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»Wirklich erstaunlich, dass euch nichts passiert ist.« Tess schraubte eine gekühlte Flasche Wasser auf und nahm einen Schluck, bevor sie sie Addie anbot. »Hätte gefährlich werden können, so zu kentern.«

»Alles gut«, sagte Addie und wischte umherirrende Keime vom Flaschenrand. »Meine Schwimmweste war ein von der Küstenwache geprüftes Modell vom Typ III. Wie geht es Emma und Shreya?«

»Ach, denen fehlt nichts. Emma war genervt, dass Ed ausgerückt ist, um sie zu retten, obwohl er sagte, Shreya sei erleichtert gewesen. Sie hatte eindeutig weder die Kraft noch die Erfahrung, um in dieser Bucht klarzukommen.«

Addie leerte die Flasche und warf sie in die Recyclingtonne. »Tut mir leid, dass ich nicht am Steg war. Ich hatte angenommen, dass alle fernsehen, da dachte ich, was soll’s, und bin ins Labor rüber.«

»Ist okay. Ed hätte niemals vorschlagen dürfen, dass die Mädchen paddeln gehen, ohne sich vorher zu erkundigen, ob sie beaufsichtigt werden.«

»Dann wollen wir die Schuld an der ganzen Sache mal ›Say Yes to the Dress‹ geben.« Addie nahm sich ein Handtuch, das sie ordentlich gefaltet in ihrem Regal aufbewahrte. »Ich muss duschen. Meine Haut ist klebrig von den Natriumrückständen.«

Sie nahm ihren Anti-Schimmel-Bambus-Duschkorb und ging. Auf halbem Weg zu den Duschen fiel ihr ein, dass sie vergessen hatte, sich von Tess zu verabschieden.

Das war aber okay. Tess war zum Glück an ihr abruptes Verschwinden und Erscheinen gewöhnt. Andere Leute waren so besessen von Formalitäten, wie Hallo zu sagen und Hi und Tschüss und Bis später. Musste man denn immer verkünden wie ein Stadtausrufer, ob man kam oder ging? Das war doch so unnötig.

Addie stieß die Tür mit der Aufschrift GIRLS auf. Überflüssig, fand sie, schließlich war dies ein reines Mädchenwohnheim, alle Waschräume waren für Mädchen. Als ob der Sexismus noch betont werden sollte, war alles hier – von den Toilettenbecken bis zu den Fliesen – in einem Farbton gehalten, den Addie für sich Elfenkotze nannte – ein Relikt aus den Fünfzigerjahren, in denen Wren Hall erbaut worden war.

Zum Glück war der Waschraum leer, Addie hatte also freie Wahl bei den Duschen. Sie nahm die in der Ecke, denn die hatte ein kleines Fenster, durch das starke ultraviolette Lichtstrahlen in den Raum drangen – von Laien Sonnenschein genannt –, und wie allgemein bekannt, töteten die Bakterien und Viren ab, indem sie deren DNS gehörig aufmischten. Faszinierend. Es war ausgesprochen tröstlich zu wissen, dass sie sich an einem Ort reinigte, an dem früh am Tag bereits ein Massenkeimsterben stattgefunden hatte.

Systematisch zog Addie Rock, Top und Unterwäsche aus, während das Wasser sich auf die perfekten 40,5 Grad Celsius erwärmte, trat dann in die Dusche und genoss die Dopaminausschüttung unter dem Wasserstrahl, der das Salz fortspülte und ihr Gehirn in den Ruhemodus versetzte.

Sie schämte sich ein bisschen dafür, dass sie zurückdachte an die Wölbungen von Kris’ Quadrizeps und Rückenmuskulatur, die durch sein nasses T-Shirt zu sehen gewesen waren. Um das Experiment nicht zu gefährden, musste sie diese Bilder aus ihrem Bewusstsein verdrängen und aufhören, Kris mit Dexter zu vergleichen, der – obwohl er einen gesunden BMI hatte – seine Tasche so schwer fand, dass seine Mutter ihm eine mit Rollen gekauft hatte, mit seinen Initialen darauf.

Das war natürlich vollkommen verständlich. Dexter war ein echtes Genie, dessen Domäne die Bibliothek oder das Labor war, nicht Sporthalle oder -platz. Niemand, der ernst zu nehmen war, würde abstreiten wollen, dass Hirn wichtiger war als Muskelmasse.

