I vys Stimme dringt durch die Küchentür, als ich aus dem Badezimmer komme. Mit dem Handtuch um den Körper geschlungen haste ich in den Flur, um frische Klamotten aus meinem Rucksack zu holen, die ich zurück im Bad schnell überstreife.
«Hey», sage ich, als ich kurz darauf in die Küche gehe. Wahrscheinlich hat Noah Ivy längst vorgewarnt, und sie wird nicht gleich in Ohnmacht fallen, wenn sie meine neue Frisur sieht. «Du hättest wirklich nicht so schnell herkommen müssen. Ist mit deinem Stiefvater alles in Ordnung? Tut mir leid, dass ich nicht zurückgerufen habe.»
Ivy erstarrt.
«Heilige Scheiße!», entfährt es ihr.
Okay, Noah hat sie nicht vorgewarnt. Mit dem Rücken lehnt er an der Küchentheke und stützt sich darauf mit den Händen ab. Als er Ivys entgeisterten Gesichtsausdruck sieht, zuckt es um seinen Mund. Ich wette, er hat es ihr mit Absicht nicht gesagt.
«Was … oh Gott, warum hast du das gemacht?» Ivy umarmt mich. Ihre Arme fühlen sich wie zu Hause an, aber dennoch versteife ich mich, weil ich jetzt nicht emotional werden will, gerade, wo ich das Gefühl habe, mich zu fangen, wieder mit geradem Rücken stehen zu können.
«Ich … ich habe …»
«Aubree hat eine Wette gegen mich verloren.» Noah sieht mir nicht in die Augen, stattdessen hebt er seine Kaffeetasse an den Mund und vertieft sich ganz darin.
Ich starre ihn wahrscheinlich ziemlich dämlich an, weil ich nicht kapiere, warum er das sagt. Er weiß doch gar nicht, was passiert ist und warum ich das getan habe. Ich schätze, er will mir helfen, das Gespräch über meine Beweggründe abzublocken. Aber vielleicht interpretiere ich auch einfach zu viel hinein, und er will bloß seine Stiefschwester ärgern.
«Du hast gerade mal eine Stunde mit meiner besten Freundin verbracht und sie in dieser Zeit dazu getrieben, sich die Haare abzurasieren?»
«Noah hat gar nichts …»
«Ich habe ein echtes Talent dafür, mein eigenes Leben und auch das anderer Leute zu zerstören», unterbricht er meinen Einwand. Sein Grinsen ist eine undefinierbare Mischung aus Provokation und Schmerz. «Das solltest du inzwischen wissen. Gib mir fünf Minuten und …» Er hebt eine Faust und spreizt die Finger zu einer Explosion.
Ivy beißt die Zähne zusammen. Aus irgendeinem Grund habe ich das Gefühl, dass sie wirklich wütend auf ihn ist, und das kann eigentlich nichts mit mir zu tun haben. Der Blick, mit dem sie ihn ansieht, verrät, dass da noch etwas anderes zwischen ihnen vorgefallen ist. Etwas, das sie mir noch nicht erzählt hat und das die beiden garantiert noch nicht geklärt haben.
«Das war echt kindisch», sagt sie. Nur um im nächsten Moment zu fragen: «Worum ging es in der Wette?»
Shit. Mir fällt nichts ein, und Ivys Blick geht mit erhobenen Augenbrauen zwischen Noah und mir hin und her. Um was? Um was, verdammt?
«Um die NBA », kommt es von Noah wie aus der Pistole geschossen. «Wir haben uns über die Top-Scorer unterhalten, und Aubree hat behauptet, Dirk Nowitzki wäre aus Polen. Aber er ist Deutscher.»
Ivys Augen weiten sich. «Du hast dir wegen Dirk Nowitzki die Haare abrasiert?»
Mir wird heiß. Obwohl die Frage an mich geht, stößt Noah ein gleichgültiges «Na und?» aus. «Das war der Einsatz. Ich bin froh, dass ich gewonnen habe. Bei mir würde das echt scheiße aussehen. Ich habe hier eine Narbe», er fasst sich an den Hinterkopf, «die ich dann jedem erklären müsste.»
