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»So, wie war das nun mit dir und diesem Hai?«, fragte Buster, der große Glatzkopf vom Gelände- und Gebäudeservice der Academy.

Kris packte die oberste Sprosse der Leiter und bemühte sich, nicht nach unten zu schauen, wo Buster hoffentlich der Sechs-Meter-Leiter mit seinen Stiefeln in Größe 46 sicheren Halt gab. Keine Handbreit entfernt hing ein großes papierenes graues Hornissennest unter dem Dachsims von Chisolm Hall. Er suchte nach Lebenszeichen.

»Siehst du was?«, fragte Buster.

»Bin mir nicht sicher.« Kris zog das Nageleisen aus dem Gürtel, mit dem er bewaffnet war, und lauschte. Summte da was?

Tags zuvor waren zwei Schüler gestochen worden, die auf der Treppe direkt unter ihm gesessen und geredet hatten. Die Verwaltung war in Panik. Gift zu sprühen war bei Wärme zu gefährlich, weil die Tiere dann aktiv wurden, also mussten sie das im Morgengrauen erledigen, wenn es kalt war und alle noch im Nest waren.

Und mit sie meinte die Crew vom Gelände- und Gebäudeservice Kris oder The Kid, wie die Stammbesetzung ihn mittlerweile einfach nannte: Schließlich war er mindestens sechs Jahre jünger als das jüngste Mitglied des Teams. Auf Dächer klettern und Hornissen killen war definitiv ein Job für The Kid, da waren sie sich einig gewesen – ohne ihn überhaupt nach seiner Meinung zu fragen.

»Betrachte das als Initiationsritus«, hatte Buster gesagt. Kris hatte eher den Verdacht, dass die anderen zu viel Schiss hatten, es mit einem Schwarm wütender Hornissen aufzunehmen.

Jetzt, mehrere Stunden später, waren sie zurückgekommen, um die Leichen zu zählen.

Kris streckte das Nageleisen Richtung Nest und stupste es damit an.

»Von einem Weißen Hai in der Bucht hab ich noch nie gehört«, sagte Buster. »War vielleicht ein Riesenhai. Die sehen zum Fürchten aus, beißen aber nicht.«

Das Nest zitterte ein bisschen. Kris wich zurück. »Keine Ahnung. Die Rückenflosse war weiß.«

»Reinweiß? Oder gräulich weiß?«

Warum bombardierte er ihn mit Fragen – zu einem Zeitpunkt wie diesem? Die Sache mit dem Hai konnte warten. Sein Hals nicht.

»Am besten hältst du diese Leiter jetzt gut fest, Buster, ich versuche nämlich, das Ding runterzuhauen.«

»Zerbrich dir nur nicht dein hübsches Lockenköpfchen.«

Die Crew zog ihn immer mit seinen Haaren auf, die im Vergleich zu ihren blanken, kahlen Schädeln ziemlich lang und lockig waren.

Kris schlug noch mal gegen das Nest. Es wackelte. Aber keine Hornisse in Sicht.

»Ich dachte nur, wenn da wirklich ein Weißer Hai gewesen wäre, dann hätten sie das in den Nachrichten gebracht«, sagte Buster. »Die haben Organisationen, die diese Biester verfolgen, weißt du. Woods Hole oder so was.«

Okay. Das war’s. Kris holte mit dem Werkzeug aus und schlug heftig gegen das Nest.

»Bist du sicher, dass der Hai echt war?«

Kris kniff die Augen zusammen. Keine Hornissen. Gutes Zeichen. »Weiß nicht. Glaub schon.« Er hieb noch mal zu.

