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»Es ist grün!«

Tess hielt das hinreißende Kleid mit den kaum vorhandenen Trägern hoch, das sie am Morgen in einem Laden in der Newbury Street in Boston gekauft hatte. Angeblich hatte sie es zum absoluten Ausverkaufspreis von zwanzig Dollar erstanden, doch Addie argwöhnte, dass sie der Einfachheit halber eine Null weggelassen hatte.

»Das ist nicht grün«, beharrte Tess. »Es ist türkis, damit deine Augen zur Geltung kommen.«

»Türkis ist ein Grünton und meine Augen sind grau.« Addie befühlte skeptisch den Saum. »Es ist sehr kurz und der Stoff ist fast transparent.«

»Ja, ich weiß! Kris wird ausflippen.« Tess warf das Kleid auf ihr Bett und rollte Addie vor den Spiegel auf ihrem Schreibtisch, auf dem Körbe mit Make-up, Clips, Kämme und rosa Dosen herumstanden.

Addie nahm eine der Spraydosen und las das Label. »Das enthält ein Aerosol. Das ist schlecht für die bereits beschädigte Ozonschicht.«

»Ein paar Spritzer überlebt die schon. So, wir müssen über deine Haare reden.« Tess riss das allgegenwärtige Haargummi raus.

»Au! Was machst du da?« Addie griff sich an den Kopf.

Tess schlug ihre Hand weg. »Entspann dich. Wir müssen dich herrichten – und ich verpasse dir ein Blow-out.«

Das klang schmerzhaft. Aber nachdem sie den Prozess durchlitten hatte, bei dem heiße Luft und große runde Bürsten zum Einsatz kamen, fand Addie, dass ein Blow-out nur nervig und enorme Energieverschwendung war. Ihre Kopfhaut war superempfindlich und bei jedem Ziepen zuckte sie zusammen. Als die Qualen vorüber waren und Tess mit dem Auftragen von leichter Grundierung, Eyeliner, Mascara und schnell noch etwas Rouge und Lipgloss fertig war, kam Addie sich vor wie der aufgedonnerte Pekinese ihrer Tante Jo.

»Du siehst toll aus.« Tess trat einen Schritt zurück und betrachtete ihr Werk.

Addie schaute auf ihre nackten Füße. »Ich hab keine Schuhe, die dazu passen.«

»Stimmt. Turnschuhe oder diese grässlichen Sandalen kannst du nicht dazu tragen.«

»Meine Sandalen sind nicht grässlich. Die sind sehr praktisch – im Wasser und zu Land.«

»Eben. Ich frag mal bei den anderen Mädchen rum, meine Füße sind nämlich doppelt so groß wie deine.«

Eine halbe Stunde später hatte Addie ein Paar silberne Stilettos ausgeliehen, die ihrer ganz persönlichen Meinung nach ergonomische Katastrophen waren. Stehen konnte sie nicht, deshalb setzte sie sich aufs Bett und las die letzte Ausgabe von Neuroscience Today, während Tess zwischen einem orange- und einem pfirsichfarbenen Kleid für den Eigenbedarf schwankte.

Addie sah auf die Uhr. »Wir verspäten uns. Der Ball fängt um acht an.«

»Na und?« Tess saß an ihrem Schreibtisch, wo sie sorgfältig eine weitere Lage Wimperntusche auftrug. »Keiner kommt pünktlich.«

»Ich schon. Und Dexter auch. Pünktlichkeit ist Höflichkeit, die wir anderen erweisen, sagt er.«

»Warum reden wir überhaupt von dem?« Tess schraubte den Deckel auf die Wimperntusche. »Der hat seine Existenzberechtigung verwirkt, so wie er dich behandelt hat.«

Addie wollte los, sie stand auf, nur um sich gleich wieder hinzusetzen, als Tess begann in ihrem Lipgloss-Sortiment zu kramen. Endlich, um neun Uhr abends, war das Frisier- und Schminkritual vollendet. Addie stand kurz vor der Explosion, weil sie derart vom Zeitplan abgewichen waren. Sie stolperte hinter Tess her, die den Gesetzen der Physik trotzte, indem sie auf ihren zierlichen Stilettos mühelos ausschritt.

