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»Ich kenne dich!«, rief sie aus. »Du gehst auch auf die Academy.«

Er zuckte zusammen und wich zurück. »Academy 355?«

Sie nickte und versuchte ihn einzuordnen, was immer ziemlich schwierig war. Leute, die nicht in ihren naturwissenschaftlichen Leistungskursen waren, die nicht ihre gesamte Freizeit in der Bibliothek oder im Labor verbrachten oder in ihrem Mädchenwohnheim wohnten, waren für sie sogar Fremde, obwohl ihre Schule so überschaubar war.

»Die Köpfe nach unten, bitte.« Eine Flugbegleiterin übte leichten Druck auf Addies Hinterkopf aus. Sie und 11 D folgten der Anweisung.

»Das hilft tatsächlich gegen das Schwindelgefühl«, sagte er und atmete tief ein. »Vielleicht nicht so gut wie ein Kuss, aber …«

»Das wäre meine zweite Option gewesen, obwohl es mit einer Tüte effektiver ist.« Sie lugte rüber zu 11 A, deren Lippen sich schnell in stummem Gebet bewegten. »Also, wie kommt es, dass wir uns bisher noch nicht begegnet sind?«

»Ich bin noch ziemlich neu«, sagte er und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Früher war ich auf der Andover, aber ich hab im Januar gewechselt, als ich aus Nepal zurück war.«

In den Gepäckfächern über ihnen knallte etwas. »Was hast du da gemacht?«

»Als Freiwilliger für Projects Abroad beim Wiederaufbau nach dem Erdbeben geholfen. Das faszinierendste Erlebnis meines Lebens. Du kannst dir die Verwüstungen in Kathmandu gar nicht vorstellen. Kein fließendes Wasser. Manche Leute laufen rum wie Gespenster, weil sie ihre ganze Familie verloren haben, andere laden dich ein in das, was noch von ihren Häusern übrig geblieben ist, und sind einfach nur dankbar, noch am Leben zu sein. Es war total surreal. Und danach, auf dem Rückweg, war ich noch in China und hab mir die Große Mauer angesehen. Das hat mich einfach umgehauen. Im Vergleich dazu kam mir alles bedeutungslos vor, was ich bisher gesehen hatte.«

»Und daher hast du die Schlüsselkette mit dem Skorpion.«

Er nickte. »Und eine ganz andere Sicht auf die Welt. Einfach so.«

»Einfach so«, wiederholte sie.

»Und deshalb konnte ich nicht wieder zurück in die alte Schule. Ich hab es da keinen Monat ausgehalten. Die Typen, die meine besten Freunde gewesen waren, kamen mir plötzlich vor wie Drecksäcke. Die sagten Sachen wie: ›Ey, Alter, ich wünschte, mir wäre das eingefallen, die Bewerbung fürs College mit ein bisschen humanitärem Scheiß aufzupolstern. Yale ist ganz heiß auf so ’n Zeug.‹«

Addie schüttelte sich. »Ist das zynisch.« Er sollte weiterreden. Ablenkung war ein ausgezeichnetes Mittel gegen angstbedingtes Hyperventilieren.

»Ja, nicht? Weißt du, meine Familie in Nepal war für mich am Ende wie meine eigene Familie. Die waren nicht einfach nur ein Punkt zum Abhaken auf meiner Bewerbung. Also bin ich im Oktober in Andover ausgestiegen und hab nach den Ferien die Schule gewechselt. Ich hinke also ein Semester hinterher.«

Das erklärt, warum er nicht in meinen Kursen war, dachte sie, dann fiel ihr auf, dass sein Daumen aufgehört hatte zu zucken, obwohl die Turbulenzen nun so stark waren, als sie durch die Wolken pflügten, dass die Sitze quietschten.

»Kognitive Veränderungen«, sagte sie.

»Wie bitte?«

Das Flugzeug taumelte. Sie schloss kurz die Augen und versuchte durch Willenskraft zu verhindern, dass sich ihr der Magen umdrehte. »Unbekannte Umgebungen stimulieren das Entstehen neuer Nervenbahnen, was wiederum zu einer Erweiterung der Denkfähigkeit führt. Ebenso wie das Beherrschen von Liszts bekanntlich äußerst komplexer Zweiter Ungarischer Rhapsodie den Pianisten in die Lage versetzen könnte, fortan auch andere Stücke besser zu spielen.«

Er rieb sich den Nacken. »Erweiterung der kognitiven Fähigkeiten? Wenn ich wüsste, was das bedeutet, würde ich dir vielleicht recht geben.«

