Doch die Panzerung hielt und das stete Summen des Antriebs ließ keine Sekunde nach. Ryk warf einen Blick auf Samson, der konzentriert vor seinen Kontrollen saß. War er beunruhigt? Würde er das überhaupt erkennen?
War es wichtig? Ryk war beunruhigt. Er hatte wieder Angst, die Ekstase des Fluges wurde durch die Furcht vor dem Absturz ersetzt. Und dann war da diese Hilflosigkeit. Seine Waffe half ihm nicht. Er war ausgeliefert, bis sie ausgestiegen waren. Doch so weit mussten sie es erst einmal schaffen.
Samson tat, was er konnte. Er knickte nicht ein. Er hielt Wort.
»Und Feuer frei!«
Ryk hörte es kaum, doch es kam aus dem Mund des Piloten. Und es folgten Taten. Das Geschütz hinter ihm begann zu brüllen, lauter, als er es erwartet hatte, eine tiefe Vibration, wie ein Herzschlag, Ausdruck brutaler Kraft. Mit jedem Puls schleuderte die Gatling eine Salve auf ihre Gegner und suchte sich automatisch, präzise und tödlich den Feind. Die glühenden Flechetgeschosse bahnten sich in hellen Glitzerstreifen ihren Weg durch die ionisierte Luft und dann trafen sie auf einen Drachen. Eine Fontäne aus Blut spritzte in die Atmosphäre, als die Garbe den Körper durchstanzte und ihn in zwei Teile riss, die hilflos zu Boden taumelten. Eine schnelle Waffe und eine, gegen die es keinen Schutz gab.
Ryk hatte so etwas noch nicht gesehen. Der Tod zuckte in glühenden Streifen über die Drachen, so behänd, so leicht, als würde er tanzen. Glitzerfäden zogen durch sein Sichtfeld und erfassten den Feind, ohne Mitleid, ohne weitere Aufmerksamkeit. Beiläufig löschten sie Existenzen aus, schnitten Gliedmaßen ab, durchstießen Schädel, hinterließen auf den fernen Erdboden stürzende, tote Kadaver, ein Leichenfest am Himmel, betörend in seiner Beständigkeit und Effizienz.
Feuern. Pause. Feuern. Pause. Der Puls des Todes.
Es sah alles so einfach aus. Wie hatte die Menschheit im Besitz solcher Waffen jemals verlieren können? Ryk konnte es sich nicht vorstellen.
Dann aber begriff er es. Er sah, wie eine zweite Schar Drachen aufstieg, doppelt, dreimal so viele wie bei der ersten Welle, wie eine Wolke bösartiger Insekten, die durch den Tod ihrer Artgenossen erst recht aufgestachelt waren, rachsüchtig, entschlossen und opferbereit. Die Gatling pulsierte ohne Unterlass. Samson schwieg, er fluchte nicht einmal und zeigte auch keinen Triumph. Ihm fehlte die Leichtigkeit des Tötens. Und er hatte mit dieser Haltung absolut recht.
Denn für den Hive war der Tod bedeutungslos. Er war. Er war viele. Und er schickte sich an, das unter Beweis zu stellen.
»Sie starten den ganzen Zoo«, sagte Uruhard. Ryk sah ihn verständnislos an. Er hatte keine Ahnung, was ein Zoo war.
»Festhalten!«
Eine unnötige Aufforderung, die Sitzgurte pressten sie bereits fest in die Polster, doch dann begann Samson, seine Fähigkeiten als Pilot voll zu nutzen. Er zog die Maschine mit immer lauter jaulenden Triebwerken in Kurven, ließ sie plötzlich abfallen, um sie daraufhin wieder steil nach oben zu ziehen. Er nutzte das dreidimensionale Schlachtfeld der Lüfte aus, rotierte Gleiter wie Kanone und das Gewirbel der Eindrücke ließ in Ryk Übelkeit aufsteigen. Der Springer verlor die Orientierung. Himmel, Sonne, Hive, Erdboden, alles vermischte sich zu einem Schemen, der von allen Seiten kam, überall gleichzeitig war, und sein Kopf begann zu schmerzen. Zu viele, zu schnelle Eindrücke. Wie konnte ein Mensch das verarbeiten?