Ivy bläst sich den Pony aus der Stirn, dann dreht sie sich zu mir um und hebt unschlüssig die Hände. «Das ist so … wow. Darf ich deinen Kopf anfassen? Es sieht echt krass aus.» Als ich nicke, legt sie beide Hände auf meine Stirn und streicht darüber bis in meinen Nacken, dann beugt sie sich vor und drückt mir einen Kuss auf meine Schläfe. «Also wenn es jemandem steht, dann dir. Du siehst sowieso immer aus wie ein Promi, der sich hinter seiner Sonnenbrille versteckt, um nur kurz einen Kaffee bei Starbucks zu holen. Und jetzt hast du eben eine Rolle bekommen wie Natalie Portman in V for Vendetta
Obwohl sie einen Scherz macht, merke ich, wie angespannt sie ist. Ihr ist anzusehen, dass ihr noch eine Million Fragen auf der Zunge liegen, und so leicht wird sie sich nicht zufriedengeben. Ich schlucke, nicht nur deswegen, sondern auch weil der Vergleich mit Natalie Portman genau das ist, was ich vermeiden will. Auf keinen Fall soll mich jemand mit meiner Mom und ihrem Filmbusiness in Verbindung bringen.
«Fuck», sagt Noah. «Wir hätten Vorher-Nachher-Fotos machen sollen. Das wäre eine megacoole Story geworden.» Er holt sein Handy heraus und scrollt darauf herum, bevor er uns wieder ansieht und das Smartphone hochhält. «Lächeln!»
«Nein», rufe ich panisch aus, hebe reflexartig beide Arme vor mein Gesicht und drehe mich weg.
Ivy sagt schnell: «Auf keinen Fall! Das kannst du so was von vergessen.» Sie schiebt sich vor mich, um mich abzuschirmen.
«Okay, bleibt locker. Ich habe kein Foto gemacht.»
Ich halte immer noch beide Hände oben und kann mein Zittern nur mühsam unterdrücken. Erst als ich um Ivy herumgucke und sehe, wie Noah sein Handy sinken lässt, traue ich mich, meine Hände runterzunehmen, und schlinge mir die Arme um den Oberkörper. Plötzlich ist mir eiskalt.
Noah betrachtet mich aufmerksam. «Ist eh nur halb so spannend ohne das Vorher-Bild», murmelt er. Er stößt sich seufzend vom Schrank ab und schiebt das Telefon zurück in seine Hosentasche. «Ich schau mir mal die Tür an und gucke, was da noch zu retten ist.» Er drängt sich vorsichtig an mir vorbei und verlässt die Küche.
Ivy gießt Kaffee in zwei Tassen und reicht mir eine davon. «Ich liebe Noah wirklich, aber er ist so ein Idiot, ich hätte mir denken können, dass er es verbockt. Ich meine, er hat die verdammte Tür eingetreten!» Sie schüttelt den Kopf.
In Ivys winziger Küche ist kein Platz für einen Tisch, aber jetzt, da ihr Bruder rausgegangen ist, kommt mir der Raum gleich viel größer vor. «Er wollte mir nur helfen. Ich weiß nicht, was du ihm erzählt hast, aber er hat wohl Angst gehabt, ich könnte mir etwas antun. Oder er hatte Angst, du könntest ihm etwas antun, wenn er nicht auf mich aufpasst.» Mein Lächeln gerät zu einer Grimasse.
«Da liegt er gar nicht so falsch.» Ihr Ausdruck wird ernst. «Und jetzt sag mir, was los ist. Nie im Leben hast du mit Noah gewettet. Du hast Nowitzki schon selbst Dunking Deutschman genannt, ich weiß genau, dass Noah gelogen hat.» Sie stellt ihre Tasse ab, und ihr Gesicht verzieht sich vor Mitleid. «Ich konnte Ginnifer nicht erreichen, aber ich habe heute Morgen mit Taylor telefoniert. Er hat gesagt, dass Strout dich rausgeworfen hat. Ist das wahr?»
Sofort schießen mir die Tränen in die Augen. Noch bevor ich etwas sagen kann, gibt Ivy einen gequälten Laut von sich und schließt ihre Arme um meinen Oberkörper. Sie hält mich fest, während ich an ihrer Schulter losheule und nur hoffe, dass Noah nicht zurückkommt und das mitbekommt.
«Er hat mich das zweite Mal abgemahnt», sage ich unter Schluchzern. «Jetzt bin ich raus.»