Vielleicht? Sie hatte immer recht, doch was sollte die Haarspalterei. »Meine Theorie ist, dass der Verbleib auf der alten Schule deine existenzielle Krise nicht lösen konnte. Nachdem du menschliches Leid mit eigenen Augen gesehen hattest und die majestätische Größe der Chinesischen Mauer, war es mit Sicherheit nahezu unmöglich für dich, wieder im üblichen Spiel mitzumischen. Nur nach dem perfekten Notendurchschnitt und einer hohen Punktzahl im College-Eignungstest zu streben wurde unwichtig.«

»Genau! Wo warst du, als ich versucht habe, das meinen Eltern zu erklären, als ich in Andover ausgestiegen bin?«

Addie checkte ihren mentalen Kalender. »Wenn es während der Weihnachtsferien war, dann wahrscheinlich zu Hause in einem Vorort von Philly, wo meine Eltern wohnen.«

Er schmunzelte. »Der war gut.«

Sie kapierte nicht, was daran so witzig sein sollte. Sie war zu Hause gewesen, eine Skireise oder ein Winterurlaub in der Karibik überstiegen das bescheidene Budget der Emersons. Bei ihr war es nicht so wie bei Tess, die jedes Weihnachtsfest in Wales verbrachte und in den Sommerferien immer coole Sachen machte: surfen an der Küste Australiens, in der Sonne braten am Strand in Thailand, auf Elefanten reiten in Zimbabwe, wo ihre Mütter eine Schule für Mädchen unterstützten. Letzten Sommer war sie in Norwegen Ski gelaufen. Im Juni. Mitternachts. In der Sonne.

Indessen war Addie zu Hause in Perkiomen, Pennsylvania gewesen und hatte die Zwillinge gehütet. Umsonst.

»Natürlich bezahle ich dich nicht dafür, wenn du auf deine Schwestern aufpasst, hatte ihr Vater indigniert gesagt, als sie höflich um Kompensation dafür gebeten hatte, dass sie ihre freie Zeit opferte, um zwei fordernde kleine Mädchen mit endlosen Prinzessinnen-Spielen zu unterhalten. »Ich bin erstaunt über deinen Egoismus, Adelaide. Als Familie leisten wir hier alle unseren Beitrag, und obwohl du ein Internat besuchst, erwarten wir von dir, dass du dich wie ein Teamplayer verhältst, wenn du zu Hause bist.«

Stattdessen mit ihrer Mutter zu verhandeln war leider keine Option, denn normalerweise war die unterwegs und erforschte giftige Arachniden an entlegenen Orten, an denen Mobiltelefone keinen Empfang hatten.

Das Fazit daraus, dass ihr Vater sich voll auf seine zweite Familie konzentrierte und ihre Mutter ihre gesamte Energie auf die Karakurt-Spinne verwendete, war, dass Addies Interessen auf der Strecke blieben. Sie lernte also, selber auf sich zu achten, und hatte sogar einen Weg gefunden, ihre zukünftige Ausbildung an der Uni zu finanzieren – aus diesem Grund saß sie überhaupt in diesem Flugzeug.

In zwei Wochen war der Termin für die endgültigen Einreichungen für den »Athenian Award«, die höchste Ehre, die Highschoolabsolventen zuteilwerden konnte, die eine Karriere in Neurowissenschaften anstrebten. Sie und ihr Laborpartner Dex wollten ihr B.A.D.A.S.S.-System vorstellen (Brain Adrenalin, Dopamin und Aminosäuresynthese-System).

Die Gewinner erhielten für vier Jahre ein Vollstipendium am College ihrer Wahl. Für Dex war das ohne jede Bedeutung, seine Eltern warfen jedes Jahr mit 500 000-Dollar-Schecks um sich wie andere Leute mit Bonbons zum Karneval. Aber für Addie, die von der Gnade der Wohltäter des Internats abhängig war, um ihr Schulgeld zu decken, zählte jeder Cent. Dex hatte schon versprochen, ihr seine Hälfte des Preisgeldes zu spenden, wenn sie gewannen.

Aber das war ein großes Wenn.

Sogar ihre Projekttutorin Dr. Brooks zweifelte daran, dass das Athenian-Komitee für die kontroverse Theorie stimmen würde, die besagte, dass Addie und Dex mit ein paar simplen Tricks jeden dazu bringen konnten, sich in egal wen zu verlieben.

