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B.A.D.A.S.S.-Versuch, Teil 2

Tag eins

Addies Notizen

Teilnehmer #1

Lauren Lowes

Alter: 17

Geschwister: 0

Ursprungsort: Dallas, Texas

Schuljahr an der Academy: 4 (abgeschlossen)

Interessen: Hockey, Geige. Potenzieller Studiengang: Grafik Design

Teilnehmer #2

Kris Condos

Alter: 17

Schuljahr an der Academy: 4 (abgeschlossen)

Interessen: Langstreckenlauf. Nepal. China. Potenzieller Studiengang: unentschieden

NOTIZEN:

Teilnehmer haben Verzichtserklärung unterschrieben. Erste Begegnung von Lauren und Kris: 12 Uhr mittags. Beide bestätigen: keine vorherige Beziehung.

A. Laurens Eindrücke von Kris waren folgende:

Dreist

Süß

Mysteriös

Seltsam

Ärger

(Bemerkung: Laurens Eindrücke von Kris entsprechen den Erwartungen. Hervorragende Ausgangswerte.)

B. Kris’ Eindrücke von Lauren waren folgende:

Hübsch

Athletisch

Stab

Biegsam

Nett

(Bemerkung: Kris’ Eindrücke von Lauren stimmen nicht mit ihrer Erscheinung überein. Hat er vielleicht die Aufgabe nicht verstanden?)

Teilnehmer hielten vorgegebene Zeit Augenkontakt. Konsumierten dann Erdnussbutter-Bananen-Sandwiches und gingen. Keiner der beiden korrigierte seine/ihre ersten Eindrücke.

(Bemerkung: Obwohl die Teilnehmer erst an einer Sitzung teilgenommen haben, konnte keine Veränderung der Anziehung durch den längeren Augenkontakt festgestellt werden, weder durch Beobachtung noch schriftlich formulierte Reaktionen.)

B.A.D.A.S.S.-Versuch, Teil 2

Tag eins

Dexters Notizen

Teilnehmer #1

Lauren Lowes

Alter: 17

Geschwister: 0

Ursprungsort: Dallas, Texas

Schuljahr an der Academy: 4 (abgeschlossen)

Interessen: Hockey, Geige. Potenzielles Studienfach: Grafik Design

Teilnehmer #2

Alex Tavares

Alter: 17

Geschwister: 1 Bruder

Ursprungsort: Sacramento, Kalifornien

Schuljahr an der Academy: nicht zutreffend. Sommerkurs Schülerberater.

Interessen: Lacrosse. Potenzielles Studienfach: Lacrosse

NOTIZEN:

Teilnehmer haben Verzichtserklärung unterschrieben. Begegnung Lauren/Alex um 20 Uhr. Beide bestätigen keine vorherige Bekanntschaft, da Alex in Kalifornien zur Schule geht. Laurens Körpersprache: zurückhaltend – Arme verschränkt, Beine gekreuzt. Alex: selbstbewusst – zurückgelehnt, Knie auseinander.

A. Laurens Eindrücke von Alex waren wie folgt:

Kumpel

Sportskanone

Lacrosse-Fan

Freundlich

Na ja

B. Alex’ Eindrücke von Lauren waren wie folgt:

Sie

Ist

So

Verdammt

Heiß

(Bemerkung: Offensichtlich hat Teilnehmer #2 nicht verstanden, dass Eindrücke nicht in vollständigen Sätzen festgehalten werden sollen. Irrtum? Beachten: Nächstes Mal detaillierte Instruktionen schriftlich festhalten, damit es vonseiten der Teilnehmer keine Missverständnisse geben kann.)

Teilnehmer hielten Augenkontakt während des vorgegebenen Zeitraums. Dann konsumierten sie Kokosnusswasser und Studentenfutter. Es folgte Small Talk. Es gab mehrere Ansätze von Humor seitens Teilnehmer #2. Danach: Teilnehmer #1 änderte ihren letzten Eindruck »na ja« in »witzig«, während Teilnehmer #2 seine Notizen unverändert ließ, jedoch nach dem Wort heiß ein Ausrufungszeichen setzte. (Bemerkung: Die Upgrades auf den Listen der Teilnehmer unterstützen die These, dass intensiver Augenkontakt allein schon ausreichen kann, um die Produktion von PEA zu stimulieren. Ist Kokosnusswasser ein Faktor? Nächstes Mal H²O anbieten. Mehr Recherche erforderlich.)

»Hmmm.« Addie nagte an ihrer Unterlippe, als sie die Ergebnisse von Dex’ Versuch mit Lauren und Alex auf sich wirken ließ.

»Das war nicht das Resultat, das ich vorhergesagt habe.«

Dex zog die Bürste aus dem Krabbenbecken. »Erzähl mir was Neues.«

»Also, ich hatte vorhergesagt, dass keiner der beiden besonderes Interesse zeigt, wenn nur …«

»Nein, das ist nur eine Redensart, Addie, und bedeutet, dass ich auch schon zu diesem Schluss gekommen bin. Dito, genau. Oder in deinem Jargon: klaro.« Er seufzte vor Ungeduld. »Um es ganz offen zu sagen, mir kommen Zweifel an diesem Experiment. Es gibt zu viele Variablen und nicht genug Kontrollmöglichkeiten.«

»Zum Beispiel, dass Alex nicht kontrollieren kann, dass er sich sofort von Lauren angezogen fühlt?«

Dex’ Wangen wurden rot, als er die Bürste wieder im Becken versenkte und wie wild zu schrubben begann. »Das bestätigt nur meine Bedenken. Wenn Alex und Lauren … äh …«

»Eine Verbindung eingehen?«

»Nicht, dass ein Mädchen ihres Kalibers irgendwas mit einem Sportidioten wie ihm zu tun haben wollte …«

»Dieser Sportidiot ist visuell sehr ansprechend.« Addie hielt angestrengt Ausschau nach Krebsen. Normalerweise hielten sie sich im braunen Kies und in zwei Höhlen versteckt, die Dex für sie gebaut hatte, und sie hatte nicht registriert, dass er sie in ein anderes Becken umgesetzt hatte.