Hätte Dexter im anderen Kajak gesessen, hätte er höchstwahrscheinlich angeführt, es sei der sicherste Weg, ihre Rettung zu gewährleisten, wenn er zurück ans Ufer paddelte und Hilfe holte (während sie sich ans Boot klammerte, um ihr nacktes Leben zu retten).

Kris dagegen hatte erst gehandelt und später gedacht. Vielleicht. Sie hatte keine rechte Gelegenheit mehr gehabt, mit ihm zu reden, nachdem Ed Emma und Shreya am Anleger abgesetzt hatte und dann zurück zu Addie und Kris geflitzt war, weil die vielleicht Hilfe brauchten. Was definitiv auch der Fall gewesen war.

Die Waschraumtür knallte zu. Addie begann sich systematisch durch ihren Shampoo-Conditioner-Seifen-Ablauf zu arbeiten.

»Wo ist der denn hergekommen?«, fragte ein Mädchen. Sie dehnte das Fragezeichen, als wäre es ein eigenständiges Wort. »Jeder Typ hier ist eine Lusche und dann … wham! Kommt so eine Lichtgestalt.«

»Er war gestern Abend beim Volleyballspiel. Weißt du noch?«

»Wie könnte ich das vergessen?« Gekicher.

Addie spitzte die Ohren, um mehr mitzukriegen. Tay und Bree, wenn ihre auditorische Differenzierungsfähigkeit intakt war.

»Ich steh ja so auf Typen wie ihn«, zirpte Tay. »Der ist soooo mysteriös.«

»Ich auch!«, sagte Bree. »Ich glaub, das liegt daran, dass da, wo wir herkommen, alle Jungs blond sind.«

»Kalifornischblond.«

»Die sind überall. Sogar diese Idioten, die nie auf einem Surfbrett gestanden haben – besonders diese Idioten, die nie auf einem Surfbrett gestanden haben –, sind so … ey, Alter. Solche Hypokriten.«

Ein Hypokrit war jemand, der in der Öffentlichkeit eine bestimmte Philosophie vertrat, gegen die er privat verstieß. Aber Addie wollte sich jetzt nicht die Seife abspülen müssen, um sie zu korrigieren, obwohl sie ernsthaft in Versuchung war.

»Aber ich kapiere nicht, warum er ausgerechnet mit ihr paddeln war?«

Der eingeseifte Luffaschwamm stockte auf Addies Arm.

»Nett ist sie ja, aber …« Das andere Mädchen spülte sich den Mund aus und spuckte. »Ziemlich peinlich.«

»Ja, nicht? Die ist wie ein Roboter mit Pferdeschwanz. Und diese Röcke!«

»Wetten, die ist noch ungeküsst?«

Addies Wangen brannten. Das war ja so was von nicht wahr.

Aber damit nicht genug. Was dann kam, tat noch mehr weh.

»Ich hab gehört, dass ein paar PETA-Typen letztes Jahr gemeine Sachen über sie an die Wände vom Labor gesprayt haben und wegen Vandalismus von der Schule geflogen sind.«

»Echt?« Ein weiteres Spülen und Ausspucken. »Was haben die denn geschrieben?«

»Weiß nicht, aber sie haben alle Wände vom Labor beschmiert. Kannst du dir das vorstellen?« Zwei Lachsalven hallten von den Fliesen wider.

Addies Magen spielte verrückt.

»Das ist bitter«, sagte Bree.

»Ja, nicht? An ihrer Stelle hätte ich die Schule verlassen.«

»Aber ernsthaft.«

Addie ließ den Kopf hängen, das Wasser lief über ihren Körper, tropfte ihr von Kinn und Schultern – zusammen mit frischen, salzigen, heißen Tränen. Sie hatte die Academy nur nicht verlassen, weil sie nicht zurück nach Hause wollte. Dort war es in der Schule noch schlimmer. Das war der einzige Grund gewesen. Wie sie dort von den Mitschülern immer angestarrt worden war, weil sie sich im Unterricht ständig meldete … Als wäre es total eklig, etwas lernen zu wollen.

Als Addie an die Academy gekommen war, hatte sie sich wie das hässliche Entlein gefühlt, das zum ersten Mal seinen Mit-Schwänen begegnet. An der Academy hoben im Unterricht alle die Hand. Seltsam waren hier diejenigen, die sich nicht beteiligten. Diskussionen in der Klasse verliefen schnell, leidenschaftlich und oft heftig, und die Lehrer drängten sie dazu, ihre Grenzen zu sprengen, wenn sie über die elementarsten Dinge nachdachten.