«Aber wieso? Ich verstehe das nicht. Taylor hat behauptet, er wüsste nicht, was vorgefallen ist, aber er war am Telefon so seltsam. Was ist denn passiert?» Langsam streicht sie mir über den Rücken. Aber das beruhigt mich kein bisschen, es sorgt nur dafür, dass ich mich noch schlechter fühle, weil ich ihr das mit den K.-o.-Tropfen nicht sagen kann, nicht sagen will. Weil ich mich so schuldig fühle und gleichzeitig noch einmal mehr wie ein hilfloses Opfer.
Aber Ivy ist meine beste Freundin, wir hatten noch nie Geheimnisse voreinander. Keine wichtigen jedenfalls. Außerdem würde ich ihr mein Leben anvertrauen. In den letzten Jahren haben wir so viel miteinander geteilt, dass wir uns näher stehen als Schwestern. Mit meiner kleinen Schwester May werde ich nie diese Gespräche führen können, allein schon wegen des Altersunterschieds. Und ich liebe Ivy.
Ich versuche mich zu sammeln. Konzentriere mich ganz auf ihre vertraute Stimme und die Bewegung ihrer Hand, die Kreise auf meinem Rücken zieht, und dann räuspere ich mich. «Vor ein paar Tagen … auf dieser Party ist etwas passiert, Ivy.» Ich merke, wie sie sich versteift. Vermutlich ist ihre Angst vor dem, was ich sagen könnte, genauso groß wie meine Angst, es auszusprechen. «Jemand hat ein Foto von mir gemacht.»
«Was für ein Foto?» Sie presst die Frage mühsam heraus. «Oh Gott, Aubree, bitte sag mir, dass es nicht das ist, was ich denke. Hat jemand … oh Gott, hat dir jemand weh getan?»
«Nein», sage ich schnell, wahrscheinlich zu schnell. «Niemand hat mir weh getan. Mit mir ist eigentlich alles okay.» Wieso sage ich das? Nichts ist okay mit mir! «Jemand hat … ich habe …» Verdammt, warum ist das so schwer? «Es existiert ein Foto von mir, auf dem ich halb nackt bin. Es wurde auf Instagram hochgeladen.»
Mehrere Sekunden kann ich Ivy nur atmen hören.
«Nein.» Sie presst ihr Gesicht an meinen Hals und sagt es erneut. «Nein.» Es kostet sie sichtlich Mühe, ihre Gefühle zurückzuhalten. «Und du behauptest, es wäre alles okay? Du würdest doch niemals …» Sie hebt den Kopf und schaut mir direkt in die Augen. «Wer hat dir das angetan? Wie ist das passiert? Ich dachte, du bist mit Ginnifer auf dieser Party gewesen.»
«Ja, das war ich auch.» Meine Gedanken rasen. Wenn ich Ivy sage, dass man mich mit K.-o.-Tropfen gefügig gemacht hat, wird sie völlig geschockt sein. Und sie wird die Sache garantiert nicht auf sich beruhen lassen, weil ich das im umgekehrten Fall auch nicht tun würde. Ich würde sie auch mit allem, was mir möglich ist, verteidigen und versuchen, sie zu beschützen. Ich würde alles daransetzen, dass dieses Arschloch bestraft wird und vor allem, dass er so was nie wieder tun kann. Aber wenn sie mich dazu bringt, zur Polizei zu gehen, dann erfährt es auch meine Mom und irgendwann auch die Presse. Ich kann mir schon vorstellen, was die Medien daraus machen. Jeder würde mich nur noch als Opfer sehen. Bisher bin ich einfach eine Schlampe und das auch nur im Umfeld des Colleges. Doch sobald das alles rauskommt, wird meine Mom sich Vorwürfe machen, dass sie mich nicht genug geschützt hat und dass ihr Job mich erst so angreifbar macht. Sie hat immer alles darangesetzt, dass wir normal aufwachsen. Es gab nie großen Luxus in unserem Haus, ich musste mir mein Geld selbst erarbeiten, und Mom hat May und mich auch nie öffentlich gezeigt. Gegen jedes Foto, das irgendein Paparazzo von uns geschossen hat, ist sie mit einer gerichtlichen Verfügung vorgegangen, bis die Medien es gelernt und akzeptiert hatten. Aber dieses Bild … es wird alles verändern.
Sie werden unsere Familie auseinandernehmen. Es könnte meiner Mom schaden. Es könnte May schaden. Man würde sie in der Schule darauf ansprechen, sie vielleicht deswegen mobben. Es würde alles schlimmer machen, selbst wenn jeder wüsste, dass ich das Opfer bin.