»Manchmal kriegst du einfach nichts mit.« Dex warf die Bürste in einen Ausguss und spülte sich die Hände ab.

»Dass die Krebse nicht hier sind?«

»Zum Beispiel.« Er schnappte sich ein Papierhandtuch und trocknete jeden Finger einzeln ab. »Ich mache sehr gute Fortschritte mit den Krebsen und habe mehr als genug Datenmaterial für eine Einreichung zum Preis gesammelt.«

Addie richtete sich kerzengerade auf und sah ihm direkt in die Augen, sie sah jetzt klarer. »Damit willst du sagen, wir sollten B.A.D.A.S.S. vorzeitig abbrechen – aufgrund von unerwünschten Ergebnissen?«

»Die Reaktion der Krebse ist wenigstens quantifizierbar.«

»Aber die Krebse sind dein Projekt. Nicht meines. Ich hab nicht mal mitgeholfen.«

Er warf das Papierhandtuch in den Mülleimer. »Du hattest die Gelegenheit teilzunehmen, als ich letzten Herbst mit der Arbeit angefangen habe. Was kann ich dafür, dass du so ausgehungert bist nach Liebe und …«

Sie hielt ihm den Mund zu. »Sag es nicht.«

»Bitte.« Er pellte ihre Finger vom Mund. »Lege nie deine Hand auf meinen Mund. Das ist äußerst unhygienisch. Du weißt genauso gut wie ich, dass es circa einhundertfünfzig einzigartige Keime auf der menschlichen Handfläche gibt.«

Addie wischte sich die Hand an einem Papierhandtuch ab. »Ich will das nur klarstellen. Ich bin weder jetzt noch jemals vorher nach Liebe ausgehungert gewesen. Ich bin realistisch veranlagt. Du kennst meine Philosophie: keinerlei romantische Verstrickungen, bis meine Doktorarbeit fertig ist.«

»Das sagst du, aber ich hab gesehen, wie du Kris anguckst … mit Hundebabyblick.«

Sie unterdrückte eine Aufwallung von Irritation. »Niemals! Ich empfinde nichts für ihn, bin aber entschlossen, ihn mit professioneller Höflichkeit zu behandeln, was – zugegeben – eine ziemliche Herausforderung ist.«

»Weil du ihn süß findest?«

Eine Hitzewelle schoss ihr am Hals hoch. »Weil es eine Herausforderung ist, ihn wegen der Zerstörung des Labors nicht zu verabscheuen.«

»Darüber scheinst du hinweggehen zu können, ich hab doch gesehen, wie ihr beide gestern Abend geplaudert habt.«

»Du meinst, bevor ich ihm den Ball an den Kopf geknallt habe?« Addie atmete aus. Das war nichts gewesen, worauf man stolz sein sollte. Sie schämte sich dafür, dass sie ihre Gefühle so außer Kontrolle hatte geraten lassen.

Apropos, die musste sie jetzt schleunigst in den Griff kriegen, ehe sie noch etwas tat, das sie bedauern würde. »Hör mal, du bist aufgebracht, weil du Lauren magst und sie Alex und nicht dich.«

»Raus!« Er tauchte seine Hand ins Becken und stellte die Höhlen um. »Im Gegensatz zu dir werde ich nicht von Emotionen gesteuert!«

»Nur weil du keine hast, du, du … Cyborg!«

Vielleicht hatte sie das Falsche gesagt, denn sein Gesicht verzog sich augenblicklich. Obgleich daran auch der Krebs hätte schuld sein können, der ihm in den kleinen Finger biss. Schwer zu sagen.

»Auuu!« Ein kleiner brauner Krebs baumelte von seiner Hand. Dex schüttelte ihn zurück ins Wasser.

Addie riss weitere Papierhandtücher ab und betupfte Dexters Wunde. »Tief atmen, um den Schmerz zu kompensieren. Tut es sehr weh?«

Er begutachtete den wunden roten Punkt. »Nicht zu sehr.«

»Gut. Drück weiter auf den Biss. Dann wird der Schmerz nicht weitergeleitet.«

»Danke. Siehst du, wie tapfer ich bin?«

Mütterliche Gefühle wallten in ihr auf. Dex konnte ganz süß sein, wenn er wehrlos war. »Tut mir leid, dass ich so wütend auf dich geworden bin. Ich glaub, tief drinnen bin ich wütend auf mich selbst, weil ich mich von Kris so hab nerven lassen. Ich hätte ihm diesen Ball nie an den Kopf schmettern sollen. Nicht zu fassen, wie viel Schaden ich angerichtet habe.« An dieser perfekten Nase – aber das sagte sie nicht laut.

Dex machte »Hmpf«. Dann fügte er zögernd ein knickeriges »Mir tut es auch leid« hinzu. Das man auch als Bedauern darüber deuten konnte, dass sie ihre Gefühle nicht besser unter Kontrolle hatte.

