Nun gut, das würde ihren Zeitplan durcheinanderbringen. Da zeigte sich mal wieder, dass auch die beste Planung nicht vor Missgeschicken schützte.
Pech wollte sie das nicht nennen.
Pech war nicht der Grund dafür, dass man vom Baum fiel, während man versuchte eine Nahaufnahme zu machen. Klar, auf den Felsen zu landen, war unglücklich gewesen, und dass ihr der tote Ast aufs Bein gekracht war, auch. Beides absolut kein Grund zum Feiern.
Aber das ging aufs Konto der Schwerkraft und – ja, ja, ihrer allgemeinen physischen Unbeholfenheit. Schließlich hatte man ihr nicht umsonst die Teilnahme am Hockey verboten.
Addie spuckte einen Mundvoll Kiefernnadeln aus und reckte den Hals, um einen Blick über die Schulter zu werfen. Der schwere Ast lag quer über ihrer Wade. Vorsichtig befühlte sie ihr Schienbein und war verärgert, es blutverklebt vorzufinden. Wahrscheinlich wegen der Ratscher vom Baum.
Super. Es wurde immer besser.
Sie musste hier weg und in der Hütte den Erste-Hilfe-Kasten suchen. Allein der Gedanke daran, da hinhumpeln zu müssen, hatte was Entmutigendes. Ein Stock zum Stützen und einer, um den gebrochenen Knochen zu schienen, waren unbedingt notwendig, denn wenn sie den Schmerz richtig deutete, war dies ein Bruch.
Sie nahm all ihren Mut zusammen und versuchte sich unter dem Ast rauszuwinden, doch das brachte ihr nur einen stechenden Schmerz im Oberschenkelknochen ein. Es war, als würde ihr Bein noch einmal brechen.
»Auuu!«, schrie sie, Tränen stiegen ihr in die Augen.
Was sollte sie jetzt machen? Sie saß in der Falle. Der Wind nahm zu, auf den Inseln sollten die Böen über siebzig Meilen pro Stunde erreichen, hatte sie heute Morgen im Wetterbericht gehört – und Kris und Lauren waren weg.
Ihr Handy und die Kamera waren weich im Gestrüpp gelandet und funktionierten vielleicht noch, wenn sie sie vor dem Regen in die Hütte retten konnte. Leider lagen sie gerade außerhalb ihrer Reichweite, nicht mal mit den Fingerspitzen kam sie ran.
Wahrscheinlich war Ed davon ausgegangen, dass sie in bester Verfassung auf Kris wartete, damit sie eine Nacht allein verbringen konnten. Damit hatte er sich zögernd einverstanden erklärt, weil Kris, der sie für Kara fallen gelassen hatte, eigentlich verdient hatte, allein auf der Insel zu stranden, wo er sich in die Hütte kauern und von einem Nest Schwarzer Witwen gefressen werden konnte.
»Du musst das nicht durchziehen. In einem todbringenden Sturm kannst du nicht mit diesem Loser auf der Insel festsitzen«, hatte Ed auf der Rückfahrt von Harvard zu ihr gesagt. Mindy schlief derweil auf dem Rücksitz. »Ich schenke Tess reinen Wein ein und sage ihr, was wir gemacht haben und warum. Und dann sorgt sie dafür, dass du unseren Fall für das Athenian-Projekt verwenden kannst. Für dich würde sie alles tun. Das weißt du.«
Addie war gerührt. Von Anfang an war Ed ihr loyaler Freund gewesen, er hatte die ganze Rettungsaktion beim Paddeln mit Emma und Shreya inszeniert, den mechanischen Hai aufs Wasser geschleppt und von seinem Boot aus gesteuert. Dank eines glücklichen Zufalls hatte Kris schon am Strand auf sie gewartet, es war also gar nicht nötig gewesen, eine Geschichte zu erfinden, um ihn aufs Wasser zu locken.