Die Art und Weise, wie Frauen verurteilt werden, ändert sich nicht, wenn man das Opfer ist. Jedes Detail würde analysiert werden. Was ich getragen habe, wie ich getanzt habe, mit wie vielen Männern ich vorher zusammen war. Am Ende werden sie sagen, dass ich selbst schuld bin, weil ich einen kurzen Rock anhatte, dass ich damit hätte rechnen müssen, weil ich aufreizend getanzt habe und weil diese Art von Verbindungspartys doch dafür bekannt sind. Ich werde immer noch schuld sein. Nur, dass ich dann zusätzlich noch ein Opfer bin. Aber ich will kein Opfer sein, und Ivy soll mich auch nicht so sehen. Ich will kein Mitleid, sondern einfach nur nach vorne schauen. Wie Noah schon gesagt hat:
Manchmal kann man nichts machen, außer weiter.
Und diesen Satz von ihm werde ich gleich noch in mein Journal malen, damit ich ihn nie wieder vergesse.
«Ich hatte auf der Party wohl zu viel getrunken und Ginnifer dann aus den Augen verloren. Und auch die Kontrolle. Ich habe einfach die Kontrolle verloren.» Ich sehe Ivy nicht in die Augen. Meine Stimme klingt zu monoton. Es ist die Stimme, die ich beim Synchronsprechen benutze, um eine Lüge anzudeuten. Dabei ist ein Teil davon nicht mal gelogen. Ich habe die Kontrolle über mein Leben verloren. Dennoch schwingt so viel Falsches in diesen Worten mit. Ob man mir wirklich K.-o.-Tropfen gegeben hat, weiß ich nicht sicher, bisher ist es nur eine Vermutung. Aber selbst wenn ich nur zu viel getrunken hätte, wäre das kein einvernehmliches Erlebnis zwischen zwei erwachsenen Menschen gewesen. Allein bei der Vorstellung wird mir schlecht, und ich schiebe die Tüte mit den Donuts, die auf der Theke liegt, von mir weg.
«Aber das ist ein Verbrechen, Ivy! Wer auch immer dieses Foto von dir gemacht hat, der hat gegen das Gesetz verstoßen. Alkohol hin oder her. Du hast dich doch nicht selbst fotografiert und es hochgeladen.»
«Aber ich weiß nicht, wer mich ausgezogen hat oder wer das Foto gemacht hat. Ich weiß nicht, wer das war, okay?» Vor Wut über diese Situation und meine Hilflosigkeit treten mir erneut die Tränen in die Augen, und Ivy bemerkt es sofort, presst die Lippen zusammen und hält mich für eine Weile wortlos fest.
«Es tut mir so leid, Aubree. Es tut mir so unendlich leid. Ich wünschte, ich wäre bei dir gewesen. Was willst du jetzt tun?»
«Am liebsten will ich nie wieder dorthin zurück.» Das ist mein voller Ernst. Am liebsten möchte ich hier bei ihr bleiben und alles andere verdrängen. Es so lange verdrängen, bis es nicht mehr weh tut. Aber das funktioniert nicht.
«Haben wir eine Chance herauszufinden, wer das Foto hochgeladen hat? Das muss doch technisch möglich sein. Was hat deine Mom gesagt?»
Ich drehe meinen Kopf zur Seite und weiche ihrem Blick aus. «Ich habe noch nicht mit ihr gesprochen. Bitte sag ihr nichts davon. Sie wird sich bestimmt Vorwürfe machen.»
«Aber sie hat ganz sicher einen Anwalt, der uns raten kann, was zu tun ist. Du solltest wirklich mit ihr reden. Ich kann verstehen, dass dir das schwerfällt. Wir könnten gemeinsam mit ihr sprechen, wenn du willst. Das ist alles so ekelhaft. Aber deine Mom kann bestimmt dafür sorgen, dass dieses Foto für immer verschwindet.»
«Es wurde bereits gelöscht.»
«Aber irgendjemand hat das bestimmt gescreenshottet. Wir müssen verhindern, dass es noch mal irgendwo auftaucht. Und dieser Arsch muss zur Rechenschaft gezogen werden.»
«Du hast recht, aber … Wegen meiner Mom … ich muss darüber nachdenken. Ich kann das noch nicht, Ivy. Ich brauche eine Pause. Bitte, ich will nicht weiter darüber reden.»