»Ich habe einen Vorschlag«, sagte Addie und umwickelte seinen kleinen Finger fest mit einem Papierhandtuch. »Wir halten uns einfach an den Plan. Wir haben Dr. Brooks gesagt, wir würden noch mal von vorn anfangen, wenn Lauren beim Tanzen nicht Kris auswählt. Lass uns doch einfach schauen, was Samstag passiert. Wenn es nicht funktioniert, können wir deine Krebse zu Plan B machen.«

Dex strich über seinen verletzten Finger. »Ich geh nicht zu dem Tanzabend. Du weißt, ich habe eine Aversion gegen erzwungenes Sozialisieren.«

»Alle müssen kommen. Befehl vom Rektor.«

»Ja, aber …« Ein Schweißfilm glänzte auf seiner Stirn. »Es besteht die Möglichkeit, dass ich dazu verpflichtet werde … du weißt schon … das hier …« Er schüttelte ein Bein, drehte sich und verfehlte den Tisch nur knapp. »Zu machen.«

Sie schaute sich seine spastischen Zuckungen an. »Hatte deine Mutter dich nicht in eine professionelle Tanzschule geschickt?«

»Als ich zwölf war, damit ich zum Prädiluvianischen Debütantenball eingeladen werde. Und die haben mir da nur den Box und den Hokey-Pokey beigebracht.«

Oje. Sie war sich ziemlich sicher, dass der Hokey-Pokey nicht Tess’ Segen bekommen würde – und Tess allein fällte die Entscheidungen darüber, was gesellschaftlich annehmbar war und was nicht. »Dann tanz nicht. Du kannst deinen Laptop mitbringen und dir Notizen machen.«

»Stimmt.«

»Wie auch immer«, sagte sie. »Es ist elf Uhr fünfzig. Lauren und Kris können jeden Moment kommen. Wir müssen aufbauen.«

Der Aufbau umfasste den Mittagsimbiss, der nach Dr. Brooks’ besonderer Anweisung von der Schulcafeteria zubereitet worden war. Natürlich hatte das Küchenpersonal anfangs Einwände gegen das Menü gehabt – bis Rektor Foy eingeschritten war und den Zweck des ungewöhnlichen Mahls erklärt hatte. Dann hatte sich, Dr. Brooks zufolge, sogar der Chefkoch selbst reingehängt. (Allerdings hatte Dr. Brooks Addie versichern müssen, dass der Koch nicht buchstäblich im Essen gehangen hatte.)

Lauren und Kris trafen zusammen ein, das Klatschen von Laurens Flipflops auf dem Boden hallte den Flur entlang, als die beiden sich näherten. Kris’ sorgloses Lachen war zu hören, die Muskeln in Addies Brust krampften sich zusammen, und sie stellte sich erwartungsvoll auf die Zehenspitzen.

»Eure Versuchskaninchen sind da«, verkündete Kris. Die blauen Flecke in seinem Gesicht waren verblasst und hatten sich bräunlich verfärbt, was für ein markantes Erscheinungsbild sorgte, besonders nach einem Morgen Gartenarbeit.

Genau zwischen den Pectoralismuskeln zog sich ein dunkles V aus Schweiß über die Brust des dunkelgrünen T-Shirts vom Garten- und Geländeservice der Academy. Interessant, wie straff es über den Schultern saß, die breit und kräftig waren, ganz anders als Dexters, die weich und rund waren. Allerdings pflegte Dexter in Babyrosa, mit aufgestelltem Kragen, einen völlig anderen Stil – und verbrachte seine Zeit beim Spielen mit Krustentieren in einem unterirdischen klimatisierten Labor.

Es war nicht richtig, da Vergleiche anzustellen.

Und es war schwierig, nicht neugierig zu sein. Addie überlegte – rein theoretisch –, wie es sich wohl anfühlen mochte, wenn sich diese starken Arme um sie legten. Wenn sie an diese Brust gezogen wurde. Wenn Kris’ lange Finger ihr durchs Haar fahren würden.

»Vielleicht solltest du deine Gefühle mal wieder in den Griff kriegen«, murmelte Dexter.

Beschämt straffte Addie nun die Schultern und bedeutete den Testpersonen, sich hinzusetzen.

Lauren plumpste auf den Holzstuhl und widmete sich sofort ihrem Handy. »Heute kann ich hier nicht viel Zeit verbringen. Ich hab noch Hausaufgaben für meinen Kurs um halb zwei zu machen.«

»Du solltest deine Aufgaben am Abend vorher erledigen«, sagte Addie, die jedem eine Liste vom vorigen Versuch reichte. »Dann kann dein Unterbewusstsein die neuen Informationen verarbeiten, während du schläfst, und auf diese Weise bist du dann am nächsten Tag im Unterricht vollständig vorbereitet.«

Kris sagte: »Das funktioniert also? Dieses Ding mit dem Unterbewusstsein? Ich dachte, so was gibt’s nur im Fernsehen.«

»Dann würde ich es nicht wissen. Ich habe keinen Fernseher«, sagte Addie. »Doch vom Lesen weiß ich, dass das Unterbewusstsein ein viel zu wenig genutztes Instrument ist. Es wird verschwendet – an Träume.«

»An deine Träume vielleicht.« Kris grinste. »An meine nicht.«

Lauren zeigte mit den Daumen auf Addie und Dex. »Wer weiß, wovon die beiden da träumen. Bunsenbrenner und Petrischalen.«

»Ich für meinen Teil träume nicht«, sagte Dex.

»Warum wundert mich das nicht?«, sagte Kris.

»Können wir anfangen?«, fragte Lauren. »Ich habe im wahrsten Sinne des Wortes keine Zeit.«

Addie gab jedem einen Bleistift. »Bitte schreibt eure Eindrücke voneinander auf und beschränkt euch dabei auf fünf Wörter.«

Lauren zog ein langes Gesicht. »Schon wieder? Das hab ich gestern schon gemacht, erst mit Kris, dann mit Alex. Was soll das?«

Kris kritzelte schnell die letzten Wörter hin und sagte: »Wer ist Alex?«

Dex und Addie wechselten einen beunruhigten Blick. Kris sollte nicht wissen, dass es ein Kontrollexperiment gab. »Nicht so wichtig«, sagte sie. »Macht schon, Laurens Zeitplan ist sehr eng getaktet.«

Aber plötzlich schien Lauren es nicht mehr so eilig zu haben. »Habt ihr etwa kein anderes Mädchen für Kris, so wie ihr für mich einen anderen Typen habt?«, fragte sie.