»Könnte eine Attrappe gewesen sein.«

»Hör auf! Wer würde denn eine Hai-Attrappe zu Wasser lassen?«

»Irgendein Bekloppter. Der euch Angst einjagen wollte.«

Noch ein Treffer und das Ding wäre unten. Dann konnte er endlich runter von dieser bescheuerten Leiter. »Sah ganz schön echt aus, fand ich.«

»Tat der aber auch, den unser Theaterkurs letztes Jahr benutzt hat, als Der Weiße Hai aufgeführt wurde. Originial Spielberg. Eins der Mädchen hier – ihre Eltern sind berühmte Schauspieler – kennt ihn. Ich schwör’s bei Gott. Das sind ganz dicke Freunde.«

Kris hob das Nageleisen und hielt mitten in der Bewegung inne. »Willst du damit sagen, die Schule hat Der Weiße Hai als Theaterstück aufgeführt? Wie war das denn möglich?«

»Sie haben es am Strand gemacht. Für uns war’s wahnsinnig nervig, die Bühne auf den Felsen da unten aufzubauen. Hat sich aber gelohnt. Ich war mit meinen beiden Kindern da, und die fanden es toll, obwohl sie normalerweise nicht auf solche Sachen stehen, eher auf Videos. Danach haben die Schauspieler ihnen den mechanischen Hai gezeigt, weil die Kleinen keine Angst vorm Schwimmen kriegen sollen und so. Deshalb meine Frage, war dein Hai vielleicht eine Attrappe?«

Die Antwort war zum Greifen nah, und wenn Kris nicht sechs Meter über dem Boden geschwankt hätte, wäre er in die Kursräume der Theaterleute gelaufen, um selber nachzusehen.

Wumm!

Damit knallte das Nest auf den Boden und zerstob in tausend papierene Schnipsel.

Der Fachbereich Theater residierte neben dem Fitnessraum im Souterrain der Albert Hall unter dem George-C.-Newbury-Theater und dem Kartenverkaufsschalter. Kris holte seine Heckenschere raus und machte sich an einem Busch zu schaffen, ehe er sich durch den Hintereingang ins Gebäude schlich, einer Stahltür ohne Aufschrift, die auf einen momentan ungenutzten Parkplatz hinausging.

Rasenmähen, verstopfte Abflüsse und Toiletten frei machen und zwischendrin Hornissennester entfernen entsprach ganz bestimmt nicht Kris’ Vorstellungen von einem Traum-Sommerjob, aber die Arbeit für den Gelände- und Gebäudeservice hatte auch Vorteile – wie zum Beispiel die Generalschlüsselkarte, die er jetzt über den Scanner zog.

Die Tür führte in einen Flur mit Büros, Tanzstudios, einem verloren dastehenden Klavier und einem Schwarzen Brett, an dem Programme aushingen, Gesuche nach Mitfahrgelegenheiten in die Stadt, Angebote, auf Professorenkinder aufzupassen, und der Probenplan.

Diesen Sommer wurde das Stück Little Shop of Horrors geprobt, die Aufführungen waren für den 3., 4. und 5. August angesetzt – dem vorletzten Tag vor den Ferien.

Neben dem Probenplan hing ein Anschlag, ein regelrechtes Pamphlet:

LEUTE!!!!!!!

NUR NOCH 2 WOCHEN BIS ZUR KOSTÜMPROBE UND DANACH NOCH 1 WOCHE BIS ZUR AUFFÜHRUNG. DAS HEIßT, IHR KÖNNT KEINE EINZIGE PROBE VERPASSEN!!!

KOMMT PÜNKTLICH MIT GELERNTEM TEXT, ES SEI DENN, IHR KÖNNT EINE ENTSCHULDIGUNG DER KRANKENSTATION VORZEIGEN.

1 X FEHLEN = FEHLEN BEI DER AUFFÜHRUNG

GEZEICHNET EURE MAESTRA,

TESS

Maestra? Kris grübelte. War das überhaupt ein Wort? Maestro, das gab es. Trotzdem, obwohl Tess nicht ganz oben auf der Liste seiner Lieblingsmenschen stand, musste er lächeln.

Dieser Aushang war typisch für sie.