Für einen Moment sieht sie aus, als würde sie mir widersprechen. Sie öffnet den Mund und schließt ihn wieder. Dann sagt sie «Okay» und atmet geräuschvoll aus. «Aber was hast du jetzt vor? Willst du nicht versuchen, etwas gegen diese Abmahnung zu unternehmen? Strout kann dich doch nicht einfach so rauswerfen. Du hast nichts falsch gemacht.»
«Leider kann er das doch. Denn das war ja nicht mein einziges angebliches Vergehen.» Ich erinnere sie an das Fiasko mit dem Anime-Porno und ziehe eine Grimasse. «Ist es okay, wenn ich dir hier eine Zeitlang auf die Nerven falle?»
«Du fällst mir nicht auf die Nerven.» Sie wirft mir einen beinahe bösen Blick zu. «Ich bin froh, wenn du bei mir bist.»
«Aber wenn Asher dich besucht …»
«Macht das auch keinen Unterschied», unterbricht sie mich. «Außerdem ist Asher sowieso die meiste Zeit in Manchester oder auf der Insel. Jetzt wo sein Vater aus der Reha zurück ist, fährt er möglichst oft nach Hause.»
«Wie geht es deinem Stiefvater denn?» Ich weiß, dass Ivys Familie ein Anwesen auf einer Privatinsel in Portsmouth hat und ihr Stiefvater erst vor wenigen Wochen operiert worden ist, weil er einen Gehirntumor hatte. Und dass es in der Familie immer noch Schwierigkeiten gibt. Ivys Mutter war früher mit Ashers Vater verheiratet, und es war ein ziemlicher Schock für Richard Blakely, als er erfahren hat, dass sein ältester Sohn sich in seine Stieftochter verliebt hat. Und zu Noah hatte er wohl schon seit Jahren ein schwieriges Verhältnis. «Habt ihr immer noch vor, diese Familientherapie zu machen?»
«Ja, aber erst, wenn er wieder fit ist. Im Augenblick kämpft Dad noch ziemlich mit seinem Alltag. Er verliert manchmal die Orientierung und hat Erinnerungslücken. Er braucht einfach noch etwas Zeit.»
«Das tut mir leid.»
«Seine behandelnde Ärztin hat gesagt, dass sich das bessern wird. Er ist manchmal ungeduldig, aber hauptsächlich mit sich selbst. Ich glaube auch, dass diese Familientherapie wichtig für ihn ist. Nur Noah stellt sich total quer. Nachdem er sich an der Uni eingeschrieben hat, war ich mir sicher, dass sich ihr Verhältnis entspannt. Aber anstatt auf seinen Vater zuzugehen, blockt Noah alles total ab. Ich weiß nicht, was zwischen den beiden vorgefallen ist, aber ihm scheint inzwischen so ziemlich scheißegal zu sein, was mit seinem Dad ist.»
«Bist du deshalb so sauer auf ihn?»
«Ich bin nicht sauer auf ihn.»
Jetzt muss ich lächeln. «Dann hoffe ich nur, du bist niemals so nicht-sauer auf mich wie jetzt auf ihn.»
Ivy versteckt ihr Grinsen hinter ihrer Tasse, doch es verschwindet zu schnell wieder. «Du bleibst auf jeden Fall hier. Ich werde einkaufen, den Kühlschrank füllen, dann musst du gar nicht raus, wenn du nicht willst, und wir können nachher zusammen The Age of Adaline gucken. Das Sofa im Wohnzimmer ist leider noch von meinem Vormieter und höllisch unbequem, aber wir besorgen dir ein neues Bett.»
«Ich brauche kein neues Bett. Ein altes, höllisch unbequemes Sofa ist genau das, was mir jetzt am liebsten ist. Und ich will nicht, dass du wegen mir deinen Stiefvater im Stich lässt.»
«Ich werde dich jetzt nicht hier allein lassen.»
Ich drücke sie an mich. «Danke. Aber ich bin wirklich froh, wenn ich ein paar Tage allein sein kann. Ehrlich. Dann habe ich Zeit, über alles nachzudenken.»
Sie sieht nicht begeistert aus, kann aber nichts mehr dazu sagen, weil ihr Stiefbruder wieder hereinkommt. Für eine Sekunde scannt er unsicher mein Gesicht ab, dann quetscht er sich an uns vorbei. «Diese verfickte Tür.» Zielstrebig greift er nach der Donuttüte. «Ich hoffe, ihr habt mir was übrig gelassen.»
«Was ist mit der Tür?», fragt Ivy. «Kann man sie nicht reparieren?»