Auf die Idee, das Klettergeschirr so zu lockern, dass es sich vom Seil löste, während sie die Wand hochkletterten, war Ed allerdings ganz allein gekommen. Und er hatte seinen ganzen Samstagnachmittag damit verbracht, das letzte Experiment auf der Insel vorzubereiten – und das alles, weil er Addie so dankbar war für Tess, die nicht den geringsten Schimmer von den Machenschaften ihres Freundes hatte.
Und deshalb konnte Addie ihre Beziehung auch unmöglich als Fallstudie für den Athenian-Award einreichen.
Gestern Nacht hatte Addie gesagt: »Du weißt ja, welche Haltung Tess’ Mütter zur Privatsphäre haben. Die würden mich verklagen, wenn ich ihre Tochter bei einer nationalen Versammlung von Neurowissenschaftlern auch nur erwähnen würde.«
Seine Lippen zuckten. »Versteh das nicht falsch, aber ich würde das Athenian-Komitee nicht auf eine Ebene mit den Grammy Awards stellen. Abgesehen davon, operierst du doch nicht mit Klarnamen, oder?«
Auf den Gedanken war sie noch gar nicht gekommen, obwohl das vermutlich möglich war. »Außer bei dem Experiment mit Kris und mir. Da bestehe ich auf Offenlegung aller Fakten.«
»Und du wirst nicht disqualifiziert, weil du ein Experiment mit dir selbst machst?«
»Ist Werner Forssmann etwa als Gewinner des Nobelpreises disqualifiziert worden?«
Ed hielt an einer Ampel. »Wer ist Werner Forssmann?«
Oh, wie schnell der Ruhm unserer Helden doch verblasst, dachte sie. »Er hat die Theorie entwickelt, dass man Koronararterien durch die Einführung eines Katheters öffnen kann. Und das hat er gemacht. An sich selbst. Er hat einen Schlauch durch einen Einschnitt in seinem Arm eingeführt und bis zu seinem Herzen geschoben.«
»Autsch!« Ed trat aufs Gaspedal. »Im Vergleich dazu ist es wohl ein Kinderspiel, Kris dazu zu bringen, sich in dich zu verlieben.«
»War«, sagte sie. »Nach dem, was eben passiert ist, würde ich mich lieber selbst verstümmeln, glaub mir.«
Und jetzt lag sie hier mit einem gebrochenen Knochen. Wie lautete noch dieser Spruch: Pass auf, was du dir wünschst, es könnte wahr werden.
Mehr als alles andere wünschte sie sich gerade, Ed würde spüren, dass etwas nicht stimmte, und umkehren – und sie retten. Aber das würde nicht passieren. Der Sturm war schon herangezogen und Ed brachte Lauren und Kris gerade in Sicherheit.
Sie legte den Kopf auf die Kiefernnadeln. Eine Nacht. Sie musste nur eine Nacht überleben und sie wäre in Sicherheit. Sie gähnte, erschöpft von Schlafmangel, Stress und sicherlich auch vom Schock. Ruhe würde ihr guttun, die Zeit würde ihr nicht lang werden, wenn sie schlief – und sie müsste nicht an Kris denken.
Wenn ihr bloß nicht so kalt wäre.
»Addie! Aaaadieee!«
Addie träumte. Sie war Schneewittchen im Wald, und ein Prinz kam, um sie aus einem tiefen, tödlichen Schlaf zu retten. Er suchte und suchte, rief nach ihr … doch vergeblich. Sie hörte seine Schritte. So nah. Aber er konnte sie nicht sehen, weil sie zwischen den Kiefern verborgen war. Sie würde aufstehen und einen Laut von sich geben müssen. Sonst würde der Prinz aufgeben – und sie müsste allein sterben.
»Hallo!«, rief sie schwach. Ihre Lider waren so schwer. Wenn sie doch nur die Augen einen Spaltweit öffnen und durch den Nebel schauen könnte. »Hallooooo.«
Das Geraschel hörte auf.