»Ist das hübsch!« Tess blieb so plötzlich am Eingang zum Festzelt stehen, dass Addie, die sich ganz auf die Verteilung von Kilo pro Quadratzentimeter konzentriert hatte, gegen sie stolperte und beinahe hingefallen wäre.

In dem weißen Zelt hingen Dutzende bunte, mit winzigen Glühbirnen beleuchtete Papierlampions, die in Rot, Blau, Grün, Lila und Gelb erstrahlten.

»Chinesische Laternen«, sagte Addie zögernd. Das Zelt war proppenvoll mit Fremden, die zu dröhnender Musik hin und her schwankten. Sie musste sich die Ohren zuhalten, so laut war es.

»Aber, aber«, sagte Tess und zog Addie sanft die Hände von den Ohren. »Das geht jetzt gar nicht.«

»Vielleicht sollte ich wieder auf mein Zimmer gehen. Mir ist ein bisschen schlecht.«

»Nein, ist dir nicht. Du bist aufgeregt, nicht verängstigt.« Tess nahm sie beim Ellenbogen.

»Ich komme einfach nicht klar im Gewimmel. Das weißt du. Mit Fremden bin ich nicht gut.«

»Ich weiß auch, dass du ein Experiment durchzuführen hast, oder? Ich dachte, du wolltest hier beobachten, wie Lauren mit Alex und Kris interagiert.«

Schon wenn sein Name genannt wurde, geriet Addies Magen in Aufruhr. Dass Tess sie an das Experiment erinnerte, war allerdings hilfreich. Ja. Wenn sie sich einfach nur auf die Aufgabe konzentrierte, müssten die Ängste vor Unzulänglichkeit und Small Talk mit Fremden – weit weniger fürchtete sie sich davor, in aller Öffentlichkeit zu tanzen – verschwinden.

Tess begleitete sie sicher bis an die Stelle, an der Dexter mit dem Klemmbrett in der Hand hinter einem eingetopften Farn stand.

»Du hast dich verspätet.« Er schaute auf die Uhr. »Um zweiundsiebzig Minuten.«

»Egal«, sagte Addie und schlüpfte hinter die Pflanze. Hier konnte sie beobachten, ohne beobachtet zu werden. »Was willst du mit dem Klemmbrett?«

»Dokumentation«, antwortete er und klopfte mit seinem Stift auf das Brett. »Ich will den Zeitpunkt notieren, an dem sich erweist, dass ich recht hatte damit, dass deine These nichts taugt – wenn Lauren und Alex zusammenkommen.«

Wie süß von ihm, seinen Samstagabend zu opfern, um mir Fehler nachzuweisen, dachte Addie säuerlich.

»Hinreißende Fliege.« Tess zeigte mit dem Finger auf Dexters rosa kariertes Exemplar. »Hat Mutter die auch für dich ausgesucht? Oder war es Nanny?«

Er legte schützend die Hand daran. »Mutter, selbstverständlich. Sie hat einen tadellosen Geschmack. Aber solltest du nicht mit Ed zusammen sein? Allerdings ist das ein Highschoolfest, könnte also sein, dass er sich hier fühlt wie beim Kindertanz.«

Tess bürstete einen Fussel vom Arm und spielte die Rolle der stets zuversichtlichen Freundin. »Ed kann machen, was er will. Ich bin nicht seine Aufpasserin. Sieht Addie nicht hübsch aus?«

Dex drehte sich zu Addie um und musterte sie von Kopf bis Fuß. »Was hast du mit deinen Haaren gemacht?«

»Tess hat Reibung und Hitze angewendet«, sagte Addie.

Missbilligend presste er die Lippen zusammen. »Nun ja, es sieht anders aus und wenig effizient.«

»Du weißt wirklich, wie man einem Mädchen schmeichelt«, sagte Tess. Sie wirbelte davon. »Und nun flipp bloß nicht aus auf dem Tanzboden, Dexter. Ich weiß doch, wie du dich aufführst, wenn du ein paar Colas intus hast.«

Sie sahen ihr nach, als sie davontänzelte und sich lachend einen Weg durch die Menge bahnte.

