27
Das Sporenschiff ließ sich Zeit. Hoffentlich nicht zu viel. Die Rationen, die sie dabeihatten, reichten vielleicht für drei Tage. Der Gedanke, dass am Zielort nur vier Verdurstete ankommen würden, war Ryk nie gekommen. Natürlich konnte er jetzt, in einem Moment der Ruhe, an nichts anderes mehr denken.
Uruhard hatte versucht, ihnen das Prinzip einer überlichtschnellen Fortbewegung zu erklären. Ryk wiederum hatte wirklich versucht, zuzuhören und vor allem zu begreifen, aber es hörte sich für ihn einfach nur sehr fantasievoll an, eine Aneinanderreihung von Worten, die keinen Sinn ergab, jedenfalls nicht für ihn. Raum-Zeit-Falten. Hypertunnel. Die Erfindung des Erhaft-Generators. Wahrscheinlich verstand nicht einmal der alte Mann, wovon er da eigentlich redete. Ryk verstand es definitiv nicht und Momo, der ohnehin kein Freund vieler Worte war, schon gar nicht. Sia verlor das Interesse nicht so schnell, ob sie aber alles begriff, blieb offen. Und Uruhard selbst sprach zwar mit großer Selbstsicherheit, aber vielleicht auch nur, um sich selbst davon zu überzeugen, dass alles gut gehen würde.
Und wer sagte ihnen, dass die Sporenschiffe auf der Basis der gleichen Prinzipien operierten?
»Es kann nicht lange dauern«, sagte der ehemalige Wachtmeister zum Schluss und lächelte aufmunternd in die Runde. »Sobald wir den Orbit verlassen haben, aktiviert das Sporenschiff den Hypersprung und wir machen uns auf die Reise. Nach den alten Berichten, die ich gelesen habe, ist es nicht sehr
unangenehm, nur ein seltsam ziehendes Gefühl. Ungewohnt, aber weder schmerzhaft noch verursacht es bleibende Schäden.«
»Medikamente«, sagte Momo und erinnerte Uruhard an seine eigenen Worte. Der Wachtmeister nickte schuldbewusst.
»Uruhard«, legte Ryk noch eins drauf, »diese alten Berichte beziehen sich doch gewiss auf Schiffe, die wir Menschen dereinst geflogen haben, oder?«
»Nun, natürlich.« Uruhard lächelte. »So viele Menschen werden noch nicht als Gast des Hives unterwegs gewesen sein. Und wenn, haben wir ihre Berichte nicht erhalten. Sie sind wahrscheinlich alle gestorben.«
»Du merkst schon, dass das unsere Zuversicht nicht gerade steigert?«, kommentierte Sia.
Der Mann nickte, immer noch etwas schuldbewusst, und hob eine Hand.
»Besser, ich sage nichts mehr.«
»Die Schiffe der Menschen hatten doch sicher auch Merkmale, die ihre Besatzung vor allen negativen Auswirkungen eines Hypersprungs geschützt haben«, fuhr Ryk unbeirrt fort. Er benutzte das Wort »Hypersprung« mit dem Stolz eines Kindes, das gerade seinen Wortschatz um einen herausfordernden Begriff erweitert hatte.
»Davon will ich ausgehen.«
»Merkmale, die der Hive möglicherweise nicht berücksichtigt.«
Uruhards Miene verdüsterte sich. »Auch das … ist zu bedenken.«
»Mehr will ich gar nicht wissen.«
Ryk lehnte sich zurück und achtete darauf, mit der Wand verbunden zu bleiben. Ihm blieb natürlich nichts anderes übrig, als auf das zu warten, was nunmehr eintreten würde, aber es war wenig erfreulich zu wissen, dass sie so wenig wussten.
Immerhin musste er nicht lange ausharren.
Die Geräusche, die bisher aus dem Sporenschiff gedrungen waren, ließen sich am ehesten mit einem leisen Summen vergleichen. Jetzt änderte sich die Tonlage. Sia mit ihrem geschulten Gehör bemerkte es als Erste. Ein feines Singen erfüllte den Innenraum. Etwas baute sich auf. Etwas sammelte Kraft.
Dann …
Er bemerkte, dass etwas geschah, als er Sia anschaute und ihr Abbild vor seinen Augen verschwamm. Es war, als würde eine zweite, leicht transparente Sia sich seitlich aus ihrem Körper herausbewegen und sich zitternd neben sie setzen. Ein Schatten, nur aus Licht, mit unscharfen Rändern. Ryk sagte nichts. Vielleicht bildete er es sich ja auch nur ein.
Tat er nicht, denn die anderen rissen gleichfalls die Augen auf und Uruhard flüsterte: »Es geht los!«
Als wäre dies der Startschuss gewesen, beschleunigte sich der Vorgang.
