N
oah hat absolut recht gehabt. Dieses Bett ist das Beste, was mir passieren konnte. Dieses Bett und Grover, den ich in der Nacht fest umschlungen hatte und der von mir durchweicht wurde. Ich habe die halbe Nacht geheult und dann einen saublöden Fehler gemacht. Mit voller Wucht habe ich mein Smartphone gegen die Wand geworfen. Das war absolut unnötig und total dämlich, denn ich hätte auch einfach nur die SIM
-Karte wegwerfen können, um diesen Nachrichten zu entgehen.
Als mir das bewusst wurde, war ich nur noch wütender auf mich selbst, habe nach einem harten Gegenstand gesucht und in Noahs Regal einen Pokal gefunden. Darunter ist eine Art Marmorsockel geschraubt, der massiv und ziemlich schwer ist. Damit habe ich mein Telefon dann endgültig zertrümmert. Irgendwann hat von unten jemand wegen des Lärms gegen die Decke gehämmert, und ich bin erschöpft aufs Bett gefallen und endlich eingeschlafen. Blöderweise brauche ich nun nicht nur einen neuen Kartenvertrag, sondern gleich auch noch ein neues Gerät.
Seufzend rolle ich mich auf die Seite und strample das dünne Laken von mir weg. In der Nacht habe ich unglaublich geschwitzt.
Wenn ich weine, schwitze ich immer wie verrückt. Und jetzt klebt das weiße Shirt, das ich zum Schlafen angezogen hatte, am Halsausschnitt und fühlt sich klamm an. Mit einer Hand streiche ich mir über den Nacken und dann zu meinem Hinterkopf. Oh mein Gott! Der Schock kommt sofort und unmittelbar, als ich die kurzen Stoppeln berühre. Ich hatte es vergessen. Für einen Moment hatte ich tatsächlich völlig vergessen, was ich gestern mit meinen Haaren angestellt habe, und direkt bildet sich eine Gänsehaut auf meinen Armen. Schnell ziehe ich meine Hand weg. Vielleicht sollte ich Noahs Spiegel im Badezimmer mit einem Handtuch verhängen. Ich glaube, ich kriege einen Herzanfall, wenn ich mich jetzt so sehe.
Als hätte ich nicht genug Probleme, denke ich jetzt auch noch an die achthundert Dollar auf meinem Konto. Das ist alles, was ich habe, und damit werde ich eine ganze Weile auskommen müssen. Im Augenblick sieht es nicht so aus, als bekäme ich bald neue Aufträge. Wenn überhaupt, kann ich mir also nur ein gebrauchtes
neues Smartphone leisten. Vielleicht hätte ich doch besser bis Donnerstag warten und Dr. Wards Angebot annehmen sollen. Aber nun ist es zu spät. Im Grunde hätte ich mir den Drogentest auch sparen können. Würde der Nachweis von einem Betäubungsmittel irgendwas an meiner Situation ändern? Nein. Ich bin immer noch vom College geflogen und habe meine Mutter angelogen. Ob nun K.-o.-Tropfen daran schuld sind oder nicht, spielt eigentlich keine Rolle.
Ein Klopfen an der Tür reißt mich aus meinen Gedanken.
Noah?
Vielleicht braucht er etwas aus seinem Zimmer, schießt es mir durch den Kopf.
Oh verdammt, ich bin noch nicht einmal angezogen. «Moment!»,
rufe ich panisch und springe aus dem Bett. Fahrig renne ich durch das Zimmer, aber das Klopfen steigert sich zu einem steten Hämmern, das die Tür vibrieren lässt. «Ich komme ja schon.» Oh Gott, er wird doch nicht schon wieder durchdrehen und die Tür eintreten, oder? Ich reiße meine Jeans vom Stuhl, aber das nächste Rumsen gegen die Tür lässt mich so sehr zusammenzucken, dass ich sie gleich wieder fallen lasse. «Hör auf damit!» Ich hechte zur Tür, bevor sie nachgibt, und drehe den Schlüssel um. Im selben Moment, in dem die Tür nach innen gedrückt wird, erkenne ich meinen Fehler. Dunkelbraune Lederjacke, Sonnenbrille und ein mehr als breites Grinsen in einem olivbraunen Gesicht.