Addie ließ keine Zeit verstreichen. »Bist du zu Foy gegangen?«

»Ich habe ihm eine E-Mail geschickt. Er hat nicht geantwortet.«

Gut. Vielleicht würde er seine Mails erst morgen früh checken.

»Fürs Protokoll, ich hab deinem Schwarm einen Ausweg gelassen. Ich hab ihm gesagt, wenn er zugibt, die Krebse gestohlen zu haben, würde ich es keiner Menschenseele erzählen.«

Addies Herz machte einen Hüpfer. »Und?«

»Und er hat drei Mal geleugnet. Also habe ich die E-Mail abgeschickt.«

Verdammt. Warum hatte Kris nicht gestanden? Andererseits kannte sie Dexter und seine fiesen Neigungen, es war höchst unwahrscheinlich, dass Kris nach einem Schuldeingeständnis vom Haken gelassen worden wäre. Wahrscheinlich hätte Dex ihn erpresst oder gezwungen, im ganzen nächsten Jahr nach seiner Pfeife zu tanzen.

»Oje. Wie schade für dich.« Dex zeigte mit dem Bleistift auf den Erfrischungstisch, wo Lauren mit Alex ins Gespräch vertieft dastand. Er trug ein knallgrünes Oberhemd zu dunkelgrünen Shorts.

»Wie unpassend«, bemerkte Addie.

»Ganz deiner Meinung. Sie ist eine wunderschöne blonde Göttin und er ein Kretin.«

»Ich meinte seinen Aufzug. Die Grüntöne beißen sich.«

Doch ihr war nicht entgangen, worauf Dexter anspielte. Alex und Lauren waren zusammen. So ein Reinfall.

»Mach dir nichts draus. Du hast dein Bestes getan.« Dex tätschelte ihr unbeholfen den Rücken. »Wie bei allen fehlgeschlagenen Experimenten obliegt es dem Wissenschaftler, die grundlegenden Fehler in seinen Theorien und Vorgehensweisen zu analysieren.«

»Hör mal auf von Fehlschlägen zu reden. Das nervt.« Sie rückte von ihm ab, sodass seine Hand von ihr abließ.

»Hm. Sieht aus, als wäre er noch nicht von der Schule verwiesen worden«, sagte Dex und wies auf Kris, der auf einer Leiter in der Ecke stand und eine der Laternen reparierte. Er trug Jeans und ein dunkelgrünes Academy-355-T-Shirt, das uneingeschränkte Sicht auf seinen Bizeps gewährte. Nichts zu machen, sie konnte das Lächeln nicht zurückhalten.

Kris kletterte von der Leiter, warf einem Kollegen (das vermutete Addie, weil der auch ein dunkelgrünes Academy-355-T-Shirt trug) von der Servicetruppe die kaputte Glühbirne zu und klappte die Leiter zusammen. Er trug sie zur Tür. Auf dem Weg kam er an Alex und Lauren vorbei, die das Gespräch abrupt unterbrach, um Kris ihre volle Aufmerksamkeit zu schenken.

Lauren schlang Kris einen Arm um den Hals und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Addie erlebte einen rasanten Anstieg ihres PEA, auch als Eifersucht bekannt, und ordnete das auch ganz richtig ein, dann konzentrierte sie sich auf die Bedeutung dieser Interaktion.

Sie tippte Dex auf die Schulter. »Schreib noch nichts fest. Guck dir Lauren jetzt an.«

Dex blinzelte. »Ohne Belang. Sie reden nur.«

»Warum wirft sie dann den Kopf zurück und lacht? Und warum genießt er den körperlichen Kontakt mit einem anderen Mädchen?« Addie machte eine Kopfbewegung Richtung Alex, der mit der Kapitänin der Hockeymannschaft beim Dirty Dancing war. »Guck. Ihre Hüften berühren sich. Mit Lauren hat er das nicht gemacht.«

Dex war sprachlos, besonders als Kris Lauren buchstäblich wegstoßen musste und auf den Ausgang zusteuerte. Lauren wackelte hinter ihm her, warf die Haare und brachte viele der Methoden, um Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, zum Einsatz, die in Addies Forschungsbericht aufgeführt waren.