»Ed?« Auf ihr Bewusstsein konnte sie sich offenbar nicht verlassen. »Hier bin ich, Ed«, murmelte sie.
Es raschelte wieder. Getrampel im Unterholz.
»O Gott, Addie! Bist du okay?«
Nicht Ed. Anderer Prinz.
Jemand klatschte ihr auf die Wangen. »Wach auf, Addie. Komm schon. Mach die Augen auf.«
Na gut, dachte sie, nur dieses eine Mal. Dann schlafe ich weiter. Ein Flackern der Augenlider stellte ihn hoffentlich zufrieden. Mission erfüllt. Und nun weiterschlummern.
»Du lebst. Oh. Gott sei Dank. Wir müssen dich hier wegschaffen. Ein schwerer Sturm zieht auf.«
Erzähl mir was Neues, dachte sie und schlief friedlich wieder ein.
»Bleib bei mir, Addie. Schlaf nicht wieder ein.«
Warum nicht? Schlafen war leicht. Wenn man schlief, musste man nicht denken – und das musste sie sonst ständig.
Denken. Denken. Denken.
»Du denkst zu viel«, hatte ihr Vater mal gesagt. Ja. Genau. Von wegen.
Ein Gewicht wurde von ihrem Bein gehoben. Eine neue Schmerzwelle schwappte in ihr Bewusstsein und machte sie wach. Dann erinnerte sie sich an den Sturz. An den Ast. Den Bruch.
»Auuu!«
Sie schlug die Augen ganz auf und sah Kris vor sich, der ihre Wade untersuchte. Sie war wütend auf ihn, aber auch dankbar. Gefühle waren was Lächerliches. Nie beständig oder logisch. Sie respektierten keinen Plan. Deshalb nannte man sie Gefühle, vermutete sie.
»Was machst du da?«, flüsterte sie. Ihr Mund war so trocken, dass sie kaum sprechen konnte.
Er schraubte eine Wasserflasche auf und führte sie an ihre ausgetrockneten Lippen. Noch nie hatte Wasser so gut geschmeckt. »Was ist passiert?«
»Ich bin abgestürzt und ein Ast ist abgebrochen und auf meinem Bein gelandet.«
»Das hab ich verstanden. Was hast du auf dem Baum gemacht?«
»Später. Ich hab mir das Ding da gebrochen.« Sie zeigte auf ihr Bein.
»Ich bin gleich wieder da«, sagte er und stand auf. »Ich muss eine Schiene finden.«
Der Wind war irre. Blätter und Zweige flogen, Donner grollte. Ganz benommen verfolgte sie, wie er verschwand und mit einem stabilen Stock wiederkam.
»Zu Fall gebracht von einem Baum, gerettet von einem Baum.« Er zog sein T-Shirt aus, eine sonnenbraune, muskulöse Brust kam zum Vorschein.
Addie nahm noch einen Schluck Wasser. Der Schmerz irritierte. Kris’ Körper nicht. »Wirst du nicht frieren?«
»Ich könnte dir dein Hemd ausziehen, wenn du dir Sorgen machst.« Er zwinkerte.
Zwinkern war ein Zeichen von Intimität. Oder Fremdkörpern im Auge. Bei diesem Wind war beides möglich.
»Ist der Bruch kompliziert oder einfach?«, fragte sie.
Er biss in den Kragen seines T-Shirts und riss es in zwei Teile. »Schwer zu sagen. Es guckt kein Knochen raus. Man ist ja schon dankbar für die kleinen Dinge, oder?«
»Ganz kleine.«
»Okay, das hier wird nicht lustig.« Er zögerte. »Also, das ist alles kein Mordsspaß. Ich wälze dich jetzt auf diese Schiene, dann binde ich dein Bein mit meinem T-Shirt daran fest. Ich versuche das schnell zu machen. Es würde helfen, wenn du nicht schreist.«
»Ich schreie nicht.«
Sie schrie doch.