Das ist nicht Noah.
Ich stoße ein überraschtes Keuchen aus und will die Tür wieder zuschlagen, doch da ist ein Widerstand. Ein Schuh, der zwischen Tür und Rahmen eingeklemmt ist, und mich daran hindert, die Tür wieder zuzudrücken.
«Vergiss es, Junge.»
«Hau ab!» Mit aller Kraft drücke ich gegen die Tür, merke aber gleich, dass ich gegen die Kraft des Fremden nichts ausrichten kann. Zentimeter für Zentimeter öffnet sich die Tür, egal wie sehr ich mich dagegenstemme. Er ist einfach zu stark. Er schiebt mich nach hinten, als wäre ich ein Kleinkind, und vor Wut und Angst schießen mir die Tränen in die Augen. Ich lasse los, und mit einem Satz bin ich am Schreibtisch und reiße Noahs Pokal an mich. Mit meiner stärksten Ego-Shooter-Stimme drohe ich: «Wenn du auch nur einen Schritt näher kommst, schlage ich dir den Schädel ein!»
Belustigt schiebt der Typ seine Sonnenbrille nach unten. Er ist jünger, als ich dachte, aber definitiv ein paar Jahre älter als Noah. An
seinem Hals ziehen sich schwarze tätowierte Sterne nach oben bis unter sein linkes Ohr. «Okay, mein Fehler. Du bist wohl doch kein Junge. Aber das ist noch lange kein Grund, so feindselig zu sein, Bitsy.»
Ich zittere am ganzen Körper und umklammere den Pokal. Bereit, das Teil jede Sekunde in dieses breit grinsende Gesicht zu werfen. «Was willst du?»
«Noah weiß, dass ich heute komme. Ich bin Joaquin.» Er spricht seinen Namen Wa-Keen aus.
«Noah ist nicht da.»
«Wo ist der Penner, versteckt er sich auf dem Klo?» Er macht einen Schritt nach vorne, um nachzusehen, aber ich stelle mich ihm in den Weg.
«Stopp!» Ich kann das. Einfach klare Ansagen machen. «Ich sage es dir noch einmal: Noah ist nicht hier, also verschwinde. Wenn du irgendwas von ihm willst, rufe ihn verdammt noch mal auf seinem Handy an, wie das jeder normale Mensch tun würde. Ich will, dass du jetzt gehst.»
«Wird sicherlich nicht lang dauern, bis er wiederkommt. Ich warte einfach auf ihn.»
«Nein, das wirst du garantiert nicht.»
«Übertreibst du jetzt nicht ein bisschen? Ich tu dir schon nichts, Bitsy. Das ist schließlich sein Zimmer. Ich setze mich einfach hier hin und warte auf meinen Kumpel.»
Ich übertreibe??? «Du bist gerade hier eingebrochen, Arschloch!» Ich bin unglaublich wütend. Und verzweifelt. Und ich habe Angst. Der Typ hat einen Nacken, breiter als mein Oberschenkel. Er sieht aus wie ein Bison.
«Du hast mir die Tür aufgemacht», sagt er ungerührt.
Mein Blut pocht so schnell in meinem Hals, dass ich kaum Luft bekomme und nur mit Mühe sprechen kann. «Ich habe dich nicht reingebeten, also verschwinde. Ich habe nein gesagt, okay? Nein!» Mir schießen Tränen in die Augen. In meinem Kopf explodieren auf einmal tausend Bilder. Das Bier, die Party, der Moment, in dem ich aufgewacht bin und nicht wusste, was passiert ist. Die Übelkeit, der Schwindel. Dann das Foto, das plötzlich überall aufgetaucht ist, meine Nacktheit, der Ekel vor diesen Händen, vor mir selbst. Meine Schuld, meine Schuld, meine Schuld. «Nein!», schreie ich ihn aus voller Kehle an. «Nein!»