Was macht Primzahlen so besonders? Wenn das Universum nicht unendlich ist, was liegt dann dahinter? Warum gibt es Materie, und wo kommt sie her, wenn Energie weder erzeugt noch zerstört werden kann und vor hundert Jahren nicht annähernd so viel Materie da war wie jetzt?

Wenn sie solche Fragen in ihrer alten Schule gestellt hätte, wäre sie ausgelacht worden. Nach Hause zurückzugehen, kam also überhaupt nicht infrage.

Tess versprach ihr seit dem Laborvorfall, dass alles wieder besser werden würde. Die Oberstufenschüler vom letzten Jahr hatten ihren Abschluss gemacht – also schon mal eine Gruppe weniger, die davon wusste. Und Erinnerungen verblassten ohnehin, die meisten Leute waren mehr mit sich selbst beschäftigt als mit anderen.

In den letzten Tagen hatte Addie angefangen zu begreifen, was Tess meinte. Seit sie in die Schule zurückgekehrt war, hatte niemand die Graffiti oder den Vandalismus erwähnt, abgesehen von Dexter. Aber das war nicht anders zu erwarten gewesen, schließlich war Kris bei ihnen im Labor aufgetaucht. Alles lief bestens bis … heute Abend.

Die Tür knallte. Addie schreckte hoch und versuchte sich zusammenzureißen. Sie durfte nicht zulassen, dass die Sommerkursleute sie weinen sahen, das würde ewig an ihr hängen bleiben.

Es half, wenn sie ihre Emotionen analysierte – auf rein biologischer Ebene. Tränen waren zum Beispiel so ein seltsames Phänomen, ohne evolutionären Zweck, abgesehen von einer vorübergehenden emotionalen Entspannung – ganz anders als die reine Tränensekretion, bei der die zwischen Augapfel und Augenlid befindlichen Tränendrüsen Flüssigkeit produzierten. Sie dachte über die drei Haupttypen von Tränen nach – basale, reflexartige und emotionale –, bis die Produktion von Acetylcholin nachließ und ihr Herzschlag sich normalisierte.

Gefasster trocknete sie sich ab und fuhr sich mit dem Kamm durch die nassen Haare, putzte sich die Zähne und betrachtete ihr Gesicht im Spiegel. Sie wickelte sich fest in ein flauschiges blaues Handtuch und tapste den Flur entlang in die sichere Abgeschiedenheit ihres Einzelzimmers. Als sie die Tür aufmachte, musste sie allerdings feststellen, dass sie nicht allein war.

»Hey. Ich hoffe, das ist okay.«

O Gott, das war er.

Kris saß auf ihrem Bett mit zwei 500-Gramm-Bechern Eis von Ben & Jerry’s in der Hand. Ihr PEA drehte voll auf.

»Was machst du hier?«, fragte sie und schlang das Handtuch fester um sich.

»Hazed & Confused?« Er hielt einen Eisbecher hoch. »Oder Chunky Monkey? Beide zum Bersten voll von hinreißender Köstlichkeit.«

»Hm.« Sie näherte sich zentimeterweise ihrem Wandschrank, diesem sicheren Zufluchtsort.

»Ich habe gesucht, aber gebratener Agavenwurm war gerade ausverkauft.«

»Entschuldige mich.« Damit schloss sie die Tür des Wandschranks und tastete im Dunkeln nach dem Nachthemd, das sie dort auf einen Haken gehängt hatte. Sie zog es über den Kopf, löste das Handtuch, schlüpfte in Unterwäsche, fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und tauchte wieder auf.

Kris’ Blick fiel auf ihr Nachthemd, löste sich aber genauso schnell wieder von dem Anblick. »Ich liebe Hello Kitty

Sie warf einen prüfenden Blick auf ihr Hemd. »Du machst dich über mich lustig, oder?«

»Absolut nicht. Ich bin ein großer Fan von pinkfarbenen Katzenfiguren.«

»Das war ein Geschenk von meiner Nachhilfeschülerin im letzten Jahr.«

Er stellte die beiden Eisbecher auf ihren Schreibtisch. »Worin hast du ihr Nachhilfe gegeben?«

Addie schob ein Notizbuch unter die Becher, damit das Holz nicht vom Wasser ruiniert wurde, und setzte sich aufs Bett. »Organische Chemie. Keine Ahnung, warum sie damit Schwierigkeiten hatte. Es macht so viel Spaß, diese Kohlenstoffmoleküle zusammenzusetzen. Die sind wie Spielzeuge.«

»Da könntest du was entdeckt haben.« Er zog einen Eisportionierer aus der Tasche und machte das Chunky Monkey auf. »Das Lego fürs begabte Kind.«

Das war eine gute Idee.