»Im Wesentlichen nicht«, sagte Dex, doch was das bedeuten sollte, blieb ein Geheimnis.

Lauren machte sich wieder ans Schreiben. »Wie kann es sein, dass ich zwei Typen kriege?«

»Nicht nur zwei«, flüsterte Dex.

»Wie bitte?« Lauren hörte auf zu schreiben.

»Nichts.« Dex nahm ihr das Blatt ab.

Als die Listen fertig waren, trug Addie die Antworten in die Tabelle ein, während Dex die Teller holte. »Mittagessen.«

»Ich hoffe, das ist nicht wieder Erdnussbutter-Banane«, sagte Lauren und musterte die Tortilla, Guacamole und … »Ihhh. Was ist das?« Sie hielt eine zwei Zentimeter lange Fritte hoch, die seltsam geriffelt war und an einem Ende schwarz.

»Schmeck mal«, sagte Addie.

»Das muss sie nicht«, sagte Dex. »Diese Dinger stecken voll von unnötigem Fett, Salz und Kalorien.«

»Diese Dinger?« Lauren zog eine Braue hoch. »Moment. Das sind keine Pommes frites?«

Kris tunkte seine in die Soße und biss rein. »Hab ich mir doch gedacht. Köstlich!« Er wischte sich die Finger an einer Serviette ab. »Gebratene Agavenwürmer. Stimmt’s?«

Addie hob einen Finger hoch, es gefiel ihr, dass er so schlau war. »Korrekt! Obwohl die Mexikaner sie chilocuiles nennen. Aegiale hesperiaris ist der wissenschaftliche Name. Die gemeine Mottenlarve also.«

»O Gott.« Lauren hielt sich den Bauch. »Ich glaub, ich muss kotzen.«

Dexter fing an wie verrückt zu schreiben.

»Willst du nicht wenigstens einen probieren?«, fragte Addie.

»Kommt nicht infrage.«

»Das ist Teil des Experiments«, säuselte sie.

»Dann mach du das.« Lauren schnippte einen Wurm quer über ihren Teller. Er landete auf dem Tisch, genau neben der Soße.

»Na gut.« Addie nahm ihn zwischen zwei Finger und holte tief Luft.

Dex zeigte mit der Radiergummiseite seines Bleistifts Richtung Wurm. »Es ist nicht üblich, dass Wissenschaftler an Experimenten mit ihren Probanden aktiv teilnehmen.«

»Es ist auch nicht üblich, Leute zu zwingen, eklige Mottenlarven zu essen«, sagte Lauren.

»Das hilft.« Kris hielt ihr die Soße hin. »Ist nicht schlimm. Solche Sachen habe ich in China andauernd gegessen – Seidenwürmer. Ist das Gleiche. Die gelten da als Delikatesse.«

Lauren schlang die Arme um die Knie. »Ich esse nichts, was im Ausland als Delikatesse gilt.«

»Hau rein«, sagte Kris zu Addie.

Seine braunen Augen funkelten belustigt. Er schien sagen zu wollen: Ich weiß, was für ein Mensch du bist. Du wagst was. Du bist offen. Es macht dir nichts aus, anders zu sein. Ehrlich gesagt, genau so willst du es doch haben, oder?

Das gefiel ihr.

Addie tunkte den Wurm in die Soße, steckte sich das ganze Ding in den Mund und kaute los, woraufhin es zu einer Art salzig-würzigem Matsch explodierte. Sie schluckte, schnappte sich Kris’ Serviette und tupfte sich den Mund ab.

Lauren bestand darauf, die Serviette zu inspizieren. Sie war leer. »Sie hat es getan.«

»Selbstverständlich.« Addie rieb sich den Bauch (oder den Bereich des Abdomens, der gemeinhin als solcher bezeichnet wird).

»Nicht übel.«

»Bitte sehr! Nimm noch einen.« Kris hielt ihr den Teller hin.

»Gern, wenn du mitmachst.«

»Los geht’s.« Er nahm einen Wurm, ließ den Dipp aus und biss die Hälfte ab.«

»Gleichfalls.« Addie tat es ihm nach, dann stießen sie mit den verbliebenen Wurmhälften an, dippten sie feierlich und aßen sie auf.

»Äh. Ich muss gehen, sofort, sonst kotz ich.« Lauren war schon halb aufgestanden.

»Warte!« Dex winkte mit den Notizzetteln. »Du musst deine Liste noch schreiben.«

Hastig kritzelte Lauren fünf Wörter hin, dann schnappte sie sich ihre Tasche und stürzte zur Tür hinaus, ohne sich zu verabschieden.

»Hoffentlich kommt sie schnell drüber weg«, sagte Kris. Er füllte seinen Zettel aus. »Sie sah irgendwie ein bisschen grün aus.«

Wie albern, dachte Addie, als sie Laurens’ letzte Impressionen überflog, wenn man bedachte, dass die Würmer in Wirklichkeit nichts anderes waren als …

»… gebratener Käse?« Tess explodierte vor Lachen.

»Psst.« Addie ließ den Blick prüfend über die Cafeteria schweifen. Hoffentlich hatte das niemand gehört. »Still. Kris darf das nie erfahren.«

»Oh, stimmt. Sorry.«

»Ich kann es gar nicht erwarten, das dem Athenian-Komitee zu berichten.« Addie nippte an ihrem Eistee. »Du kommst doch zu meiner Präsentation, oder?«

Tess tauchte den Löffel in ihren griechischen Joghurt mit Ananas. »Du weißt, ich würde mir nie entgehen lassen, deinen detaillierten Ausführungen über die Peptide oder Riptide der Liebe zu lauschen.«

»Riptide gibt es nicht. Und riptides sind Strömungen. Peptide sind Aminosäureketten.« Irgendwie peinlich, so was nicht zu wissen, dachte Addie.