Der Kerl weicht vor mir zurück, aber ich schreie immer lauter. «Nur weil das Noahs Zimmer ist, hast du nicht das Recht, hier einfach reinzukommen. Ich will nicht, das du hier bist. Ich will allein sein. Ich will nicht, dass mich jemand anfasst, ist das klar?! Ich habe nein gesagt!» Laute Schluchzer dringen aus meinem Mund, und sie klingen so verzweifelt, dass ich mich selbst davor erschrecke.
«Werd nicht gleich hysterisch, okay? Ich geh ja schon, wenn das für dich so ein Drama ist.»
Drohend gehe ich auf ihn zu. «Ich bin nicht hysterisch! Ich entscheide, was ich will! Und ich will! Das! Nicht! Ich will, dass du verschwindest!»
Er macht mehrere Schritte zurück.
«RAUS
!», schleudere ich ihm entgegen. Und als er endlich draußen ist, werfe ich die Tür zu. Nur mit Mühe schaffe ich es, den Schlüssel zweimal umzudrehen, bevor ich schluchzend und völlig am Ende dagegensacke.
«Aubree?»
«Ja?» Ich zittere immer noch am ganzen Körper, als Noahs Stimme irgendwann durch die Tür dringt.
«Ich bin’s, Noah.»
Als ob ich das nicht wüsste, seine Stimme fährt mir schließlich sofort in die Eingeweide – Jamie Cullum lässt grüßen.
Ich habe mich in das dünne Laken eingewickelt und lehne immer noch an der Tür, als könnte ich sie so bewachen.
«Mach die Tür auf.» Er sagt es sanft, fast murmelnd.
Ich hasse es, dass ich bei diesem Tonfall sofort ja sagen möchte. «Nein», kommt es deshalb wie ein Peitschenknall aus mir heraus.
«Okay.» Noah seufzt. «Es ist nur so, dass ich ganz dringend meinen Helm brauche. Er ist im Schrank, rechte Tür.»
Es dauert eine ganze Weile, bis die Worte in meinem Gehirn einen Sinn ergeben. Ich räuspere mich. «Was für einen Helm?»
«Meinen Reithelm. Ich hab ihn vergessen, und mein Training fängt in einer halben Stunde an. Er ist schwarz und hat einen Kinngurt. Du kannst ihn nicht übersehen.»
«Okay, warte.» Ich rappele mich auf, wickele das Laken enger um mich und halte es fest, weil es herunterzurutschen droht. Barfuß tapse ich zu Noahs Kleiderschrank und ziehe die rechte Tür auf. Meine Kehle ist ganz trocken, und durch das Schreien bin ich jetzt heiser. Der letzte Regisseur, mit dem ich gearbeitet habe, hätte meinen Schrei eben ganz sicher Intensitätsstufe drei zugeordnet. So schreit man nur, wenn neben der Figur, die man synchronisiert, gerade eine Bombe einschlägt. So schreit man nur einmal.
Ich stöhne auf. Helm, Helm, wo ist der Helm?
Mit fahrigen Händen schiebe einen Stapel Pullover beiseite und werfe einen Blick dahinter. Kein Helm. Ich bücke mich und hebe ein paar Jeans an. Da sind Sportklamotten und so was wie eine Weste. Alles sauber, aber nicht sehr ordentlich gefaltet. Erst im vorletzten Fach finde ganz hinten einen harten, mit schwarzem Samt bezogenen Helm. «Ich habe ihn, Moment», krächze ich. Mit wackeligen Knien stolpere ich zurück zur Tür und lege die Hand an den Schlüssel. Einatmen. Ausatmen.