»Wie auch immer«, er bohrte den Portionierer ins Eis. »Tut mir leid, wenn du das Gefühl hattest, ich ziehe über dein Shirt her. Du solltest mal sehen, was ich im Bett anhabe. Zerrissene Boxershorts.«

Dieses Bild löste bei ihr einen Anflug von Schwäche aus. Indessen holte er zwei weiße Schälchen und schmale Eislöffel aus den Tiefen seines Andover-Kapuzenshirts. »Hast du die in der Cafeteria gestohlen?«

»Gestohlen?« Er öffnete das Hazed & Confused. »Eher ohne schriftliche Einverständniserklärung kurzzeitig ausgeliehen.«

Sie hatte Zweifel, dass es diese Form der Ausleihe tatsächlich gab. »Das ist doch ein Witz, oder?«

Er reichte ihr eine Schale mit einer Kugel von jeder Sorte. »Genau. Du machst Fortschritte. Im Handumdrehen werden wir uns die Bäuche halten vor Lachen.«

»Der ist besser als der mit deiner Ente und dem Erdferkel«, sagte sie und stupste eine gefrorene Walnuss mit dem Löffel an.

»Und das Schwein. Vergiss das Schwein nicht, denn das hatte die Ballons!« Kris drückte die Deckel wieder auf die Eisbehälter, setzte sich aufs Bett und guckte erwartungsvoll. »Die meisten Leute würden in diesem Stadium des Spiels Danke sagen – normalerweise.«

»Danke, dass du mir Eis mitgebracht hast, als du in mein Zimmer eingebrochen bist.«

»Touché!«

Ehrlich gesagt, nach ihrem Weinanfall unter der Dusche war es schön, ihn hierzuhaben. Wie hatte Bree ihn noch genannt? Oh, richtig, die Lichtgestalt.

Gedankenverloren schwenkte er den Löffel. »Die Sache ist die, ich hätte nicht einbrechen müssen, wenn die Schule sich nicht in ein Gefängnis verwandelt hätte. Seit wann schließen die denn die Wohnheime um zehn?«

»Seit Sommerkursler die Einrichtung einer Sperrstunde nötig gemacht haben.«

»Das habe ich erst mitgekriegt, als ich den Summer an der Eingangstür gedrückt habe und Tess aufgemacht hat. Sie hat mir geraten, hintenrum zu deinem Fenster zu gehen und zu versuchen, dich so zu erreichen. Schließlich hab ich deine Handynummer nicht und … ich hab mir Sorgen gemacht. Das war ziemlich gruselig, was uns da draußen passiert ist. Ich wollte sichergehen, dass mit dir alles in Ordnung ist.«

Addie war wirklich gerührt. »Danke für deine Besorgnis. Mir geht es gut. Und wie ist es mit dir?«

»Gut. Gibt es einen Grund dafür, dass du ganz da hinten sitzt?«

Sie rutschte von ihrem Platz am Kopfende des Bettes zum Fußende, wo er saß – und erstarrte. Kris in ihrem Zimmer nach der Sperrstunde! Mit dem Mund voll Chunky Monkey, das war ein Verstoß gegen die Hausregeln und total riskant. Jeden Moment konnten sie erwischt werden und dann würde die Hölle los sein.

Der Rektor würde sie in sein Büro zitieren und ihr Vorhaltungen machen, weil sie so ein elendiges Vorbild war als Assistentin der Schülerberaterin. Tess wäre entsetzt, weil sie nach acht Uhr abends Eis gegessen hatte, obwohl es völlig unmöglich war, die Kalorien noch vor dem Schlafengehen zu verbrennen. Und Dr. Brooks … wie sauer Dr. Brooks sein würde, mochte sie sich gar nicht erst vorstellen.

»Eiscreme macht alles besser, findest du das nicht auch?«, sagte Kris. »Ich dachte, nach dem Kentern heute Abend könntest du so was bestimmt gut gebrauchen. Das Wasser war eisig.«

»Nein, Eis bildet sich erst unter null Grad Celsius. Nach meiner Schätzung müsste die Wassertemperatur ungefähr bei 12,778 Grad Celsius gelegen haben, was die Kerntemperatur unserer Körper gesenkt hätte auf …« Sie konnte den Satz nicht beenden, weil Kris ihr einen Löffel voll Banane-Schoko-Köstlichkeit in den Mund stopfte.