»Faszinierend.« Addie nahm Dexters Klemmbrett und hielt die Abfolge von Interaktionen fest, inklusive der finalen in Form intensiven Lippenkontakts zwischen Alex und der Kapitänin der Hockeymannschaft.

Dex murmelte: »Nicht beweiskräftig.«

Sie gab ihm das Klemmbrett zurück. »Da hast du die Dokumentation meines Erfolges. Nichts zu danken.«

Die Musik wurde unterbrochen, das Tanzen hörte auf. Das Licht ging an, und Mr Foy trat ans Mikrofon, wo er eine kurze Rede darüber hielt, wie bereichernd es war, Austauschschüler auf dem Campus zu haben. Ehe er diese auf die Bühne bitten würde, um von ihren Erfahrungen zu berichten, wolle er allen Academy-Schülern ans Herz legen, sich ebenfalls für ein Austauschprogramm anzumelden, damit auch sie die Chance wahrnehmen konnten, andere Länder zu besuchen.

»Addie!«, zischte jemand. »Add…ieee!«

Tess stand mit Fiona auf der anderen Seite des Blumentopfes.

»Was ist?«

»Hast du Mindy gesehen?«

Komische Frage. »Nein. Warum?«

»Weil sie nicht da ist und Fiona glaubt, sie ist nach Harvard gefahren, zu David.«

Addie schlug sich gegen die Stirn. »Sie darf ihn nicht besuchen, wenn ihr Neurohormonspiegel sich wieder normalisieren soll.«

»Ja, ja.« Tess winkte ab. »Das ist unser geringstes Problem. Foy ruft die Austauschschüler gleich aufs Podium, und alle werden da sein, nur sie nicht. Er wird ausrasten.«

»Und wir müssen morgen früh um fünf am Flughafen sein«, ergänzte Fiona. »Ganz früher Flug.«

Tess sagte: »Du musst nach Harvard und sie suchen. Ich hole Ed, damit er dich hinfährt.«

»Warum ich?«, fragte Addie. »Warum nicht du?«

»Weil ich mit denen auf der Bühne bin! Und außerdem bist du doch meine Assistentin. Weißt du noch?«

Fiona sagte: »Du solltest Kris zum Übersetzen mitnehmen, weil ich nicht dabei sein kann.«

Addie stellte logistische Überlegungen an. Jetzt war es fast zehn. Wenn sie Kris überzeugen konnte, die Party zu verlassen, was allein schon eine Viertelstunde beanspruchen würde, brauchten sie vierzig Minuten, um nach Harvard zu kommen (eine halbe Stunde, wenn Ed im Kreis herumfuhr und nicht parken musste), fünfzehn Minuten, um Davids Wohnheim zu finden (wenn Fiona wusste, wo es war), und eine weitere halbe Stunde, um Mindy zu überzeugen, dass es das Beste wäre, von David abzulassen, und dann plus/minus vierzig Minuten, bis sie zurück auf dem Campus wären.

Was bedeutete, dass sie – abhängig davon, wie die Parksituation war – nicht vor ein Uhr nachts wieder in der Schule sein würden. Und das nur, wenn alles nach Plan lief. Wenn nicht, blieb ihnen ein Zeitfenster von vier Stunden, ehe Mindy am Flughafen sein musste.

Schon die Planung war ein Albtraum.

»Okay. Ich mach das unter einer Bedingung. Richtige Schuhe.« Sie hob die Stilettos. »Ich überleb das nicht, wenn ich auf glitzernden Zahnstochern quer über den Campus von Harvard laufen muss.«

»Schon gut, schon gut«, sagte Tess. »Aber beeil dich. Wenn du sie nicht rechtzeitig wieder herbringst, weiß ich nicht, wohin das führen wird. Mindy ist die Tochter eines Diplomaten. Wenn sie in Boston verschüttgeht, könnten wir in eine internationale Krise verwickelt werden.«

Und dieses Mal, fand Addie, war das keine von Tess’ maßlosen Übertreibungen.