Unablässig pumpte die Kanone ihre tödliche Kraft in die Leiber der Drachen, die mal torkelnd zu Boden fielen, mal orientierungslos gegen Artgenossen getrieben wurden. Und dann gab es einen heftigen Schlag.
Ryks Zähne schlugen schmerzhaft aufeinander. Er schmeckte Blut.
»Das war ein guter«, rief Samson. Eine starke Vibration erfüllte den Gleiter. Er war getroffen worden und diesmal hatte er Schaden genommen. Das Wirbeln aber nahm ab. »Das tat weh.«
»Dritte Welle!«, rief Sia. Mehr Drachen lösten sich vom Hive. Doch jetzt waren sie nah, sehr nah, und da war die flache Spitze des gigantischen Bauwerks. Und darauf stand, zu dreiviertel aus der Masse des Hives gewachsen, wie ein großer Pickel, das Sporenschiff, bereit zum Abflug. Daneben war eine kleine Landefläche und es war nicht ein Großmaul zu sehen.
Ryks Magen schoss in seine Kehle, als Samson den Gleiter förmlich fallen ließ. Vor seinen Augen verschwamm kurz alles, er stöhnte unwillentlich und wünschte sich weit weg. Vor allem sehnte er ein Ende dieses Fluges herbei, weil das Vergnügen …
»Jetzt, ihr Irren!«
Es dauerte einen Moment, bis Ryk merkte, dass sie gemeint waren. Der Gleiter ruckte und es knirschte, als sich das Metall zusammenfaltete, ein hässliches Krachen, als die Landekufen einknickten und unter dem Druck einer Landung brachen, die ein halber Absturz war. Erneut klackerten seine Zähne aufeinander und diesmal tat es verdammt weh.
Die Irren lösten die Gurte, die Kanzel schwang auf und sie stürzten ins Freie, vor sich den Pickel des Sporenschiffes, und ehe sie sich’s versahen, jaulte der Gleiter auf, gewann an Höhe, ein lautes Brausen ertönte und Samson schaltete das Triebwerk auf Volllast. Das Fahrzeug schnellte davon und verteilte weiterhin glühende Streifen des Todes, aber diesmal auf dem Weg, den Sicherheitsperimeter zu verlassen, und die Drachen konnten nichts mehr dagegen tun.
Uruhard fiel auf die Knie, ihm musste schwindelig sein. Der alte Mann … war vielleicht doch zu alt für eine Mission wie diese. Ryk griff ihm unter die Arme und erntete einen dankbaren Blick, als er den Wachtmeister auf die Beine zog. Keine Zeit für Schwäche.
»Folgt mir!«
Das waren Sias Worte. Sehr bestimmend.
Sie hatte wohl doch irgendwie das Kommando übernommen.
Es gab keine große Auswahl an Richtungen. Man konnte im Kreis um das Sporenschiff herumlaufen, man konnte am Rand der Plattform in die Tiefe springen, auf die winzige Metropole, deren Bauklötze von hier oben fast niedlich aussahen, oder dahin rennen, wo sie hinwollten. Ryk schaute auf die näher kommende Außenhaut des Sporenschiffes und eine plötzliche Zuversicht erfüllte ihn. Die Lamellen und Lappen der organischen Außenhaut sahen genauso aus wie die eines großen Triebwurms.
Das war gut.
»Wie kommen wir hinein?«, fragte Uruhard.
»Der Zugang ist in dem Teil, der noch mit dem Hive verbunden ist«, rief Sia laut. Der Wind brauste heftig hier oben. Es war ein außergewöhnlich starker Lärm. »Wir müssen von unten …«
»Nein!«, unterbrach Ryk. Er hielt seinen Haken in der Hand, das einzige Ausrüstungsteil, das nur er besaß. Und mit dem er gut umzugehen wusste. »Wir gehen direkt rein. Gleich da vorne!«
Er sagte es mit aller Selbstsicherheit und ihm war egal, ob ihn nun alle für irre hielten. Er war der Springer. Das war sein Gebiet. Er wartete auch gar nicht erst ihre Reaktionen ab. Sie waren sicher, sobald sie im Inneren des Sporenschiffes waren, und auf die Großmäuler zu warten ergab nun gar keinen Sinn.