»Manchmal, Addie, ist es schön, einfach nur dazusitzen und Eis zu essen. So ganz still.«

Sie schluckte den ganzen Batzen auf einmal runter und bezahlte dafür mit einem stechenden Kopfschmerz – zu schneller Speiseeisverzehr. »Aber ich rede gern.«

»Das weiß ich.« Er lächelte und nahm noch einen Löffel voll. »Worüber willst du reden?«

Sie massierte sich die Stirn. »Deine Ambitionen.«

»Meine Ambitionen? Ich dachte da eher an Themen wie: Warum spielen die Red Sox so scheiße.«

»Weil sie keine verlässlichen Batter haben und der Bullpen verkleinert worden ist.«

»Oookay. Ich glaube, das Thema wäre abgehakt. Du willst also was über meine Ambitionen wissen?« Er starrte an die Decke und klopfte sich dabei mit dem Löffel aufs Knie. »Also, mein kurzfristiges Ziel ist ziemlich einfach: Foys Anerkennung wieder zurückgewinnen, die Ergebnisse vom Eignungstest im Mai verbessern, im nächsten Halbjahr einen besseren Notendurchschnitt kriegen und dann auf eine Uni im Westen gehen, zum Beispiel in Kalifornien. Asiatische Studien im Hauptfach. Und dann, zong, zurück nach Nepal!«

»Wird dir deine Familie nicht fehlen?«

»Ja schon, aber …« Er zögerte, so als hätte er eigentlich noch etwas sagen wollen. »Nee. Das spare ich mir auf. Und wie ist es mit dir?«

»Meine Familie hat nicht die Kernfamilienstruktur.« Noch ein Mundvoll Eis. »Dorrie, alias meine Mutter, ist Wildbiologin. Sie reist von Forschungsprojekt zu Forschungsprojekt in der ganzen Welt herum. Zu Hause ist sie nur ganz selten. Mein Vater ist wieder verheiratet, mit einer jüngeren Frau, und die beiden haben Zwillinge, zwei Mädchen, die so viel Zeit und Aufmerksamkeit beanspruchen wie die Garderobe meiner Stiefmutter.«

»Du passt also irgendwie nicht mehr ins Bild.«

»Doch, ich bin auf den Bildern – im Hintergrund. Auf den Familienbildern stehe ich hinter meinen Stiefschwestern, weil ich größer bin.«

Kris schloss die Augen. »Was ich meinte, ist: Du bist ziemlich autark, deshalb können deine Eltern dich ignorieren, ohne sich schuldig zu fühlen.«

Schuld. Er war wirklich besessen davon. »Sie fühlen sich niemals schuldig.« Addie knackte ein ziemlich großes Stück dunkle Schokolade mit den Zähnen. »Sie verhalten sich, als würde ich nicht existieren.« Sobald sie das ausgesprochen hatte, tat sie sich ein bisschen leid.

»O Addie. Das ist ja übel.« Kris schob seine Schale auf den Schreibtisch und legte den Arm um sie. Sie wurde stocksteif. Kris war warm und roch nach Tang aus dem Meer.

»Weißt du, was ich insgeheim am meisten an Nepal mochte?«, fragte er und hielt sie immer noch im Arm. »Nicht die Berge oder die Leute. Versteh mich nicht falsch, die waren toll. Das Alleinsein. Keine Handys. Kein Internet. Es war, als wäre man vom Angesicht der Erde verschwunden.«

»Die Erde hat kein Angesicht«, fing sie an.

»Das ist eine Redensart.«

Er lachte, drehte sich zu ihr und es machte klick bei ihnen. Für gefühlte Äonen verlor Addie sich in der Tiefe seiner dunkelbraunen Augen.

Sie schüttelte seinen Arm ab und konzentrierte sich auf ihre fast leere Schale, um sich wieder in den Griff zu kriegen. »Du gehst doch zu dem Fest am Samstag, oder?«

Sein Kopf näherte sich ihrem. »Wenn ich gehe, tanzt du dann mit mir?«

»Gott! Nein!«

Er zuckte zusammen. »Nein?« Oh, hatte sie seine Gefühle verletzt? Aber vielleicht zog er sie ja nur auf. »Warum nicht?«

»Das kann ich nicht, weil …« Moment mal. Sie konnte Kris nicht sagen, dass sie ihn außerhalb des Labors mit Lauren interagieren sehen musste. Und trotzdem war es für ihre in Aufruhr geratenen Gefühle ganz wichtig, dass sie eben nicht interagierten. Es war ja so verwirrend!