»Egal«, sagte Tess, nicht das geringste bisschen verlegen. »Zurück zum Thema. Warst du nicht besorgt, Kris könnte kapieren, dass es keine echten Würmer sind?«

Addie legte den Finger an die Lippen. Echt jetzt! Jahrelanges Sprechtraining für den idealen Bühnenton machte es Tess unmöglich, ihre Stimme auch mal zu dämpfen.

»War ich«, flüsterte Addie, »vor allem weil er schon Seidenwurmlarven in China gegessen hatte. Das hatte ich nicht einkalkuliert. Aber der Koch hat seine Sache hervorragend gemacht, sie waren perfekt – genau wie die Fotos auf Wikipedia.«

»Ich wette, Dex hat einen Anfall gekriegt, als Lauren gekniffen hat, oder?«, brüllte Tess.

Addie schlug sich die flache Hand vor die Stirn. Wenn Tess weiterhin darauf bestand, ein Megafon in Menschengestalt zu geben, würde sie aufhören müssen, an einem so öffentlichen Ort über dieses Thema zu reden. Diese Updates sollten nämlich vertraulich behandelt und nicht vor der ganzen Academy-355-Gemeinschaft herumtrompetet werden. Dexter würde ausrasten, wenn er herausfand, dass sie ihrer besten Freundin irgendwas über das Experiment erzählt hatte, vor allem, weil er und Tess von Anfang an nicht miteinander klargekommen waren.

Dex tat Tess als hohle Dramaqueen ab und Tess hielt ihn für einen psychopathischen Roboter mit Ödipuskomplex. Dabei war er in Wahrheit ein psychopathischer Roboter, der eventuell in Lauren verknallt war. Nach dem Agavenwurm-Experiment hatte Dex geschmollt, man habe sich gegen sie verschworen, als ob Addie schuld sei an Laurens mangelnder Bereitschaft, unbekannte Nahrungsmittel auszuprobieren.

»Das war einfach zu viel für sie«, hatte Dex gemotzt und sein Klemmbrett so heftig auf den Specksteintisch im Labor geknallt, dass der einen Haarriss bekommen hatte.

»Wenn sie abenteuerlustiger gewesen wäre, hätte Kris einen vorteilhafteren Eindruck von ihr bekommen, als« – sie las dessen letzte Wortliste vor – »nett, hübsch, schüchtern, verklemmt, langweilig.«

»Ihre Eindrücke von ihm sind auch nicht viel besser. Er ist heruntergestuft worden von dreist zu egoistisch und von geheimnisvoll zu bekloppt.« Dex strich mit dem Daumen über den Riss, den er verursacht hatte, holte einen Edding aus der Tasche und malte drüber, um den Schaden zu verdecken. »Wie ich sehe, hat sie seltsam und Ärger beibehalten.«

»Süß auch.«

So weit waren sie also. Das Experiment lief erst zwei Tage, und schon lag Addies These in Trümmern, und sie und ihr Laborpartner stritten mal wieder.

»Klingt ganz, als würde das Projekt nicht ganz so laufen, wie du es geplant hast«, sagte Tess beim letzten Löffel Joghurt.

»Das werden wir beim Tanzen sehen.« Addie biss in ihr Putensandwich und kaute nachdenklich.

»Was passiert beim Tanzen?«

Addie konnte nicht antworten. Sie war erst bei achtzehn.

»Oh, du machst doch wohl nicht wieder dieses Ding mit dem Zählen, oder?« Tess verdrehte die Augen. »Das ist so … komisch

Addie schluckte. »Es ist nicht komisch. Gründliches Kauen fördert die Verdauung und sorgt für optimale Verwertung jeder Mahlzeit.«

»Dann erklär mir doch schnell vor dem nächsten Bissen, was so wichtig an diesem blöden Tanzabend ist.«

Addie legte ihr Sandwich hin. »Da sehen wir, ob Lauren sich an Alex oder Kris ranmacht. Das ist die einzige Gelegenheit, unsere Versuchspersonen außerhalb des Labors und in ihrer natürlichen Umgebung zu beobachten.«

»Wir müssen dir ein neues Kleid kaufen.«

»Was ich anziehe, ist mir egal.« Sie nahm das Sandwich in die Hand, aber Tess hinderte sie am Zubeißen.

»Und wir müssen was mit deinen Haaren machen. Lass das mal mit diesem Pferdeschwanz. Hast du über Lidstrich nachgedacht? Du brauchst was, das deine Augen zur Geltung bringt.«

»Bei dem Tanz geht es nicht um mich. Abgesehen davon, können Kris und Lauren vielleicht nicht mal kommen.« Sie wackelte mit den Augenbrauen. »Das ist nicht schlimm, denn das nächste Experiment ist noch gefährlicher als der Verzehr von gefakten Insekten.«

»Oje. Hoffentlich gehst du nicht zu weit, Addie, so wie damals, als du Zyanid in die Finger gekriegt und diese Eisennägel blau gefärbt hast und …«

»Ich bitte dich, das war in der achten Klasse. Und es war Sodium ferrozyanid, das so gut wie gar nicht giftig ist.«

»Aus Versehen hast du aber so viel giftige Gase freigesetzt, dass die ganze Klasse ins Krankenhaus musste!«

Addie winkte ab. »Mittelstufenschüler, die Aufmerksamkeit wollten. Alle waren absolut gesund.«

»Klar. Nach vierundzwanzig Stunden Dauerüberwachung in der Uniklinik.«

»Wie ich schon sagte. Allen ging es gut.« Addie biss von ihrem Sandwich ab und zählte rückwärts – von zwanzig.