Er musste nicht lange nach der richtigen Stelle suchen. Es war eine nahezu instinktive Auswahl, basierend auf einer Routine, bei der es jedes Mal um sein Leben gegangen war. Er holte aus und stieß den Haken tief in die Hülle des Sporenschiffes. Die Lamelle riss auf, als er in exakt dem richtigen Winkel an ihr zog. Die etwas feucht glänzende Öffnung war handgroß, aber das genügte als Ansatzpunkt. Er holte die Klemme hervor, steckte sie mit sicherer Bewegung in die Öffnung und hielt die frisch geschlagene Wunde auf, um den Haken ein zweites Mal anzusetzen. Diesmal ging es leichter und nach gut fünf Minuten war eine Öffnung geschaffen, durch die sie eindringen konnten.
»Wie verschließen wir das wieder?«, fragte Sia ängstlich. »Wir fliegen ins Weltall.«
»Sporenschiffe haben Schutzfelder«, erinnerte Uruhard sie. »Sie sind Hybride wie du, Sia.«
»Ich habe kein Schutzfeld.«
»Für die nächste Operation solltest du darüber nachdenken.«
Was als Scherz gedacht war, löste in Sia einen Moment ernsthafter Nachdenklichkeit aus. Ryk stieg durch die Öffnung. Es sah aus wie im Inneren eines Triebwurms, nur größer. Beide, Schiff wie Wurm, waren Fortbewegungsmittel und offenbar benutzte der Hive bei beiden ähnliche Konstruktionsprinzipien. Es verwunderte ihn nicht, er war sogar erleichtert.
»Kommt rein. Ich seh nach, ob es ein Großmaul gibt. Kommt, schnell.«
Es war in der Tat Zeit, sich zu beeilen. Die Drachen kehrten von ihrer abgebrochenen Suche nach Samsons inzwischen verschwundenem Gleiter zurück und begannen, die Plattform zu umkreisen. Sie waren etwas schwerfällig, aber jetzt galt es, zu verschwinden.
Sie kletterten durch die Öffnung. Ihre Elastizität und die Feuchtigkeit halfen, auch Momos massigen Körper hindurchflutschen zu lassen. Ryk hatte Klemme und Haken entfernt, als der Letzte hindurch war. Die Öffnung schloss sich langsam von selbst und würde, wie Ryk wusste, binnen weniger Augenblicke wieder luftdicht sein.
Er sah sich suchend um.
Er schaute nach oben. Natürlich, an der Spitze des Schiffes, wo sonst, gab es einen spiralförmigen Aufstieg. Ryk wartete nicht. Er lief an der Wand entlang, die schmale Rampe hinauf und gelangte zur Spitze des Sporenschiffes. Und da saß das Großmaul. Sein Körper war halb mit der Masse des Schiffes verwachsen und nur ganz langsam richtete sich seine Aufmerksamkeit auf Ryk. Großmäuler reagierten sehr langsam. Sie waren eigentlich das Schiff, oder der Wurm. Es blieb genug Zeit.
Ryk stieß mit dem Messer zu. Er spürte das vertraute Reißen und Ruckeln, als er Sehnen durchtrennte, die Kehle, Blutbahnen, es gab die vertraute Sauerei. Er hielt inne, eher er die Metallkabel erreichte. Die automatische Start- und Flugsequenz wollte er nicht unterbrechen. Wenn das Sporenschiff tatsächlich funktionierte wie ein Wurm …
Das Schiff zitterte.
Es kam Ryk fast so vor.
Er warf einen letzten Blick auf das blutende Großmaul. Der organische Teil starb, der maschinelle funktionierte. Er drehte sich um und eilte hinunter. Sein blutüberströmter Anzug zog die Blicke der anderen auf sich, doch keiner sagte etwas.
»Hier warten wir?«, fragte Sia, als sie sich umsah. Es war kein angenehmer Anblick. Der weiche, wie rohe Haut wirkende Boden war durchzogen von gleichermaßen metallischen wie organischen Adern, von denen einige pulsierten. Es war warm, wovon sie jedoch wenig spürten, da sie die Anzüge geschlossen hielten. Die hier existierende Sauerstoffatmosphäre, die auch Hivedrohnen bevorzugten, wurde durch die Helme gefiltert, sodass sie bis auf Weiteres nicht auf ihre eigenen Vorräte zurückgreifen mussten.