Eine unsichtbare Faust griff in Ryks Magen und drückte seine Eingeweide fest zusammen. Er schrie auf, der Schmerz zuckte heiß und unerwartet durch seinen Leib und er krümmte sich. Dann begann die Faust, sich einmal um sich selbst zu drehen. Ryk schrie ein zweites Mal und starrte an sich hinab, sah jedoch absolut nichts. Aber das Gefühl war so echt und erschreckend, er konnte es nicht als bloße Illusion abtun.
Ihm brach der kalte Schweiß aus. Der Schorf begann unvermittelt zu jucken, überall gleichzeitig, und schlagartig fühlte sich sein ganzer Körper wund an. Ihm wurde schwindelig und es war, als würde die Welt sich immer schneller um ihn drehen. Sein Sichtfeld kreiste, Konturen und Flächen vermischten sich zu einem visuellen Crescendo, das unvermittelt rasende Kopfschmerzen in ihm auslöste. Er spürte den Würgereiz, doch sein Körper spielte ihm Streiche. Es war, als würde die Wahrnehmung seiner biologischen Reaktion nichts mit dem zu tun haben, was sein Körper tatsächlich erduldete, als sei dort alles in bester Ordnung.
Dabei war absolut nichts in bester Ordnung!
Er erkannte jetzt nichts mehr. Farbfetzen tanzten auf seinen Netzhäuten und zogen wirre Muster, die keinen Sinn ergaben und in ihm wieder und wieder Wellen starker Übelkeit auslösten. Als er seine Augen schloss, wurden sie nicht weniger, als ob sich die Eindrücke nun direkt auf seinen Sehnerv legen würden. Dann machte die Faust da weiter, wo sie nur kurz innegehalten hatte.
Es war nicht schön. Es war ganz schrecklich. Die Faust öffnete sich, spreizte die Finger und fing an, an seinen Eingeweiden zu spielen wie auf einem Instrument. Sie drückte, zwickte, zog, schubste und boxte, spielte eine Melodie des Schmerzes, die heiße Wellen durch seinen Körper jagte und niemals zu enden schien. Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, an dem sich Ryk die Gnade der Bewusstlosigkeit herbeisehnte, die Schwärze, die seinen Verstand vor der Folter beschützen würde. Doch wieder galt: Was er über die Wahrnehmung seines Körpers dachte und was tatsächlich geschah, hatte offenbar wenig miteinander zu tun.
Es war die perfekte Marter. Unfähig, in die Ohnmacht zu entfliehen, schien Ryk keine andere Wahl zu haben, als mitzufühlen, wie etwas ihn von innen heraus auseinanderriss. Er sah es nicht, er sah gar nichts mehr außer tanzenden Lichtern, die die Qual nur noch verstärkten.
Und dann, mit einem Schlag, war es vorbei.
Ryk keuchte und hustete in den Helm.
Stille. Dunkelheit, kein Schimmer mehr, der durch seine geschlossenen Lider drang. Kein Schmerz. Er hörte ein Stöhnen, konnte die Stimme aber nicht gleich zuordnen. Sie sprach von einem tiefen Leid und einer großen Erleichterung. Sie stöhnte ein zweites Mal. Dann merkte Ryk, dass seine eigene Kehle Urheberin dieser Laute war. Er hörte auch sein Blut in den Ohren rauschen. Aber es war ein beinahe beruhigender Laut. Immerhin war er am Leben. Und langsam kroch die Erkenntnis in sein Bewusstsein, dass er möglicherweise irgendwo angekommen war. Hoffentlich war dies die erste und letzte Etappe seiner Reise gewesen. Er war bereit, bei der Aussicht auf eine zweite Tortur dieser Art schreiend davonzurennen und den ganzen Plan sausen zu lassen. Damit hatte er nicht gerechnet. Und es zeigte wieder einmal, wie entsetzlich schlecht vorbereitet er auf all das war.
Sie konnten nicht hinaussehen. Die Raumanzüge halfen ihnen auch nicht weiter, da sie nicht genau wussten, wie sie das komplexe HUD zu bedienen hatten, von den automatischen Standardangaben einmal abgesehen. Das Sporenschiff lag still, und dann, wie im Grunde zu erwarten, vibrierte es. Triebwerke an. Stetige Beschleunigung. Wie zuvor.
Also saßen sie da und litten, zumindest an der Erinnerung.
»Das war nicht so schön«, hörte er Momo sagen.
Uruhard lachte, mit deutlich erkennbarem Schmerz in der Stimme. Sia schwieg, legte den Kopf schräg wie ein Hund und hielt die Augen geschlossen. So blieben sie hocken und die Zeit verging, zog sich hin, bis die Erinnerung an das Leid, das absolut keine körperlichen Spuren hinterlassen hatte, in so etwas wie Langeweile mündete und die gespannte Erwartung einer gewissen Ruhe wich, beinahe einer Enttäuschung darüber, dass nichts passierte.