»Äh, weil Schülerberater so was nicht dürfen.«

»Was? Das ist doch blöd.«

»Ich weiß. So sind die Schulregeln. Wir müssen Aufsicht führen.« Sie zuckte mit den Schultern, so als könne man nichts dagegen machen. »Egal, du musst zu dem Fest gehen, der Rektor hat es zur Pflichtveranstaltung erklärt.«

Kris stand auf und streckte sich, bis er mit den Fingerspitzen die Zimmerdecke berührte. »Ich muss sowieso hin, weil ich aufräumen muss, deshalb komme ich wahrscheinlich erst gegen Ende.«

Die Sache mit Lauren würde nie im Leben klappen, wenn er nicht von Anfang an dort war. Addie beobachtete, wie Kris die beiden Eisbehälter, die Schalen und Löffel einsammelte. »Du könntest früher kommen«, sagte sie.

»Nee. Ist doch sinnlos, wenn ich nicht mit dir tanzen kann.«

»Und wenn ich nun einen Weg finden würde, heimlich einen schnellen Tanz einzuschieben?«

Er zog den Reißverschluss seiner Jacke hoch. »Dann vielleicht. Hey, ich muss los, bevor ich mich in einen Kürbis verwandele.« Und dann, ohne zu überlegen, so als ob es das Natürlichste der Welt wäre, beugte er sich herunter, und seine Lippen streiften ihre Wange, ehe er das Fenster aufmachte und in die Nacht verschwand.

Addie ließ sich rücklings aufs Bett fallen und lauschte dem Knirschen seiner Schritte auf dem Kies. Sie musste sich daran erinnern, dass eine persönliche Beziehung nicht nur unter keinen Umständen möglich, sondern völlig ausgeschlossen war.

Dann berührte sie die Stelle, die er geküsst hatte, und seufzte.

Zu Addies großer Erleichterung lief bei ihr am nächsten Morgen wieder alles nach Plan: joggen am Strand um 5 Uhr. Duschen um 5 Uhr 45. Föhnen um 5 Uhr 55, dann sofort die Haare zum Pferdeschwanz binden, Sonnenschutzfaktor fünfzig auftragen und in die Wanderklamotten, weißes T-Shirt und Wandershorts. Streng genommen waren sie grau, aber mit so viel jeansblauer Einfärbung, das ihre Nervosität beruhigt wurde.

Um 6 Uhr 10 war sie im Labor, um 6 Uhr 45 hatte sie den Artikel über Spindelneuronen gelesen und fünf Minuten später ihre eigene Präsentation für den Athenian geschrieben. Es musste noch ein Versuch mit Brad und Angelina durchgeführt und untersucht werden, ob Verhaltensänderungen bei ihnen von den Cholinwerten abhängig war, dann würde sie frühstücken gehen.

Um 8 Uhr 15 machte sie sich auf ins Café, um sich mit Tess zu einem Eiskaffee, Porridge mit Mandelmilch und einer halben, in Scheiben geschnittenen Banane zu treffen. Etwas anderes aß sie nicht zum Frühstück. Nie. Tess traf pünktlich zur Tesszeit um 8 Uhr 30 ein. Eine Viertelstunde zu spät. Wie ein Uhrwerk. Und wie üblich zu nervös, um etwas anderes als Koffein zu sich zu nehmen.

»Achtung Krisenwarnung!« Tess nahm einen ersten Schluck von ihrem flüssigen Tod. »Die neue Waffe von Tay und Bree in ihrer Kampagne, den Mitbewohnern das Leben zur Hölle zu machen, ist, einander um drei Uhr morgens anzurufen und so richtig laut zu reden. Das ist total nervig für Emma und Shreya.«

»Gemeinsames Fernsehen wie eine große glückliche Familie hat es also nicht gebracht?«

»Ist eher noch schlimmer geworden, als sie abgehauen sind.« Tess warf ihr Rührstäbchen in den Müll. »Ich war die ganze Nacht auf und musste mich um ihr Gejammer kümmern.«

Addie nahm einen kleinen Schluck schwarzen Kaffee. »Ungenießbar!« Sie langte nach der Kaffeesahne und goss sich eine gehörige Portion ein.

»Bist du sicher, dass du so viel möchtest?«, erkundigte sich Tess.