Zum Glück wurde immer direkt vor dem Abendessen geprobt und dann noch mal nach den Abendmatches. Vermutlich war es den Theaterleuten nicht mal in den Sinn gekommen, morgens früh aufzustehen – wie die Sportler.

Sein Handy vibrierte. Kara. Schon wieder.

Sie war hinter ihm her, weil sie am folgenden Abend mit ihm auf eine Party in Cambridge gehen wollte, die zur gleichen Zeit stattfand wie das Schulfest – er hatte also eine gute Ausrede, weil er arbeiten musste.

Antworte mir gefälligst. Ich weiß, dass du Pause hast. Ich hab beim Gelände- und Gebäudeservice angerufen.

Heilige … das hatte sie doch wohl nicht getan? Also, das ging wirklich zu weit. Die Jungs würden ihn ohne Ende aufziehen.

Kara nahm seinen hektischen Anruf mit einem bedrohlichen Kichern entgegen. »Ich wusste, dass mir damit deine Aufmerksamkeit sicher ist. Du bist so ein Dämlack, Condor.«

Erleichtert atmete er aus. »Du hast also nicht im Büro angerufen?«

»Natürlich nicht. Bin doch kein Stalker.«

Doch das war sie, jedenfalls hatte sie Neigungen in diese Richtung. »Ich arbeite. Was willst du?«

»Oh, habe ich dich beim Mittagessen gestört? Was bist du nur für ein Held der Arbeiterklasse, die Zeiten fürs Käsebrotessen sind streng geschützt, was? Moment mal, du trägst doch wohl keinen Werkzeuggürtel, oder? Sonst bin ich nämlich in einer New Yorker Minute bei dir.«

Es war Viertel vor zwölf. In einer Viertelstunde hatte er sich für den dritten Teil des Experiments im Fitnessraum einzufinden. »Ich will ja nicht von diesem faszinierenden Thema ablenken«, sagte er, »aber warst du nicht eine Zeit lang in der Theatergruppe?«

»Erinnere mich nicht daran. Annie. Ich war das Waisenkind Nummer 3. Die Kritiken waren ein Traum.« Sie gähnte. »Warum? Was hast du vor?«

Über ihm knallte eine Tür, Schritte waren zu hören. Er musste sich beeilen, denn er durfte sich nicht erwischen lassen – zumal er schon auf Foys Abschussliste stand. »Weißt du, wo der Requisitenraum ist?«

»Unter der Bühne. Wolltest du dich da mit mir treffen?« Noch ein schrilles Kichern, das ihm Schauder über den Rücken rieseln ließ.

»Erzähl ich dir später. Danke.« Er legte auf, fand die richtige Tür und schloss sie auf. Als er vor einem schwarzen Labyrinth stand, das sich in alle Richtungen erstreckte, wurde er ganz mutlos.

Sein Handy summte. Kara? Ernsthaft? Sie zu ignorieren würde die Sache nur schlimmer machen, also antwortete er mit einem genervten: »Was denn jetzt?«

»Du hast mir nicht gesagt, wann du mich zur Party abholst. Wir können uns am Harvard Square treffen oder …«, sie machte eine Pause, » du könntest einfach nach Back Bay kommen. Keine elterliche Aufsicht. Du erinnerst dich?«

Der Requisitenraum war mit dem hilfreichen Schild »Requisite« gekennzeichnet. Kris knipste das Licht an und verschaffte sich einen Überblick über Regale voller Kostüme und ein Durcheinander von Kulissen. Diese Theaterleute waren echte Schweine!

Julias Balkon war in eine Ecke geschoben worden, zu bunt bemalten Blumen aus Sperrholz, die entweder aus dem Zauberer von Oz oder Dr. Seuss stammten. Er musste über die vermeintlichen Überreste einer Scheune klettern, aber dann fand er ihn: einen gigantischen mechanischen weißen Hai ohne Unterseite, denn da befanden sich nur von einer Plexiglashülle umschlossene Drähte.