Dann ruckelte es, ein sanftes Gefühl. Es wiederholte sich ein zweites Mal, als würde etwas das Sporenschiff vom Kurs abbringen, nur sanft, eine Korrektur, aber keine, die das Schiff selbst durchführte. Ryk hatte ein Gespür für so etwas, Stunden auf Triebwürmern mit ihren Kursänderungen hatten es ihn gelehrt und er sprach spontan aus, was ihm in den Sinn kam.
»Jemand hat das Schiff berührt. Oder es gepackt. Wir sind nicht mehr allein.«
Sia öffnete die Augen und nickte. »Ich höre es. Metall auf Metall, dort, wo die Hülle des Sporenschiffes anorganisch ist. Ein Eingriff in den Kurs. Wir sind zweifelsohne irgendwo angekommen, wo es Aktivität gibt.«
»Wenn uns ein anderer Hive einsammelt, werden wir bald Großmäulern gegenüberstehen und kurz darauf sehr tot sein«, sagte Uruhard düster. Die Reise hatte seine Stimmung definitiv gedrückt.
»Das war das Risiko. Es war zu erwarten«, kommentierte Sia kalt. Sie war offenbar nicht bereit, sich sofort wieder in Panik versetzen zu lassen. Sie schaute von einem zum anderen, dann zog sie die Waffe hervor, die in dem Beinholster des Raumanzugs steckte. »Und wenn, dann gibt es eine Überraschung, die sich gewa…«
Sie kam nicht mehr dazu, den Satz zu beenden. Ein reißendes Geräusch unterbrach sie, als ob jemand Textilien mitsamt der darunterliegenden Haut auseinanderreißen würde, ein widerlicher Ton. Licht fiel in die Samenkammer. Eine Öffnung. Jemand kam, von außen. Vor diesem Licht wurde ein Schemen erkennbar. Er bewegte sich, groß und unheilvoll.
Ryks Waffe zuckte nach oben.
Es war ein Großmaul. Ohne Zweifel.
Das mächtige, muskulöse Wesen drang durch die Öffnung in die Kammer ein und stand da, gelassen und locker, in all seiner mörderischen Kraft. Die langen, sehnigen Arme endeten in klauenartigen Greifwerkzeugen, die mit Leichtigkeit jeden von ihnen aufschlitzen konnten. Der viereckige Kopf mit den nach vorne drängenden Kieferknochen wurde durch ein großes, grün schillerndes Auge dominiert, eine Variante, die Ryk niemals zuvor erblickt hatte. Der Blick aus diesem Auge war stechend, als ob er allein ausreichen würde, jeden Gegner niederzustrecken. Statt eines normalen Mundes war darunter eine gleichfalls fast viereckige Öffnung, umrandet von einem Metallrahmen, und in der dunklen Tiefe dieser Höhle glitzerten kleine Messer, die sich rasend schnell um sich selbst drehten, bereit, sich in das Fleisch ihres Opfer zu versenken und ein grausames Blutbad anzurichten.
Das Großmaul war unbekleidet oder vielmehr: Seine Kleidung war Teil seines Körpers. Die verwachsene Brust, die auf den ersten Blick wirkte, als habe sich der Leib des Wesens einmal um sich selbst gedreht und sei in einer verstörend angespannten Haltung zum Stillstand gekommen, war durchzogen von metallischen Adern, golden und silbern glänzend, wie ein Exoskelett, das für Schutz und Haltung gleichzeitig sorgte. Die Beine, knotige Gliedmaßen mit offensichtlich je zwei Kniegelenken, waren von einem chitinartigen Panzer bedeckt, der halb durchsichtig war und die Sehnen, Blutgefäße und Motoren des Hybridwesens deutlich erkennen ließ – ein verwirrendes, ablenkendes Schauspiel, von dem Ryk mit Gewalt seinen Blick abwenden musste.
»Schießen wir?«, wisperte Sia, die das Großmaul mit einer wilden Entschlossenheit anstarrte, bereit, ihr Leben so teuer wie möglich zu verkaufen.
Ihre Frage war berechtigt.
Denn der mächtige Krieger stand nur so da und taxierte sie mit seinem durchdringenden, sezierenden, aber vor allem passiven Blick. Wartete er ab? Kalkulierte er, wie er ihnen allen möglichst schnell die Kehle aus dem Hals beißen sollte, ohne sich unnötig anzustrengen? Wartete er auf Befehle?
Ryks Waffenhand zitterte. Alles in ihm schrie danach, diese Bedrohung sofort auszuschalten, wohl wissend, dass hinter der Öffnung, die das Großmaul verdeckte, eine ganze Armee auf sie warten würde. Selbst der Tod dieses einen Wesens würde ihr eigenes Ende nur unwesentlich hinauszögern.
Das Großmaul schien zu einem Entschluss gekommen zu sein. Es hob die Hände mit den Klauen, spreizte diese und drehte sich langsam in Richtung der Öffnung. Es sprach.
»Conrad, das musst du dir ansehen. Das glaubt uns keiner.«
Ryk fiel die Waffe aus der Hand und zum Glück löste sich dabei kein Schuss.