«Wir müssen das der Verwaltung melden. Das Schloss ist der letzte Dreck, da ist nichts mehr zu machen.» Er lehnt sich wieder gegen die Arbeitsfläche. «Ich hatte noch einen alten Riegel, den habe ich jetzt provisorisch drangeschraubt, aber man kann die Tür damit nur noch von innen verschließen.» Er richtet sich auf. Mit einer Geste fordert er uns auf, ihm zu folgen, und beißt im Gehen in seinen Donut.
«Shit», sagt Ivy, als wir uns das Provisorium ansehen. «Aubree kann doch nicht nur mit diesem winzigen Riegel an der Tür hier schlafen.»
«Das ist Eisen. Den kriegt niemand durch, da müsste man schon zufällig mit einer Metallsäge vorbeikommen.» Er stopft sich den letzten Bissen seines Donuts in den Mund und wischt die Finger an seinen Jeans ab.
Mir wird ganz mulmig, als ich das Schloss betrachte. Okay, Noah hat es hingekriegt, dass man die Tür mit einem kleinen Vorhängeschloss zusperren kann, aber das sieht alles andere als vertrauenerweckend aus. Und was mache ich, wenn ich die Wohnung mal verlassen muss? Meine Finger drücken gegen das Türblatt. Das Schloss hält zwar, aber mit etwas Druck entsteht ein Spalt zwischen Tür und Rahmen, durch den man ein Werkzeug quetschen könnte, wenn man es drauf anlegt. «Reicht da nicht ein Bolzenschneider, um das Schloss durchzukneifen?», frage ich.
Noah fasst sich nachdenklich an den Hinterkopf und schiebt dann beide Hände in die Hosentaschen. «Wer sollte hier reinwollen? Das ist Kings Hall und nicht eines von den runtergekommenen Wohnheimen. Außerdem ist es jetzt sicherer als vorher. Man kann die Tür nämlich nicht mehr so einfach eintreten.»
Ivy rüttelt testweise an der Tür. «Also ich würde in der Nacht kein Auge zumachen nur mit diesem Ding. Mag ja sein, dass es sicherer ist als das alte Schloss, aber man kann reingucken. Aubree, willst du wirklich hier schlafen? Du kannst ja nicht mal dein Zeug hierlassen, wenn du die Wohnung verlässt. Du könntest auch mit mir auf die Insel kommen. Das wäre doch das Beste. Mein Stiefvater hat ganz bestimmt nichts dagegen.»
Und einem fremden kranken Mann auf der Tasche liegen? Unschlüssig runzle ich dir Stirn.
«Ich besorge einen zweiten Riegel», sagt Noah schnell. «Einen für außen.»
Ich weiß nicht, ob mich das erleichtert. Es tut mir leid, dass Noah wegen mir jetzt so einen Ärger hat. Er hat sich nur Sorgen gemacht und muss sich deswegen jetzt um diese dämliche Tür kümmern. Vielleicht hat er überreagiert, aber dass ich ihn vorher einfach ignoriert habe, war auch keine Glanzleistung. Ich räuspere mich.
«Das wird schon irgendwie gehen. Ist ja nicht für lang, oder?» Mein Lachen klingt hohl und unsicher. Wieder eine Lüge, die ich nicht verbergen kann. Die Vorstellung, hier mit nicht mehr als einem winzigen Vorhängeschloss zu schlafen, schnürt mir jetzt schon die Kehle zu, aber ich verdränge jeden weiteren Gedanken daran. Niemand weiß, dass ich hier bin. Niemand wird mich unangemeldet besuchen oder versuchen, hier gewaltsam einzudringen. Das ist absolut unwahrscheinlich. Niemand wird mich je wieder anfassen, wenn ich es nicht will. Niemand …
Okay, ich kann die Gedanken nicht verdrängen.
Ich schlucke die aufkommende Panik herunter. Nur ein paar Nächte, rede ich mir ein. Nur, bis die Verwaltung jemanden schickt, der das Schloss repariert. Ich werde es überleben. Ich muss. Unauffällig reibe ich mir über die Oberarme, um mich zu wärmen, und fange Noahs Blick auf, der mich wohl schon eine ganze Weile beobachtet.
«Fuck», sagt er und kaut sichtbar an einem Gedanken herum. «Ach, scheiß drauf. Wir tauschen. Du schläfst in meinem Zimmer, so lange, bis das neue Schloss eingebaut ist.»