Die Wände leuchteten in einem sanften Rot und es waren keinerlei Einrichtungsgegenstände zu erkennen, weil auch keine notwendig waren. Das Sporenschiff war ein eigenständiges Lebewesen, mit einem eingewachsenen Piloten, nicht dumm und nicht intelligent, genauso wie der ganze Hive, und würde keine Hilfe benötigen, um sein Ziel zu erreichen. Seine Fracht aber war gut zu erkennen und als sie einige Schritte gingen, sahen sie, dass das Innere des Schiffes, vom Antrieb einmal abgesehen, aus einem großen Lagerraum bestand, in dem die Sporen aufgereiht waren, grob eiförmige Gegenstände, halb mit dem Boden verwachsen, mit einer gelblichen, etwas schleimigen Oberfläche.
»Die Wissenschaftler haben damals herausgefunden, dass die Sporen verschiedene Funktionen erfüllen«, sagte Uruhard ganz andächtig und trat an eines der fast mannsgroßen Gebilde heran. »Sie enthalten zum einen Informationen, denn nach unseren Erkenntnissen hat der Hive aus irgendeinem Grund nie die Fähigkeit überlichtschneller Kommunikation gemeistert.«
»Das haben wir auch nicht«, erinnerte ihn Sia.
»Aber es muss andere Völker geben, die diese Technik beherrschen«, protestierte Uruhard. »Der Hive ist ihnen vielleicht nie begegnet. Das hier jedenfalls sind Informationskapseln, vollgestopft mit Daten über alles – die Entwicklung des Hives, der sie abschickt, jede genetische Mutation, jede gemeisterte Herausforderung und unzählige andere Dinge, die wir gar nicht begreifen können. So kommuniziert der Hive. So informiert er sich möglicherweise auch über neu entdeckte Zivilisationen und so werden die Flotten aufgebaut und ausgerichtet, die in die entsprechende Richtung aufbrechen, um sie gemeinsam zu vernichten. Warum auch immer das nötig sein sollte.«
Uruhards Ausführungen waren schwach, wie es Spekulationen immer waren.
»Was enthalten sie noch?«, fragte Ryk schnell. Wenn Uruhard zum Thema der Motivation des Hives kam, wurde er schnell philosophisch und das konnte sehr langweilig werden.
»Im wahrsten Sinne des Wortes Sporen, also Samen«, erklärte Uruhard. »Nicht nur genetische Informationen als Daten, sondern genetisches Material, das sofort genutzt werden kann. Erhaltung der Vielfalt, des Wettbewerbs um die beste Anpassung in einem galaktischen Ausmaß. Verhinderung von Degeneration und, wenn ich das so sagen darf, Hive-Inzucht. Stabilisierung der Population in ihrer ganzen Variationsbreite.«
Sie alle schauten für einen Moment sinnierend auf die schleimigen Kapseln und Ryk fragte sich, wie es wohl darin aussehen würde, wenn er sie aufschnitt. Widerstandsfähig sahen sie nicht aus. Wahrscheinlich war aber, dass eine solche direkte Attacke irgendwelche Schutzmechanismen auslösen würde. Jedenfalls war es keine gute Idee, es auszuprobieren.
»War das eben ein Zittern?«, fragte Sia leise.
Sie hielten inne. Ja, eine zweite, sanfte Vibration lief wellenförmig durch das Sporenschiff, verebbte und fing wieder an, eine fast unmerkliche Massage.
»Das sind Startvorbereitungen. Es ist Zeit«, sagte Uruhard.
»Wir sollten uns irgendwo verankern oder festhalten«, schlug Ryk vor. »An der Wand vorzugsweise.«
Die Wand war eine naheliegende Option, denn sie war an manchen Stellen nicht glatt und verfugt, sondern rau und kantig, als ob jemand Bauklötze in eine organische Masse gesetzt hätte, die entweder freilagen oder von innen gegen eine Haut drückten. Man konnte sich festhalten und auch die Adhäsionsflächen der Anzüge könnten möglicherweise funktionieren. Es war nötig, das jetzt schnell herauszufinden, denn die Vibrationen wurden langsam stärker und für alle war das ein Zeichen, dass es jetzt bald losging.