»Ich fürchte, so etwas wie ein besserer Liebestrank ist zu albern, um den Athenian zu gewinnen«, hatte Dr. Brooks ihnen im letzten Semester erklärt, als sie um die Unterstützung ihres Fachbereichs gebeten hatten, eine der wesentlichen Voraussetzungen für sämtliche Highschool-Kandidaten, die an dem Wettbewerb teilnehmen wollten. »Aber ich werde unvoreingenommen bleiben und eure Präsentation im Sommer abwarten. Bis dahin solltet ihr die Versuche abgeschlossen und eure These ausformuliert haben. Und dann entscheiden der Rektor und ich, ob dieses Projekt unterstützt wird.«

Die Vorstellung des Projekts war für heute Nachmittag angesetzt, und die Wahrheit war, dass sie noch weit davon entfernt waren, fertig zu sein. Sie hatten immer noch eine weitere Versuchsreihe durchzuführen, den alles entscheidenden Test, der zeigen würde, ob sich die Resultate früherer Experimente wiederholen ließen. Es war wahnsinnig nervenaufreibend.

Dex war den ganzen Sommer an der Akademie geblieben und hatte an dem Projekt gefeilt, aber Addie hatte erst jetzt zurückkehren dürfen – und das auch nur, weil ihr Vater und seine neue Frau Jillian mit den Zwillingen in der letzten Ferienhälfte eine Europareise unternahmen. Und es war natürlich gar nicht erst in Erwägung gezogen worden, Addie mitzunehmen – nicht mal als kostenloses Kindermädchen.

»Wenigstens nehmen deine Eltern Anteil an deinem Leben«, sagte sie zu 11 D. »Wenn ich mich nicht um meine Zwillingsschwestern kümmern würde, bekäme mein Vater es wahrscheinlich nicht mal mit, wenn ich vom Angesicht der Erde hinweggefegt würde. Wenn so was denn möglich wäre, also, wenn man bedenkt, dass die Erde gar kein Gesicht hat … und dann natürlich wegen der Schwerkraft.«

Er lachte wieder. »Du bist ziemlich witzig, weißt du das?« Er nutzte seine geduckte Haltung, um sich die Schnürsenkel neu zu binden. »Ich wünschte, ich wäre dir im letzten Semester schon begegnet, statt …«

Sie wartete.

Er sagte nichts, sondern band sich die Schnürsenkel vom anderen Schuh.

»Statt was?«, fragte sie.

Er richtete sich auf und schaute sich um. »Statt …« Er zögerte. »Ich kannte niemanden und hatte gerade die Schule gewechselt …«

»Du solltest wieder die Crash-Position einnehmen«, sagte Addie. Der Rauch wurde dichter. »Wir setzen gleich auf.«

Er senkte den Kopf, die dunklen Locken fielen ihm übers Gesicht, und sie konnte sein Mienenspiel nicht sehen. Eigentlich auch nicht so wichtig. Addie war die Erste, die zugeben würde, dass sie grottenschlecht darin war, die Körpersprache anderer Menschen zu deuten.

»Wie auch immer«, sagte er, »am Ende hab ich dann Sachen gemacht, die ich nicht hätte tun sollen, deshalb bin ich für die Sommerkurse verpflichtet worden. Als Buße für die Sünden der Vergangenheit.«

Sünde war so ein komisches Wort. Die Academy 355 war rein weltlich, nicht katholisch wie Gonzaga oder episkopalisch wie St.Paul’s. Diese Sachen, die er nicht hätte tun sollen mussten echt schlimm gewesen sein. »Hast du jemanden umgebracht?«

Er drehte sich zu ihr um und runzelte die Stirn. »Nein.«

»Einen Gegenstand im Wert von über dreitausend Dollar gestohlen, wie etwa ein brandneues Auto?«

»Schwerer Kraftfahrzeugdiebstahl? Aber klar. Was denkst du denn?«

»Ein Tier gequält?«

»Ich? Ich wäre der Letzte, der einem Tier was antun würde. Deshalb hab ich den Schlüsselanhänger ja auch verschenkt.«

Er riss die braunen Augen weit auf. Addie bemerkte, dass seine Wimpern abartig lang waren – und einen kleinen Schwung nach oben hatten.

»Dann«, sagte sie, »verstehe ich nicht recht, was es wiedergutzumachen gibt.«

»Wollen wir es mal so formulieren: Egal, was ich getan habe, wenn ich die Strafe nicht antrete, ist auf einer gewissen Militärschule in Colorado ein Platz für mich reserviert.« Er stieß die Luft aus. »Eine reine Jungsschule. Kriegt man da nicht Schiss?«

»Kommt ganz drauf an, wem das droht. Meine beste Freundin Tess wäre begeistert.«

Aus irgendeinem Grund musste er auch darüber lachen. Obwohl es die Wahrheit war. Trotz oder vielleicht wegen ihrer veganen liberalen Schauspielereltern fühlte Tess sich zu Männern hingezogen, die zu extremem Patriotismus, einer Liebe zum Militär und Igelschnittfrisuren neigten. Wie zum Beispiel ihr Freund Ed, der dem Trainingskorps der Reserveoffiziere angehörte.