»Fett ist ein ausgezeichneter Brennstoff fürs Gehirn. Warum steckt man sie nicht zusammen?«

»Gehirn und Fett?«

»Nein. Bree mit Tay und Shreya mit Emma. Dann kriegen alle die notwendigen acht Stunden Schlaf.«

Tess stieß die Tür des Cafés mit der Schulter auf und trat hinaus. »Wenn wir uns von ihnen manipulieren lassen, macht das den ganzen Sinn und Zweck eines Sommerkurses zunichte. Tay und Bree sind aus derselben Stadt. Sie sollen ihre Fühler ausstrecken und neue Leute kennenlernen.«

Fröhlich winkte sie einer Gruppe ihrer Schülerberater-Kollegen zu, die im Gras lagen.

An ihrem Kaffee nippend folgte Addie ihr. »Neue Leute treffen wird total überbewertet.«

»Nein, wird es nicht. Wie kannst du so was sagen?«

»Das Broca-Zentrum in meiner Großhirnrinde gibt meinen Lippen das Signal, sich zu bewegen.«

Tess lachte und wiederholte die Winknummer, als eine weitere Gruppe Sommerkursler an ihnen vorbeizog.

Dieses Mal versuchte Addie sich mit einem halbherzigen Handwackler zu beteiligen. Als Reaktion darauf steckten die Schülerinnen die Köpfe zusammen und flüsterten konspirativ. Vielleicht wussten sie auch über sie Bescheid.

Tess sagte: »Lächele. Keiner mag Miesepeter.«

»Die reden über mich. Dass ich Tiere quäle.«

»Oh, hör auf.«

»Es stimmt.« Addie ging mit bewusst abgewendetem Blick weiter. »Ich versuche es nicht an mich herankommen zu lassen, aber man hat nicht immer die Kontrolle über die eigenen Synapsen.«

Vor der Bibliothek blieben sie stehen. Dort war Tess mit den Austauschschülern verabredet. Heute fuhren sie endlich nach Harvard – eine Führung über den Campus und ein exklusives Mittagessen mit einem Vertreter der Zulassungskommission inklusive. Und Shoppen am Harvard Square. Mindy würde begeistert sein.

Tess setzte sich auf die Mauer und wartete. »Was ist los mit dir heute Morgen? Ist gestern Abend was passiert? Abgesehen von der Haiattacke, meine ich.«

»Ich habe nur fünf Stunden und dreiundzwanzig Minuten Schlaf gekriegt.«

»Aha. Und …?«

Addie machte den Deckel ihres Kaffeebechers auf und saugte einen Eiswürfel heraus, den sie zwischen den Zähnen zermalmte. »Meinst du, ich soll es doch noch mal mit Schminken versuchen?«

Wieder lachte Tess. Es war dieses Ach-wie-süß!-Lachen, das sie bei kleinen Kindern zum Einsatz brachte, wenn die niedlich waren – und wenn Addie … Addie war. »Du hast dem Make-up abgeschworen, als du davon rosa Kaninchenaugen gekriegt hast, weißt du noch?«

»Aber nur, weil du lila Lidstrich benutzt hast, der Karmin enthalten hat. Und Karmin wird aus Cochinelle-Extrakt hergestellt, das aus den gemahlenen Panzern des weiblichen Dactylopius coccus, der Roten Schildlaus, gewonnen wird, auf die ich allergisch reagiere.«

»Ooookay. Dann werden wir die Läuse weglassen. Für Samstagabend hatte ich ein blassblaues Kleid für dich im Sinn, da würden diese Farben sich sowieso nur beißen.«

Addie war platt. »Woher hast du gewusst, dass ich zum Fest Make-up tragen wollte?«

»Hm, weil du im Labor keins wollen würdest?«

Das schien eher eine Frage als eine Aussage zu sein, allerdings blieb Addie nur eine Sekunde für diese Analyse, denn die Austauschschülerinnen näherten sich. »Glaubst du, die Leute finden mich nicht mehr komisch, wenn ich mich schminke?«

Mitfühlend sah Tess sie an. »O Süße. Da war was gestern Abend, oder?«

»Eigentlich nicht.« Addie wollte den Vorfall im Waschraum nicht erwähnen – es war nicht vorauszusehen, wie Tess reagieren würde. »Abgesehen davon, dass Kris mit Eiscreme in meinem Zimmer aufgetaucht ist.«

Tess zog eine Augenbraue hoch. »Echt?«

»Tu nicht so, als ob du das nicht wüsstest. Du hast ihm gesagt, dass er hintenrum zu meinem Fenster gehen soll, wo er tatsächlich eine Anti-Defenestration versucht hat.«