»Und welches geplante Trauma wirst du diesen armen Leuten zufügen?« Tess stöhnte und wartete, bis sie fertig mit Kauen war, dabei zählte sie laut mit. »Fünf, vier, drei, zwei, eins.«

Addie tupfte sich die Lippen ab. »Nichts allzu Anstrengendes. Nur gerade so gefährlich, dass die Amygdala beginnt die Botenstoffe freizusetzen. Anders geht es nicht, nur so kann der Beweis für meine These erbracht werden.«

»Du bist krank!«

»Das wird sich zeigen. Wenn sie sich wahnsinnig verlieben, findest du mich vielleicht genial.«

»Hey, ich frag mich, ob so was vielleicht mit Ed und mir passiert ist«, sagte Tess. Ihre grünen Augen waren ganz groß geworden, als ihr das aufging. »Wir saßen auf einem Berg fest, es war enorm windig, und überall zuckten Blitze. Wir hätten leicht sterben können. Vielleicht habe ich mich deshalb in ihn verliebt … denn eigentlich ist er ja überhaupt nicht mein Typ. Hast du darüber mal nachgedacht, du Genie

Wenn du wüsstest, dachte Addie. »Wie läuft es denn mit euch? Habt ihr geredet?«

»Ja. Danke, dass du ihm einen Schubs gegeben hast. Er hat gesagt, er versucht im Oktober zu Besuch zu kommen.« Sie ließ ihren Löffel auf dem Tisch kreiseln. »Ich liebe ihn ja sooo sehr.«

»Ich weiß.« Addie tätschelte ihr den Arm.

»Tust du das?«

»Ehrlich gesagt, ich …«

Ein Schatten verdunkelte ihren Tisch, und da stand Kris, geduscht und duftend, mit den Händen in den Hosentaschen. Addies Puls beschleunigte.

»Hast du eine Minute?«, fragte er.

»Ich sollte mich lieber mal an die Vorbereitungen für die Spiele heute Abend machen.« Tess rutschte von ihrem Stuhl. »Wir sehen uns dann in fünf Minuten, Addie?«

Addie legte ihr halb gegessenes Sandwich hin und schüttelte den Kopf. »Geht nicht. Ich hab noch Arbeit im Labor. Da ist gerade ein Artikel veröffentlicht worden über …«

»Ähem, du bist meine Assistentin«, rügte Tess. »Die Mädels werden sich heute Abend über den ganzen Campus verteilen und ich kann unmöglich an drei Orten gleichzeitig sein.«

Mist. Dieser Artikel war grundlegend für ihre Athenian-These, ein wirklich faszinierender Durchbruch in der Forschung über die Steuerung von Gefühlen.

»Was habt ihr denn vor, das erfordert, an drei Orten gleichzeitig zu sein?«, fragte Kris, der sich Addie gegenübersetzte.

Tess nahm ihr Tablett. »Wir spielen ›Wähl dein eigenes Abenteuer‹. Kletterwand, Klettergarten oder Paddeln.«

»Und welches Abenteuer wählst du?«

Die Frage war an Addie gerichtet. Sie erwiderte seinen Blick und schluckte den Bissen runter, den sie gerade genommen hatte. »Weiß nicht. Paddeln vielleicht. Im Boot könnte ich lesen.«

»Fünf Minuten.« Tess tippte auf ihre Armbanduhr. »Wir fangen damit an, in der Runde über die jüngsten Probleme zu reden – das darfst du nicht verpassen. Deine Forschung zum Hirn Heranwachsender könnte dabei nützlich sein.«

Addie salutierte ansatzweise. »Jawohl, Boss.«

Als Tess weg war, lehnte Kris sich über den Tisch und grinste.

»Was ist?«, fragte sie.

»Gebratener Käse.«

Ihr Herz setzte einen Schlag lang aus. Schwer zu sagen war, ob das daran lag, dass er den Schwindel durchschaut hatte oder weil er ihr so nah war, dass ihre Nasenspitzen sich beinahe berührten.

»Positiv.« Sie lehnte sich etwas zurück und schraubte den Deckel ihrer Wasserflasche ab. »Wann hast du die geheime Zutat entlarvt?«

»Als ich Mozzarella gerochen habe. Weißt du, wie viele Pizzas ich in meinem Leben gegessen habe? Ich bin gewissermaßen Experte.«

Sie nahm einen Schluck und schraubte die Flasche wieder zu.

»Warum hast du es Lauren nicht verraten?«

»Den Spaß verderben? Nee

»Das ist humorvoll«, stellte sie fest.

»Humorvoll?« Er verzog das Gesicht. »Das hab ich noch nie jemanden sagen hören. Normalerweise lachen Leute einfach.«

»Ha.«

»Du verarschst mich, oder?«

»Ha. Ha. Ha.«

»Schon besser. Wir versuchen es mal mit einem Witz. »Eine Ente, ein Schwein und ein Erdferkel kommen in eine Bar …«

»Das klingt übel.«

»Wird noch schlimmer.« Er runzelte die Stirn. »Mist. Den Mittelteil hab ich vergessen. Egal, die Pointe ist: Und das Schwein sagt: ›Aber ich hab keine Luftballons!‹« Kris klatschte die Hand auf den Tisch und brüllte vor Lachen.

Addie verzog keine Miene.

»Findest du das nicht zum Totlachen?«, fragte Kris.