Wie furchtbar unvorbereitet sie im Grunde doch auf all das waren.
»Die Raumfahrer der Union nahmen vor Hypersprüngen übrigens Medikamente«, informierte Uruhard sie. »Es gibt wohl Nebenwirkungen.«
»Das erzählst du uns jetzt ?«, fragte Ryk.
Uruhard zuckte mit den Schultern. Sie hatten diese Medikamente nicht. Hätten sie deswegen von ihrem Plan Abstand genommen?
Gewiss nicht.
Jeder von ihnen fand einen Platz, der ihnen sicher erschien. Das hieß leider absolut nicht, dass er es auch war. Doch für weitere Überlegungen gab es keine Gelegenheit mehr. Die Vibrationen gingen in ein mächtiges Schmatzen über, als würde etwas sehr Schleimiges mit Wucht aus etwas anderem sehr Schleimigem herausgezogen, nachdem es dort lange verblieben war. Etwas widerlich, aber aller Voraussicht nach ein Hinweis darauf, dass das Sporenschiff seine Verbindung zum Hive gelöst hatte.
Das Sporenschiff ruckelte, dann zog etwas ihre Mägen in die Kniekehlen. Eine Aufwärtsbewegung, sehr verhalten, als würde die Spore noch einmal überlegen, ob sie sich wirklich von der Heimat lösen wollte.
»Die … die haben doch Andruckabsorber?«, fiel es Ryk etwas spät ein, angesichts der Tatsache, dass es derlei Technik auf der Erde gar nicht mehr gab, aber verständlich. Der Gleiter hatte welche besessen. Keine guten.
Uruhard zeigte auf die Kapseln. »Ihr größter Schatz.«
Ryk war nur unzureichend beruhigt. Dennoch, als die Aufwärtsbewegung sich intensivierte, wurde sie nie so stark, dass aus den blinden Passagieren blutige Flecke auf dem Boden zu werden drohten. Auch die Vibrationen waren nicht halb so stark wie befürchtet. Ihre Sicherung jedenfalls war ausreichend.
Das Ruckeln und Zittern setzte sich minutenlang fort. Es gab keine Fenster. Die Anzüge versorgten sie direkt auf die Helminnenseite projiziert mit Höhendaten. Das Sporenschiff kletterte schnell nach oben. Samson hatte etwas von Fluchtgeschwindigkeit und Schwerkraftschacht gesagt.
Es ging schneller, als Ryk erwartet hatte.
Dann kehrten ihre Mägen aus den Kniekehlen zurück und stieg ihnen in die Kehlen. Und sie alle fühlten sich sehr leicht. Schwerelosigkeit. Sie hatten den Orbit erreicht. Uruhard wurde unvermittelt schlecht, er öffnete seinen Helm – was konnte er auch sonst tun? In einem heftigen Schwall erbrach er sich. Eine schlechte Idee: Der Mageninhalt verteilte sich durch den Schwung im Raum und neben dem stechenden Geruch bestand nun auch Gefahr, davon getroffen zu werden.
Momo fluchte. Das kam so gut wie nie vor. Er hielt den Helm geschlossen. Sia und Ryk ebenfalls. Ryk empfand die Schwerelosigkeit interessanterweise nicht als unangenehm. Er hatte als Springer schon alles erlebt, inklusive der Effekte kurzzeitiger Beschleunigungs- und Richtungswechsel. Vielleicht war sein Körper einfach nur gewohnt, dass sein Besitzer ihn ständig verarschte. Ein leichtes Unwohlsein war nicht zu leugnen, aber es war nicht weiter schlimm.
Uruhard schaute schuldbewusst in die Runde.
Niemand sagte etwas.
Das Sporenschiff beschleunigte wieder. Es ließ die Erde hinter sich und Ryk war froh, es nicht sehen zu können. Der Anblick hätte ihn möglicherweise stark mitgenommen. Er schloss nur die Augen und versuchte, die Vibrationen des Schiffskörpers zu spüren und zu interpretieren.
Sie flogen. Doch was genau passierte jetzt?