Ich drehe den Schlüssel um, einmal, zweimal. Dann drücke ich die Klinke nach unten und schiebe die Tür nur so weit auf, dass ich den Helm hindurchquetschen kann. Ich schaue nicht auf. Das Gewicht in meiner Hand verschwindet, und ich schlage die Tür zu. Ratsch, ratsch, verriegelt. Erschöpft lehne ich meine Stirn gegen das Holz und warte, lausche auf die Schritte, die sich jetzt entfernen sollten, es aber nicht tun.
«Du bist noch da», flüstere ich so leise, dass er das eigentlich nicht hören kann.
«Jep.»
«Warum?»
Er seufzt leise. «Ich möchte mit dir darüber reden, was da eben passiert ist.»
«Es ist nichts passiert. Mir geht es gut. Du musst dir keine Sorgen machen.» Das hast du sowieso schon zu viel getan.
«Verdammt, Joaquin sagt, du hattest so was wie einen Nervenzusammenbruch.»
«Tut mir leid, dass ich dich da schon wieder reinziehe. Es ist echt alles in Ordnung. Ich … dein Kumpel war nur ein totaler Arsch.»
«Das habe ich ihm auch schon klargemacht, glaub mir. Es tut ihm leid. Ich soll dir ausrichten, er hat in seinem ganzen Leben noch nie solche Angst vor einer Frau gehabt.»
«Das hat er nicht gesagt.»
«Doch, hat er. Quin will dich in seinem Ring haben.» An Noahs Stimme kann ich hören, dass er nun grinst.
«Was meint er damit?»
«Dass du zu ihm in den Boxclub kommen sollst.»
Sehr witzig. «Sag ihm einen schönen Gruß, das kann er vergessen.»
«Tja», sagt Noah. «Er meint, du wärst ein Tier, hättest aber nur Pudding in den Armen, und daran solltest du dringend was ändern. Ich denke, er liegt da falsch. Du hast gar keinen Pudding in den Armen.»
«Ach nein?»
«Nope. Es ist noch schlimmer. Du hast Arme wie Grover.» Jetzt lacht er leise.
«Ihr könnt mich beide mal.»
«Ist angekommen.» Noah seufzt. «Lass mich rein, Aubree. Es ist total scheiße, durch die Tür mit dir zu reden.»
«Dann geh doch. Du musst sowieso zu deinem Training.»
«Nein, muss ich nicht.»
«Dafür brauchst du doch den verdammten Helm, oder nicht?»
«Ich hab gelogen. Kann ich gut, hast du doch gestern Morgen bei Ivy gemerkt.»
Nur dass Ivy ihm kein Wort geglaubt hat.
Noah redet schon weiter. «Ich meine, hast du dir den verfickten Helm mal angeguckt? Er hat verdammt noch mal einen Samtbezug.
Sehe ich aus, als ob ich so einen tragen würde? Den hat mein Dad gekauft, der ist nur was für Pussys.»
«Was für einen benutzt du denn sonst?»
«Ich hab einen khakifarbenen. Vollplastik und superunbequem. Dafür sieht er männlich aus. Mit dem habe ich mich schon mehrmals hingelatzt, und mein Schädel ist immer noch ganz.»
Ich muss lächeln, ich kann nichts dagegen tun. Meine Finger liegen auf dem Schlüssel, und dann, ohne weiter zu überlegen, schließe ich die Tür wieder auf. «Du solltest vielleicht mal deine Vorurteile überdenken», sage ich. «Denn für mich hört sich das so an, als wäre dein Hirn in diesem Männerhelm schon ganz schön in Mitleidenschaft gezogen worden.»
Noah kommt rein und legt den Helm auf seinem Schreibtisch ab, bevor er sich zu mir umdreht. Er trägt wieder abgewetzte Jeans und das typische schlichte graue Shirt. Diesmal mit dem grünen Dartmouth-Equestrian-Aufdruck. Ich mag Grau. Außerdem finde ich, dass es gut zu seinen grünen Augen passt. Aber ich hasse es, dass er mich mit diesen grünen Augen so anguckt, als würde er sich Sorgen machen. Wir kennen uns doch gar nicht. Er sollte sich um seinen eigenen Kram kümmern und nicht um mich.