Gute zehn Minuten übertönte ihr Jaulen die Windböen. Es war, als würde jemand mit einem Messer immer wieder auf ihr Schienbein einstechen. Der Schmerz fuhr das Bein hoch in den Schenkel und ihre ganze rechte Seite stand in Flammen.
Kris ging systematisch vor, er richtete das Bein auf der Schiene und umwickelte es fest mit den Stoffstreifen von seinem T-Shirt.
»Wo hast du das gelernt?«, keuchte sie.
»In Nepal. Da haben sie uns die Grundlagen der Ersten Hilfe beigebracht, obwohl das hier wohl jeder Webelo können müsste.«
»Was ist denn ein Webelo?«
»Ein ganz kleiner Pfadfinder.«
Sie kicherte ein bisschen. Das Dopamin. Eine ordentliche Dosis offenbar, sonst wäre sie wohl kaum so durchgeknallt.
»Bist du bereit?« Er schob ihr einen Arm unter den Rücken, den anderen unter die Knie.
»Wo gehen wir hin?«
»Ich trage dich zur Hütte. Dann rufe ich die Küstenwache an, wenn’s geht. Ich habe dein Handy gefunden, aber wir haben hier kein Netz, wir sind zu weit vom Ufer weg.«
Er hockte sich hin und hob sie von seinen Knien, dabei geriet er etwas ins Wanken, weil er einem Ast ausweichen musste, an dem der Wind rüttelte. Der Schmerz im Bein war so brutal, dass Addie ihr Gesicht an seinen Hals drückte, wo ihr sein regelmäßiger Pulsschlag, seine starken Sehnen und der frische Duft seiner Haut ein echter Trost waren.
»Ich probier mal auf dem Weg dahin, dein Bein nirgendwo gegenzurammen«, sagte er. »Halt dich gut fest.«
Sie schlang ihre Arme um ihn und bemühte sich, regelmäßig zu atmen. Wenn sie ohnmächtig werden würde, wäre das wenig hilfreich. Schweigend gingen sie eine Weile voran, Kris wankte den abschüssigen, schmalen Pfad entlang und achtete darauf, sie nicht fallen zu lassen.
»Es tut mir leid«, sagte er.
»Dass ich mich verletzt habe?«
»Nein, also, ja, klar. Aber ich meinte das, was Kara letzte Nacht gesagt hat.«
»Oh.«
»Ich erwarte nicht, dass du mir verzeihst, aber ich will dir erzählen, wie es dazu kam.« Er tauchte unter einem tief hängenden Zweig hindurch. »Kara war total aufgebracht wegen der Art, in der die Tiere im Labor behandelt wurden. Sie hat ständig darüber geklagt und sogar geweint. Und ehrlich gesagt, Addie, mich hat das auch wütend gemacht.«
»Kann ich mir vorstellen.«
Er beschloss, das auf sich beruhen zu lassen, und ging weiter. »Eines Tages saßen wir also da und hörten uns wieder mal eine von Karas Tiraden an. Da habe ich gesagt: ›Wir sollten etwas unternehmen. Wir sollten all die Frösche und Springmäuse da rausholen – und sie freilassen.‹ Nur …«
Er rieb sich die Brauen, so als würde ihm schon die Erinnerung daran Kopfschmerzen bereiten. »Kara und Mack – besonders Mack – haben es dann auf die Spitze getrieben. Mack tauchte mit einem Brecheisen und Sprühdosen auf und ist total abgegangen.«
Addie merkte, dass sie rutschte, und packte ihn fester. »Dr. Brooks hat gesagt, der Schaden ging in die Tausende.«
»Ja, deshalb werde ich diesen Sommer auch nicht bezahlt. Ich arbeite meine Schulden ab, Stunde um Stunde.«
Beim Weiterhoppeln dachte sie darüber nach, auch wenn der Schmerz in ihrem Bein so überwältigend war, dass Denken ihr wie eine olympische Disziplin vorkam.