»Anti…was?«

»Defenestration.« Addie war mit ihrem Eis fertig. »Abgang durchs Fenster. Das lateinische Wort für Fenster ist fenestra. Ergo wäre der Einstieg durch ein Fenster das Gegenteil davon. Deswegen das Anti

»Was immer du auch sagst. Egal. Kris hat dir Eis mitgebracht! Ist das nicht süß?«

»Zu süß. Hast du je die Nährwertangaben gelesen? Der Zuckergehalt von Chunky Monkey ist viel zu hoch.«

Aber sie konnte ihr Lächeln nicht verbergen. Im Kopf hatte sie den gestrigen Abend immer wieder ablaufen lassen – wie er sie mit dem Hello-Kitty-Nachthemd aufgezogen hatte, ihr für ihre Tapferkeit Komplimente gemacht hatte … Wie er sie auf die Wange geküsst hatte.

Und obwohl es als zickig rüberkommen würde, war sie insgeheim völlig entzückt darüber zu wissen, dass Tay und Bree gemordet hätten, damit Kris Condos bei ihnen durchs Fenster kletterte. (Obwohl sie im ersten Stock wohnten.)

Schmerz durchzuckte ihre Schulter, als Tess ihr einen harten Faustschlag verpasste. »Nun sieh dir das an!«

Addie rieb sich die schmerzende Stelle. »Was?«

»Du stehst total auf ihn.«

»Tu ich nicht.« Mit ihrem Kaffeebecher in der Hand steuerte sie die Recyclingtonne an, aber Tess rutschte von der Mauer und verstellte ihr den Weg. Sie musterte Addie, als wolle sie ihre Gedanken mit einem ihre Augäpfel durchdringenden Blick lesen.

»Ohhh ja. Schwerer Fall.«

»Wir sind nur Freunde. Und da er sich nun für diese Sache entschuldigt hat, die er im Frühjahr gemacht hat, lasse ich es durchgehen.« Addie warf den Becher an Tess vorbei und verfehlte natürlich die Tonne.

Tess hob ihn auf. »Vor Kurzem hast du ihn beim Volleyball beinahe umgebracht für ›diese Sache‹, die er im Frühjahr gemacht hat.« Tess warf den Becher. »Und vierundzwanzig Stunden später wirst du rot. Ich hab noch nie gesehen, dass du so auf einen Typen reagierst.«

Schon wieder diese Hyperbel.

»Zum millionsten Mal: Ich bin nicht auf diese Art an Kris interessiert. Abgesehen davon …« Addie winkte den Austauschschülerinnen zu, die nicht zurückwinkten, vermutlich, weil sie sich über ihre Handys beugten. »Er hat eine Freundin.«

»Na und? Ed hatte angeblich auch eine Freundin, als wir uns kennenlernten.«

»Hatte er nicht!«

Tess sah sie fragend an. »Woher willst du das wissen? Ed war vor dem letzten Herbst nur ein x-beliebiger Junge in unserem Kunstkurs … oder etwa nicht?«

Addie biss die Zähne zusammen. Sie war ganz kurz davor, die Sache auffliegen zu lassen, die sie so sorgfältig eingefädelt hatte. »Stimmt. Ich meine, soweit ich weiß. Jetzt. Soweit ich jetzt weiß.« Ihr Mund wurde trocken. »Angesichts der … Erfahrungen mit ihm. Weil wir Zeit miteinander verbracht haben. Et cetera.«

Tess schien nicht recht zu wissen, ob sie diese gestammelte Antwort akzeptieren sollte oder nicht. Zum Glück krakeelten die Austauschschülerinnen, sie würden gleich den Bus verpassen.

»Wir kommen später noch mal darauf zurück«, sagte Tess und ging rückwärts auf die anderen zu. »Inzwischen könntest du es doch einfach mal lassen, alles durchzuplanen. Bleib ganz locker, wenn Kris in der Nähe ist, und lass die Natur ihren Lauf nehmen.«

Wenn die Natur ihren Lauf nähme, dachte Addie, würden die Niederlande unter Wasser stehen, und die Hälfte der Erdbevölkerung wäre von den Pocken ausgelöscht worden. Aber – wie Tess wiederholt bemerkt hatte – Addie sollte andere nicht ständig korrigieren. Also behielt sie diese Bemerkung für sich.

Und dann zog sie los, um Ed zu suchen, ehe der alles kaputtmachte.