«Tut mir echt leid, dass ich deinen Kumpel … Joaquin», verbessere ich mich, «so angeschrien habe. Aber ich hatte Angst vor ihm.»
«Kann ich voll verstehen. Mir macht er auch manchmal Angst.» Er lässt das Lächeln nur halb zu, bevor es wieder verschwindet. «Ich schätze, er hat dich echt umgehauen. Soll ich lieber Ivy anrufen?»
Ich schüttele hastig den Kopf. «Auf keinen Fall. Sie will bei eurem Dad bleiben. Das ist ihr wirklich wichtig, und ich glaube, dein Dad
braucht sie auch. Ich komm schon klar, ehrlich.» Aber das stimmt nicht. Ich zittere immer noch am ganzen Körper, und Noah sieht es garantiert.
«Was würde Ivy denn tun, wenn sie jetzt hier wäre? Ich meine, habt ihr irgendein Frauenfreundschafts-Ding, was in solchen Fällen hilft? Muss ich mit dir jetzt Titanic
gucken?»
Oh Gott, diese Stimme! Ich schlucke hart, dann weiche ich seinem Blick aus, weil die Vorstellung, mich mit Noah und einem riesigen Eisbecher auf die Couch zu kuscheln und anstatt Titanic The Age of Adaline
zu gucken, einfach lächerlich ist. Aber das würde mir garantiert helfen.
«Ich könnte dir Schokolade besorgen, wenn du willst. Wirkt sogar gegen Dementoren.» Um Noahs Augen bilden sich Fältchen, und ich muss sein Lächeln einfach erwidern.
Na gut, wenn er es unbedingt hören will. «Ivy würde mich einfach in den Arm nehmen.»
Das Grinsen verschwindet, dann nickt Noah. «Okay. Das krieg ich hin. Stell dir einfach vor, ich wäre Ivy.»
Im ersten Moment stockt mir der Atem. Ich soll was? Ihn umarmen? Ist er jetzt völlig durchgeknallt? «Das funktioniert nicht, Noah.»
«Kommt auf einen Versuch an, oder? Du kannst jetzt in diesem Zimmer hocken bleiben, die Jalousien zuziehen und, keine Ahnung, schlafen, heulen, was auch immer. Oder du kommst näher und legst deine dünnen Grover-Arme um mich. Ich würde das ja von mir aus tun, aber ich bin nicht so wirklich scharf drauf, von dir einen Tritt in die Eier zu kriegen, also überleg es dir.»
«Das würde ich nicht machen», platzt es aus mir heraus.
«Fuck, Aubree, so schlimm ist das auch wieder nicht. Du bist die Freundin meiner kleinen Schwester, oder nicht?»
Ich schüttele den Kopf. «Ich meinte eigentlich, ich würde dich nicht treten.»
«Oh, okay, verstehe.» Seine Lippen ziehen sich nach oben. Er setzt sich halb auf seinen Schreibtisch und stützt sich mit den Händen auf der Platte ab. «Ich warte.»
Oh Mann. Darauf kann er lange warten. «Du bist total bescheuert.»
«Ich weiß. Kommst du?»
Unschlüssig hebe ich die Arme und lasse sie sofort wieder fallen. Noah ist völlig verrückt. Aber wenn es so abwegig ist, wieso pocht mir dann das Herz bis in den Hals? So hart, dass ich Atemnot bekomme?
Noah steht ganz lässig da, grinst mich an und wartet darauf, dass ich zu ihm komme und meine Arme um ihn lege. Aber warum? Weil ich gerade einen Nervenzusammenbruch hatte und er mich trösten will? In meinem ganzen Leben habe ich noch nie etwas so Durchgeknalltes erlebt.
«Hilft es dir, wenn ich die Augen zumache?» Er grinst noch breiter.