»Wie kam es, dass du keinen Schulverweis bekommen hast wie die anderen?«
»Das wäre fast passiert. Ich bin auf Mack losgegangen … und hab verhindert, dass er noch mehr Schaden anrichtet. Und ich habe sofort die Karten auf den Tisch gelegt. Am selben Tag noch bin ich zu Foy gegangen und hab die Schuld für alles eingestanden.«
»Aber die Geräte hast du nicht zertrümmert?«
»Nein, aber Mack hätte das auch nicht getan, wenn ich nicht auf die tolle Idee gekommen wäre, ins Labor zu schleichen.« Er setzte das Bein über einen umgestürzten Baum. »Wie man’s auch dreht und wendet, Addie, das war wirklich mein Fehler.«
Die Welt verblasste, und Addie befürchtete, sich übergeben zu müssen. Nur eine letzte Frage musste sie noch stellen. Die lungerte da irgendwo in ihrem Hinterkopf herum, ganz schwer zu fassen, bis Kris stehen blieb und nachsah, wie es ihr ging.
»O Addie«, sagte er, »es tut mir wirklich leid.«
Sie schaute in die dunkelbraunen Augen, die jetzt so vertraut waren, und spürte ein Ziehen. »Kara. Ist sie …? Seid ihr beide …?«
Kris ging weiter. »Versuch sie zu vergessen. Kara wird nie wieder zurück an die Academy kommen.« Er rückte Addie in seinen Armen zurecht. »Und ich werde nie wieder zu ihr zurückgehen.«
Das reicht mir, dachte Addie verträumt, ehe eine neue Schmerzwelle ihr durchs Bein fuhr.
»Wir sind gleich da«, sagte Kris leise, denn er spürte ihre Qual. »Du hast das toll gemacht.«
Sie erreichten das Ende des Pfades. Vor ihnen konnte Addie das aufgewühlte graue Meer ausmachen und die dicken schwarzen Wolken. Sie trieften vor Nässe. Aber ihnen würde nichts passieren.
»Aber hast du die Wände im Labor mit Farbe besprüht?«, fragte sie.
Kris stapfte durch den nassen Sand zur Hütte. »Das hab ich nicht gemacht. Du glaubst mir bestimmt nicht, aber das ist die Wahrheit. Ich hatte die Dose in der Hand, weil ich die Graffiti übersprühen wollte.« Er kickte die Tür auf und legte sie vorsichtig auf dem Boden ab. »Du kannst die Sicherheitsleute fragen. Sie kamen, als ich dabei war.«
Der Boden war hart und roch moderig, aber sie waren im Trockenen.
»In der Ecke liegen Schlafsäcke«, sagte Addie. »Die haben Ed und ich gestern hergebracht, für alle Fälle.«
Er entrollte einen Schlafsack und stopfte ihr den anderen unter den Kopf. »Wie fühlt sich das an?«, fragte er und strich ihr die Haare zurück.
»Tut weh, aber es geht. Haben wir Empfang?«
Er sah auf sein Handy. »Nee. Ich geh mal am Strand lang, vielleicht klappt es da. Kommst du allein zurecht? Ich lass die Tür auf, dann ist es nicht so dunkel.«
Sie zog eine Grimasse. Ihr Bein hatte angefangen zu pochen, das deutete auf eine mögliche innere Blutung und Schwellung hin. »Ist gut.«
Er steckte ein Stück Treibholz zwischen die Türangeln und stapfte davon. Ein Windstoß, die Tür knallte zu, und sie lag allein im Dunkeln und lauschte dem tosenden Sturm und den Wellen.
Sie musste auch eine Gehirnerschütterung haben, denn ihr Kopf tat weh, und sie war müde. Sooo müde.