»Wie denn? Du hast den Mittelteil total vergeigt.«

»Okay, aber die Pointe. Du musst zugeben, die ist ziemlich gut.«

»Ich geb gar nichts zu.« Addie hielt die Hand hoch und zählte an den Fingern her: »Erstens, deine Geschichte ergibt keinen Sinn. Ein Schwein, eine Ente und ein Erdferkel würden nicht in eine Bar gehen. Das würde gegen die Verordnungen des Gesundheitsamts verstoßen. Zweitens: Tiere sprechen nicht. Ihre Gehirne sind nicht so weit entwickelt, dass …«

Kris schlug sich an den Kopf. »Vergiss es. Musst du alles auseinandernehmen?«

»Das unerforschte Leben ist nicht lebenswert.«

»Jetzt zitiert sie Sokrates.«

Addie knüllte ihre Papierserviette zusammen und warf sie aufs Tablett. »Ich sitze vor dir. Du brauchst nicht in der dritten Person von mir zu sprechen.«

»Jetzt gibt sie mir Grammatikunterricht.« Er schaute auf. »Übrigens, man erzählt sich, dass Ed dich unmittelbar vor dem Volleyballspiel damit aufgezogen hat, ein Tierkiller zu sein.« Kris hielt die Hand schützend über die Nase. »Und ihm hast du dafür keine Gehirnerschütterung verpasst.«

Armer Kris. Unter seinen Augen waren immer noch dunkle Ringe von den geplatzten Kapillaren. Sie hatte ihm wirklich was angetan. »Ed hat Witze gemacht.«

»Ich auch. Das war ein Versuch, das Eis zu brechen. Du weißt schon, den weißen Elefanten aus dem Raum lotsen sozusagen.«

»Was für ein Elefant? Und in einem Raum waren wir gar nicht. Wir waren draußen.«

Kris raufte sich die Haare, bis sie zu Berge standen. »Mann. Harte Nuss, dieses Publikum.«

Das brachte sie zum Lachen. Sie kicherte so heftig, dass sie husten musste. »Die Haare. So was Wildes. Lässt du sie dir nie schneiden?«

»Echt? In diese Richtung geht das jetzt?« Aber er lächelte, und sie konnte nicht anders, sie lächelte zurück.

Dieses Phänomen war faszinierend, aber auch verstörend.

Ihre wachsenden Gefühle für Kris wurden zum Problem, nicht nur, weil er eine Freundin hatte, die zufälligerweise ihre Erzfeindin war, sondern auch, weil es ganz bestimmt nicht mit dem wissenschaftlichen Protokoll zu vereinbaren war, sich in einen Probanden zu verlieben, der an ihrem Experiment teilnahm. Sie würde sich zu professioneller Distanz zwingen müssen, sonst wäre das ganze B.A.D.A.S.S.-Projekt gefährdet.

Ihr Handy gab einen Ton von sich, und eine Textnachricht von Tess kreischte ihr praktisch entgegen: WIR HABEN ANGEFANGEN. WO BIST DU????

»Muss los«, sie stand auf. »Bis morgen. Vergiss nicht, wir treffen uns in der Sporthalle, nicht im Labor.«

Dann nahm sie ihr Tablett und ging ohne ein weiteres Wort.

Die Mädchen saßen im Kreis auf dem Rasen, als Addie viel zu spät eintraf. Sie hatte noch ein Notizbuch aus dem Wohnheim holen müssen.

»Juhu, Schmetterball ist da!«, sagte Emma. Die anderen Mädchen applaudierten, denn dank Addie hatten sie tags zuvor die Jungs beim Volleyball geschlagen.

Als Heldin gefeiert zu werden, besonders für sportliche Leistungen, war eine völlig neuartige Erfahrung – und seltsam befriedigend. Akademische Erfolge beruhten auf einsamen Anstrengungen. Gute Zensuren im Zeugnis brachten einem keine High Fives von den Mitschülern ein. Selbst als sie und Dex für ihre Laborberichte ausgezeichnet worden waren, war das ein einsames Gefühl gewesen, da er zwangsläufig alle Ehre für sich beansprucht hatte.

Aber gestern war sie Teil eines Teams gewesen – und jetzt wurde sie von diesem Team gefeiert. Das erzeugte ein warmes, beglückendes Gefühl.

Addie setzte sich neben Mindy, die sie fragte: »Ist es erlaubt, jemandem einen Ball an den Kopf zu werfen? Zu Hause wäre das ein Regelverstoß.«

»Nur, wenn man übers Netz langt«, sagte Fiona. »Und das hat sie nicht getan.«

In Wahrheit konnte Addie sich nicht erinnern, ob sie übers Netz gelangt hatte oder nicht, als sie hochgesprungen war, um den Ball zu schmettern. Sie wusste nur noch, dass die Wut sie überwältigt hatte, als sie diese Worte aus Kris’ Mund gehört hatte.

»Wir haben über den Tanz am Samstag gesprochen«, sagte Tess von der anderen Seite des Kreises, wo sie zwischen einer mürrischen Tay und Bree saß. »Das Motto ist Ein Mittsommernachtstraum – und Shreya hat gefragt, ob es ein Kostümfest ist. Ist es nicht. Ihr könnt euch aufbretzeln oder es bleiben lassen. Alles geht, alles ist gut.«

Mindy hob die Hand. »Aber ist das Fest nicht an dem Tag, an dem wir nach Harvard fahren?«

Tess wand sich etwas. »Bis dahin sind wir von unserem Ausflug zurück. Ihr werdet mehr als genug Zeit für die Vorbereitungen haben.«

»Ich wollte dort eigentlich übernachten.« Mindy zeigte auf Fiona. »Ich meine, wir beide wollten das. Wir fliegen am Morgen darauf nach Chicago. Dann wären wir näher am Flughafen.«

Tess schoss Addie einen wissenden Blick zu. »Vielleicht sollten wir darüber später reden. Die Verwaltung hat mir nichts davon mitgeteilt.«

»Wirklich?« Zuri kicherte. »Was für eine Überraschung.«

Tess reckte den Hals. »Weißt du etwas, das ich nicht weiß?«

»Okay«, krähte Mindy. »Lass das.«

Fiona sagte. »Du solltest es ihnen einfach sagen. Wissen sowieso alle.«

»Es geht um diesen Jungen, oder?«, sagte Tess. »David oder wie hieß er noch?«

Mindy senkte den Kopf und rupfte ein paar Grashalme aus. »Letztes Jahr sind wir miteinander gegangen. Dann haben meine Eltern gesagt, ich dürfe mich nicht mit ihm treffen, weil eine Beziehung meinen schulischen Leistungen schaden würde. Seine Eltern haben beigepflichtet.«