«Keine Ahnung, probier’s aus», knurre ich. Ich weiß nicht, was das soll. Vielleicht sollte ich, wenn er die Augen wirklich zumacht, einfach meine Klamotten schnappen und verschwinden. Mit ein bisschen Glück springt meine Schrottkarre sogar noch einmal an, es sind auch locker noch zwei Gallonen im Tank.
Noah macht die Augen zu. «Okay, das ist Level 1.»
Er hat wirklich die Augen zu, ich kann es nicht fassen. Ich könnte ihm jetzt in die Eier treten und
abhauen. Oder ihn
umarmen, was einfach nur verrückt wäre. Verrückt, verrückt, verrückt.
«Und was ist Level 2?» Mein Herz galoppiert wieder los, als wäre ich auf der Flucht. Man kann es an der Atemlosigkeit in meiner Stimme hören.
Normalerweise, wenn ich in ein Tonstudio komme, um Takes aufzunehmen, begrüßt mich der Regisseur und sagt locker: «Da steht dein Kaffee, hier ist dein Text, sprich bitte in dieses Mikro.» Aber bei den Aufnahmen zu Ashes of Fear
war das ganz anders. Es war die erste Ensemble-Session für mich und überhaupt mein größtes Projekt bisher. Teilweise haben wir mit bis zu zehn Sprechern im Studio gearbeitet. Weil wir größtenteils Kampfszenen synchronisiert haben und völlig außer Atem sein mussten, hat der Regisseur von uns verlangt, erst einmal ein paar Liegestütze zu machen, damit wir gleich mit körperlicher Anspannung in die Szene reingehen. Die Aufnahmen waren besser als jeder Fitnessstudiobesuch. Und wenn man beim Sprechen Kugelhanteln mit sich rumschleppt, hört man sich zwangsläufig außer Atem an. Und jetzt, wo ich Noah nach Level 2 gefragt habe, habe ich mich genauso angehört, als hätte ich gerade ziemlich schwere Kugelhanteln getragen.
«Bei Level 2 lege ich meine Hände auf den Rücken.»
Oh Gott. Ist er immer so? Ist er bei Ivy auch so?
Noah legt wirklich seine Hände auf den Rücken. Er hat die Augen geschlossen, und seine Arme hinter seinem Körper verschränkt, was ihn ein bisschen hilflos aussehen lässt. Und dämlich. Aber irgendwie auch süß. Jetzt will ich wissen, was Level 3 ist, verdammt. Darf ich ihn dann etwa festbinden?
«Du kannst mich festbinden. Aber nur, wenn du irgendwas
Weiches dafür nimmst. Ich hasse diese kratzigen Seile aus dem Baumarkt. Du hast nicht zufällig ein paar von diesen Puschelhandschellen dabei?»
Heilige Mutter Gottes. Er hat meine Gedanken gelesen.
Ich kann nicht mal darauf antworten, weil ich einen Kloß im Hals habe, der größer ist als ein Basketball. Meine Füße bewegen sich langsam vorwärts. Erst einen Schritt, dann zwei Schritte, drei, vier, fünf, sechs. Bis ich direkt vor Noah stehe.
«Du stehst jetzt vor mir, oder?», fragt er.
«Ja», krächze ich. «Hast du keine Angst, ich könnte dir was antun?»
«Doch. Aber ich glaube, weil du so mickrig bist, kann ich es riskieren.»
«Okay.» Das ist einfach nur strange
. «Okay, okay.» Ich strecke meine Arme aus, merke aber erstens, dass ich noch zu weit weg bin, um Noah umarmen zu können, und zweitens, dass das Laken beginnt zu rutschen, wenn ich es loslasse. Ich gehe noch einen Schritt nach vorne, bis meine nackten Zehen seine Stiefelspitzen berühren. Oh verflucht, er trägt wirklich seine Reitstiefel. Das heißt, er hat nicht gelogen, was das Training betrifft, und kommt jetzt wirklich zu spät. Mein Blick wandert von seinen Stiefeln hoch über die zerschlissenen Jeans bis zu seinem flachen Bauch, wo ich gestern erst diese Textstelle von BANKS
gelesen habe und von der mir wieder eingefallen ist, wie sie vollständig lautet: And sometimes I don’t got a filter, but I’m so tired of eating all of my misspoken words.