Minuten oder vielleicht Stunden später ging die Tür auf, Kris kam rein, klatschte in die Hände. »Wach auf, Addie. Ed hat die Küstenwache gerufen. Sie sind mit Foy auf dem Weg hierher. Ich hab ihm von deinem Bein erzählt – und dass du dir den Kopf gestoßen hast. Wir bringen dich ins Krankenhaus, okay?«
»Okay.«
Er kniete sich neben sie. »Hör mal, ich weiß nicht, wann ich dich wiedersehe.«
»Auf dem Boot. Und du kommst doch ins Krankenhaus, oder?«
»Allein, meine ich.« Er holte tief Luft. »Ich bin rausgeflogen, Addie. Ich bin fertig. Ich habe den Schulverweis heute Morgen unterschrieben.«
Sie hatte einen Kloß im Hals. Nicht mal in ihrem Gefühlschaos aus Selbstmitleid, gebrochenem Herzen und Wut wegen der letzten Nacht wollte sie, dass er wegging. »Was hast du denn dieses Mal gemacht?«
Er lächelte schief. »Das mit Dexters Krebsen. Hab sie freigelassen.«
»Schon wieder?«
»Und dann habe ich die Verkabelung manipuliert, sodass er einen Schlag kriegt, wenn er die Hand ins Wasser steckt.«
Sie schnappte nach Luft. Das war wirklich schrecklich.
»Keine Sorge«, beeilte er sich hinzuzufügen, »ich habe einen Fehlerstromschutzschalter installiert, damit er nicht gegrillt wird, und genug Widerstände eingebaut, sodass es nur ein kleiner Schock war.«
»Der Schulverweis ist berechtigt.«
»Ja. Ich weiß. Aber Dexter hat versucht, dich zu bescheißen. Und diese Krebse. Wie würde es dir gefallen, einer von denen zu sein? Wie er die geschockt hat – das war krank.«
Das Bild von Dexter, der mit dem Fuß aufstampfte, als ihm dämmerte, dass seine gefolterten Krebse gestohlen worden waren, löste bei ihr eine ganz seltsame Reaktion aus. Es war wie ein Schluckauf, nur beschränkte sich der Krampf nicht auf das Zwerchfell, ihr ganzer Körper wurde davon erfasst.
»Du hast seine Krebse befreit!«, platzte es aus ihr heraus. »Wo hast du sie hingebracht?«
»An den Strand unten am Anleger. Sie sind gleich abgeflitzt, ohne Schock. Die konnten es gar nicht erwarten, da wegzukommen.«
»Glaube ich sofort.« Mittlerweile war sie total hysterisch. Das Lachen ergriff in unkontrollierbaren Wellen Besitz von ihrem ganzen Körper.
»Du lachst!«, rief Kris.
»Ich weiß!« Sie schnappte nach Luft. »Ich bin kein Gelotologist …«
»Hä?«
»Gelotologie ist die Wissenschaft der Auswirkungen des Lachens.« Sie atmete. »Aber dieser Sturz muss meinen linken Gyrus frontalis superior destabilisiert haben, denn jetzt kann ich nicht wieder aufhören. Und ich muss dir auch was gestehen, bevor Mr Foy mich rettet.«
»Moment. Hat das was mit der Gehirnerschütterung zu tun?«
»Nee.« Ihre Brust hob und senkte sich heftig, als sie um Fassung rang. »Fürs Zertrümmern des Labors hab ich mich bei dir revanchiert. Und zwar so richtig, wir sind also quitt. Handschlag?«
Er nahm ihre Hand, schüttelte sie aber nicht. »Hm. Eindeutig eine Hirnverletzung. Du glaubst nicht an Rache, weißt du noch? Hast du mir mal erzählt.«
»Das wirst du schon sehen in meiner Präsentation für den Athenian-Award. Ich werde einen Platz in der ersten Reihe für dich reservieren.« Dann zog sie ihn an sich und küsste ihn lange, denn dieses Mal bestimmte sie, wo es langging.
So, wie sie es schon die ganze Zeit getan hatte.