»Und was ist mit dir?«, sagte 11 D. »Je eine existenzielle Krise gehabt?«

»An sich nicht«, erwidert Addie langsam. Sie spielte mit den Riemen ihrer Sandale. »Mir ist nämlich klar geworden, dass Existenz überbewertet wird. Genau wie Realität ist das nichts weiter als das Resultat von Stimuli, die unser Gehirn zu verarbeiten imstande ist.«

»Mit anderen Worten, du denkst, Existenz ist nichts anderes als das, was du wahrnimmst?« Er musste brüllen, um das laute Ächzen zu übertönen, mit dem die Bremsklappen ausgefahren wurden.

Ohne sich in lange, detaillierte Erklärungen zu versteigen – inklusive Schaubildern, die verdeutlichten, dass Sehen, Riechen, Hören, Geschmack und Fühlen keine objektiven Größen, sondern vom Gehirn abhängig waren –, ließ sich diese Frage nicht beantworten. Aber Tess hatte sie oft genug vorm Klugscheißen gewarnt, deshalb sagte Addie nur: »Ja.«

Auf einen ohrenbetäubenden dumpfen Knall und einen Ruck folgte schrilles Kreischen. Unwillkürlich umklammerte sie ihre Beine und machte sich auf den allerletzten Aufprall gefasst. Sekunden vergingen, in denen Passagiere und Besatzung des Flugzeugs kollektiv den Atem anhielten …

»Hey!« 11 D richtete sich auf und zeigte an 11 A vorbei aus dem Fenster auf die vorbeiziehende Landschaft, andere Flugzeuge, die Lichter der Landebahn, das Blaulicht wartender Feuerwehrwagen.

Es war vorbei. Donnernder Applaus brach in der Kabine los. Addie setzte sich auf und klatschte mit.

»Wir haben es geschafft!«, rief 11 D und grinste von einem Ohr zum anderen.

Und dann tat er es.

Er war so schnell, dass sie keine Zeit zur Verarbeitung seiner Bewegungen hatte, um angemessen zu reagieren. Eine ausgestreckte Hand glitt hinter ihr Ohr, warme Finger waren an ihrem Kiefer und am Haaransatz zu spüren. Dann zögerte er für die Hälfte einer halben Sekunde und seine Lippen näherten sich ihren.

Sie stieß ein gedämpftes »Oh!« aus. Aber er zuckte nicht erschreckt über seine eigene Impulsivität zurück. Er ließ seine Lippen verweilen, sanft und sicher – als ob er eine Nachricht hinterlassen wollte.

Addie konnte an einer Hand aufzählen, wie oft im Leben sie von einem Jungen geküsst worden war. Da gab es den zu Forschungszwecken notwendigen Lippenkontakttest mit Michael Utard im Kindergarten. (Sie erinnerte sich, dass er ekelhaft nach Erdnussbutter und saurer Milch geschmeckt hatte.) In der siebten Klasse hatte Nick Elias beim Schulball versucht ein kleines Küsschen zu ergattern – und sie hatte sich prompt dafür gerächt, indem sie ihm die Zehen zerquetscht hatte. Park, der Sohn von einem der Freunde ihrer Mutter, hatte ein paarmal an der Küste von Jersey mit ihr rumgemacht, und dann war da dieser Augenblick der Schwäche mit Dex gewesen. Ein Vorfall, über den sie nie redeten.

Niemals.

Aber das hier war eine völlig andere Erfahrung.

Michael, Nick, Park und Dex waren ihre Freunde oder Klassenkameraden gewesen. 11 D hingegen war ein Fremder, den sie nur unter seiner JetBlue-Platznummer kannte.

Sie trennten sich voneinander. 11 D hielt die Hand hoch. »Du hattest recht. Das hat geholfen. Mein Daumen zuckt nicht mehr.«

»Ich weiß nicht mal, wie du heißt«, flüsterte sie immer noch unter Schock.

»Kris.« Ein Mundwinkel ging nach oben. »Und du?«

»Adelaide Emerson. Addie.«

Seine Unterlippe sackte runter. »Du bist Addie Emerson?«

Er tat so, als hätte sie sich gerade als Kate Middleton vorgestellt.

Oder Godzilla.

»Ja, Addie Emerson«, sagte sie. »Ist das gut oder schlecht?«

Er sank auf seinem Sitz zusammen. »Ich habe keinen Schimmer.«