Ich kann die Muskeln unter seinem Shirt sehen und auch seine Brustwarzen. Entweder ihm ist kalt, oder … ich weiß es nicht, vielleicht ist er auch nervös.
«Du heulst aber nicht, oder?», vergewissert er sich.
Ich schlucke. «Nein, ich heule nicht, keine Sorge.»
«Gut.» Er wirkt erleichtert.
«Und du blinzelst nicht», verlange ich.
«Geht klar.»
«Weil ich nämlich das blöde Laken gleich loslassen muss.»
«Fuck», sagt er. «Nein, versprochen, ich blinzle nicht.»
Wie in Zeitlupe bewege ich meine Arme nach vorne, und sofort fängt das Laken an, sich zu lösen. Ich komme mir unbeholfen und blöd vor, und garantiert würde ich das nicht tun, wenn Noah mich ansähe. Aber er guckt mich nicht an. Er hat die Augen geschlossen und die Unterlippe zwischen seine Zähne geklemmt. Mir ist schon aufgefallen, dass sie voller ist als seine Oberlippe, und ich hoffe nur, er beißt jetzt nicht deshalb darauf, weil er mich sonst auslachen würde. Wenn er lacht, dann wird etwas in mir zerbrechen, das weiß ich.
Das Laken rutscht runter bis zu meinen Füßen. Ich schließe ebenfalls die Augen und berühre mit den Fingerspitzen Noahs Seite. Und dann mache ich es kurz und schmerzlos. Meine Hände schieben sich über sein Shirt nach hinten bis zu seinem Rücken. Ich umarme ihn. Weil ich es will. Meine Beine stoßen gegen seine Knie. Meinen Kopf lehne ich gegen seine Brust, und ich kann an meiner Wange spüren, wie schnell sein Herz schlägt. Und das ist ganz und gar nicht dasselbe wie eine Ivy-Umarmung. Es ist was völlig anderes.
Noah ist unglaublich warm. Und er ist natürlich nicht so weich wie Ivy. Oder Grover. Er ist hart. Er fühlt sich tausendmal besser an als Grover. Sein Atem geht ruhig, aber sein Herzschlag rast genau wie meiner. Doch je länger ich Noah umarme, umso langsamer wird das
Pochen unserer Herzen. Es tut gut, es tut einfach nur gut, ihn zu umarmen. Ich hätte das nie gedacht. Dennoch …
«Level 2 ist scheiße», sagt er.
Damit hat er recht. Auch wenn es schön und tröstlich ist, seine Wärme zu spüren, ist es auch seltsam, jemanden zu umarmen, der die Umarmung nicht erwidert. «Wenn … also … Ich glaube, ich habe nichts dagegen, wenn wir zu Level 1 zurückkehren.»
Sofort spüre ich, wie Noah sich anspannt. Seine Bauchmuskeln ziehen sich zusammen, als er die Hände langsam von seinem Rücken nach vorn nimmt. Mit angehaltenem Atem warte ich darauf, dass seine Arme mich umschließen, aber er scheint unschlüssig zu sein, was er tun soll. Doch dann legt er eine Hand auf meinen Kopf und drückt ihn vorsichtig an sich. Seine Finger auf meinen kurzen Stoppeln lösen etwas in mir aus. Weil er keine Hemmungen hat, sie zu berühren. Weil ich mich damit hässlich fühle, es ihn aber offenbar nicht stört, sonst würde er mich dort nicht anfassen. Seine Hand streicht warm über meine Kopfhaut, sein Daumen über meine Schläfe, und der Kloß in meinem Hals schwillt zu etwas noch Größerem an.
«Verdammt, Aubree, du hast versprochen, nicht zu heulen.»