»Das ist ein stichhaltiges Argument«, sagte Addie. »Diese Einstellung vertrete ich auch.«

»Wahrscheinlich hast du keinen Freund«, sagte Tay abfällig. »Wenn du einen hättest, wäre das anders.«

Addie dachte darüber nach. »Nein«, sagte sie langsam, »ich habe keinen Freund, weil ich Jungs abgeschworen habe, solange meine Doktorarbeit nicht fertig ist. Verstehst du, wie das funktioniert? Die Henne? Das Ei?«

»Aber wenn du einen Freund hättest …«, sagte Bree mit einer Art Achselzucken. »Ich mein ja nur.«

»Dir ist klar, dass das, ›was du nur meinst‹, völlig unlogisch ist, oder?«, sagte Addie. »Ich habe bewusst eine Entscheidung getroffen, mich …«

Ein schriller Pfiff brachte sie zum Schweigen. Tess nahm zwei Finger aus dem Mund und sagte: »Entschuldigt bitte, Ladys. Wir haben über Mindy geredet. Sie ist diejenige mit dem Problem. Nun wollen wir unsere Aufmerksamkeit auf sie richten. Erzähl.«

Mindy stieß einen Seufzer aus. »Wir wussten, unsere Eltern würden Verdacht schöpfen, wenn wir dasselbe Austauschprogramm wählen. Also ist er zu Sommerkursen nach Harvard gegangen und ich bin in diesem Austauschprogramm. Diese Woche hier ist die einzige Gelegenheit, uns zu sehen, bevor wir unseren Abschluss machen.«

»O nein«, stöhnte Tess und rieb sich die Stirn. »Das ist ja so was von nicht das, was ich mir vorgestellt hatte.«

»Und wie macht ihr das in der Schule?«, fragte Rachel.

»Wir gehen auf verschiedene Schulen. Er auf eine reine Jungsschule, ich auf eine Mädchenschule.«

»Ist ja irre«, sagte Emma. »Vereinbart doch Rendezvous nach dem Unterricht.«

Fiona und Mindy guckten einander verwundert an.

»Verabredet euch«, erklärte Emma. »So was nennt man Rendezvous auf Französisch.

»Wir wissen, was das bedeutet«, sagte Fiona. »Wir haben nur keine Zeit nach dem Unterricht. Oder vorher. Wir fangen um acht mit der Schule an und haben um fünf Schluss. So lang ist unser Tag. Eine Stunde fürs Abendessen, dann lernen wir bis elf. Vor der Schule arbeiten alle mindestens zwei Stunden.«

»Im Ernst?«, fragte Tay ungläubig. »Ich würde meinen Eltern sagen, dass so was gar nicht geht. Ich hab ein Leben, vielen Dank auch.«

»Du hast Glück«, sagte Mindy. »Du kannst auf die Uni gehen, die du dir aussuchst. Wir können nur gehen, wenn wir gute Zensuren im gaokoa des Abschlussjahres haben. Drei Tage Prüfungen. Bewaffnete Wachleute vor der Tür. Sogar Drohnen in der Luft, die sicherstellen, dass es keine Funksignale gibt, die Schülern beim Schummeln helfen könnten.«

Die ganze Gruppe murmelte entrüstet.

»Nach dem, was ich gelesen habe«, sagte Addie, »ist unser Eignungstest ein Klacks im Vergleich dazu. Mädchen nehmen die Pille, damit sie ihre Tage nicht kriegen. Die halten Krankenwagen bereit, falls Schüler ohnmächtig werden.«

Zuris Unterkiefer sackte runter. »Das ist eine Menge Druck. Wie kommt ihr damit klar?«

Mindy zuckte mit den Schultern. »Ohne Freund.«

Daraufhin brach der ganze Kreis in Gelächter aus. Addie nutzte die Ablenkung, um eine Textnachricht zu verschicken. Als die Antwort ein erhobener Daumen war, sagte sie. »Wir sollten lieber mal mit ›Wähl dein eigenes Abenteuer‹ loslegen, bevor es zu spät ist.«

»Oh, du hast recht.« Tess schaute auf ihre Armbanduhr. »Okay, wer will paddeln?«

Mindy und Fiona hoben die Hand.

»Klettergarten?«, fragte Tess.

Keiner.

»Kletterwand.«

»Nee«, sagte Rachel. »Zu schwierig.«

»Ich wähle das Abenteuer, ins Thwing zu gehen, mir einen Eiskaffee zu holen und mir bei laufender Klimaanlage Schrott im Fernsehen anzugucken«, sagte Tay und drehte sich zu Bree um. »Und du?«

»Extremes Rumfläzen? Ich bin dabei.«

Sie standen auf und bürsteten sich das Gras von den Shorts. Emma, Shreya, Rachel und Zuri folgten.

»So viel zur Stärkung des Teamgeistes«, sagte Tess mit einer hilflosen Geste.

»Sieh es mal so: Sie wählen ihr eigenes Abenteuer. Das ist heute nur eben eine Realityshow.« Addie stand auf und klopfte Grashalme ab. »Wenigstens gehen ein paar von ihnen vielleicht paddeln. Übrigens, was wirst du in Sachen Mindy unternehmen?«

»Keine Ahnung. Hoffen, dass sie zur Besinnung kommt. Hoffen, dass sie zu viel zu tun hat, um nach Harvard zu fahren … Das hier?« Tess drückte die Daumen.

Addie verzog das Gesicht. »Aaah ja, wenn alle Mittel versagen, dann verlass dich nur auf die Kraft des Aberglaubens. Während du damit zu tun hast, geh ich zurück ins Labor. Dieser Artikel über Spindelneuronen liest sich schließlich nicht von selber.«