Er suchte den im »Bauch« versteckten Schalter und legte ihn um. Der Motor war perfekt schallisoliert – totale Stille. Sogar als Kris den »Vorwärts«-Button der Fernbedienung drückte, waren kaum Geräusche im Getriebe auszumachen.

»Volltreffer.« Kris stieß die geballte Faust in die Luft und machte ein Beweisfoto mit seinem Handy. Er konnte gar nicht erwarten, es Addie zu zeigen.

»Du antwortest mir nicht!« Karas Stimme drang piepsig und wie aus weiter Ferne zu ihm, als er Aufnahmen aus verschiedenen Blickwinkeln schoss.

»Sorry«, sagte er, als er das Telefon wieder ans Ohr nahm. »Was war das noch mal?«

Sie seufzte. »Ich rede von der Party. Wann treffen wir uns?«

Er schaltete das Ding aus und ging zur Tür.

»Nein, geht nicht. Im Ernst, ich muss zu dieser Party in der Schule.«

»Musst du oder willst du?«

»Muss. Ich arbeite dort. Befehl von Foy.« Eine Halbwahrheit. Aber es hatte keinen Sinn, Kara noch mehr zu verärgern, indem er eingestand, dass er hingehen wollte, weil Addie da sein würde.

»Mit diesem übertriebenen Gehorsam und Fleiß entpuppst du dich als Enttäuschung für mich, Condor. Nur gut, dass du so süß bist, sonst würde ich dich jämmerlichen kleinen Arsch sitzen lassen.«

Wenn du das doch tun würdest, dachte er, schaltete das Licht im Flur aus und verließ rückwärts den Requisitenraum.

»Das reicht. Du lässt mir keine Wahl. Ich komme rüber und hole dich. Was hältst du davon?«

Kris schnappte nicht nach dem Köder. »Ich glaub, ich muss wieder an die Arbeit. Danke für deine Hilfe. Tschüss!« Er beendete das Gespräch.

Eines Tages würde Kara den Wink doch wohl verstehen, oder? Das musste sie, denn sonst müsste er ihr doch noch mal sagen, dass es vorbei war mit ihnen. Geschichte. Finito.

Wenn er früher nur davon gesprochen hatte, sich vielleicht mal mit anderen Leuten zu treffen, war sie in Tränen ausgebrochen, weil sie ja gerade so viel durchmachen musste und er dabei keine Hilfe war und vielen Dank auch dafür.

»Geh. Geh einfach!«, hatte sie dann befohlen. »Lass mich allein, damit ich tun kann, was ich tun muss.«

Und danach hatte er natürlich nicht gehen können.

Es war leichter gewesen, einfach dazubleiben und ihre Launen zu tolerieren. Bis jetzt.

Bis Addie kam.

Immer wenn er sich in Addies Umlaufbahn befand, fühlte er sich sofort scharfsinniger, intelligenter – so als würde ihre Genialität auf ihn abfärben. Sie weckte in ihm den Wunsch, mit ihrer Intelligenz gleichzuziehen, Punkt für Punkt, Fakt für Fakt. Neulich Abend war er motiviert von einem plötzlichen Ausbruch akademischer Neugier tatsächlich in die Bibliothek gegangen, um zu lesen. Aus Spaß. Selbstbetrachtungen von Mark Aurel. Der Typ hatte vor 1800 Jahren gelebt und war immer noch absolut lesbar.

Aber so ein reiner Mann des Geistes war er dann doch wieder nicht. Seine andere Seite wollte diesen Pferdeschwanz lösen und diese süßen Lippen küssen. Er verspürte den schlimmen Drang, das leidenschaftliche Mädchen herauszulocken, das in der Musterschülerin mit den Top-Zensuren gefangen war.

Aber das alles war nicht möglich, solange Kara noch aktuell war. Solange sie ihm stündlich Nachrichten schrieb und mit Überraschungsbesuchen drohte, war er gefangen.

Das musste sich ändern. Jetzt.