I
ch habe Quin lange unschlüssig hinterhergesehen, dann bin ich erst einmal duschen gegangen. Das mit dem Essen ist grundsätzlich eine gute Idee, denn nicht nur wegen des Trainings, sondern auch sonst bin ich Noah etwas schuldig. Außerdem habe ich nach dem Sport selber ziemlich Hunger. Deshalb stehe ich nun mit meiner großen Edelstahldose vor seinem Apartment, also Ivys Apartment. Ich wusste nicht, was Noah am liebsten mag, deshalb habe ich einfach das genommen, was ich am leckersten finde. Es ist heiß, es ist frittiert, und es ist scharf. Das sind für mich die drei wichtigsten Kriterien, wenn es um Essen geht.
Aber nun, wo ich vor dem kleinen Vorhängeschloss stehe, überkommen mich Zweifel, ob diese Idee so gut war. Vielleicht hat Noah schon gegessen. Außerdem ist es Samstagabend, vielleicht ist er gar nicht da. Vielleicht ist er da, hat aber Besuch. Oder er will niemanden sehen und am wenigsten mich. Ich habe ihm schließlich gestern in sein Shirt geheult.
So langsam müsste ich mal eine Entscheidung treffen, ob ich klingle oder verschwinde. Am besten, solange das Essen noch heiß ist.
Einfach das tun, wovor du Angst hast, Aubree!
Vorsichtig drücke ich gegen die Tür. Sie öffnet sich ein kleines Stück und durch die Lücke, die wegen des Vorhängeschlosses entsteht, sehe ich einen Spalt blauen Lichts. Ich höre eine dramatische Melodie, die wie das Intro eines Computerspiels klingt. Die letzten Töne verhallen gerade, die raue Stimme des Sängers verstummt, und die Trommeln werden langsamer. Es kommt mir bekannt vor; wahrscheinlich ist es einfach eines der bekannten PlayStation Games, die jeder spielt. Ich reiße mich zusammen, drücke endlich auf die Klingel und … nichts passiert. Déjà-vu. Aber beim ersten Mal, als ich bei Noah geklingelt habe, war er nicht da und ich war vollkommen fertig. Heute geht es mir einhundert Prozent besser. Das Training hat mich so erledigt, dass ich sicher bin, nachher ohne grübeln einschlafen zu können. Und obwohl ich körperlich geschwächt bin, fühle ich mental gestärkt, auch wenn sich das komisch anhört.
Statt noch mal zu klingeln, klopfe ich kräftig an die Tür, und der Sound im Wohnzimmer verstummt. Ich sehe durch den Spalt Noahs Schatten an die Tür treten, und mein Puls legt schlagartig einen Sprint ein. Der Riegel wird zur Seite geschoben.
«Hey», sage ich und halte die Dose vor mich wie einen Schild.
«Hey.»
Mir ist bisher gar nicht aufgefallen, dass Noahs Haare so lang sind, aber jetzt, wo er den Kopf senkt, fallen sie ihm bis über die Brauen. Macht er das mit Absicht, damit ich ihm nicht direkt in die Augen gucken kann? Sonst hat er die Haare immer zurückgestrichen. An seinem Kiefer bewegt sich ein Muskel, auf den ich mich konzentriere, während ich nach Worten suche. «Ich war heute Nachmittag bei
Joaquin.»
Ich kann nicht erkennen, ob ihn das überrascht.
«Und? Hat es Spaß gemacht?»
«Es war … anstrengend. Und ja, es hat total Spaß gemacht. Quin ist ein toller Typ.»
Er nickt. «Ich bin leider nur noch zweimal die Woche bei ihm. Er ist ein absolutes Arschloch im Ring, aber trotzdem ein ziemlich guter Freund.»
«Ich glaube, ich weiß, was du meinst. Aber zweimal die Woche? Verstößt das nicht gegen die Regeln des Clubs?»
Oh Mann, Aubree, bist du die Regelpolizei, oder was?
Noah nickt wieder. «Genau genommen verstoße ich damit sogar gegen Regel 1 bis 3.» Sein Mundwinkel hebt sich nach oben. «Aber mein Training mit den Pferden geht vor.» Er schiebt beide Hände in die Hosentaschen und lehnt sich in den Türrahmen. «Ich habe mir schon gedacht, dass Quin’s Club was für dich ist.»
Am liebsten würde ich ihn fragen, warum, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich die Antwort darauf hören will, deshalb verkneife ich es mir. «Ich wollte eigentlich nur danke für … also … ich …»
Er nimmt eine Hand aus der Tasche und zieht die Tür weiter auf. «Willst du reinkommen?»
Wenn ich dich nicht störe …
Selbst in meinem Kopf klingt das wie eine unsichere Frage und nicht wie eine Höflichkeitsfloskel. Verdammt. Die neue alte Aubree, die sich Dingen stellt, die sie fürchtet, würde nicht so klingen. Ich räuspere mich. «Gern.»
«Ich hab eben die PlayStation angemacht, aber wenn du Lust hast, können wir auch einen Film sehen.»
«Das hört sich gut an. Ich komme gerade von Molly’s und habe
etwas zu essen mitgebracht.» Ich halte die Dose hoch.
«Okay, woher wusstest du, dass ich am Verhungern bin und noch viel wichtiger: Woher wusstest du, dass ich Molly’s Essen liebe?»
«Joaquin hat es erwähnt.»
Er nimmt mir die Dose ab und klappt den Deckel gerade weit genug auf, um daran zu schnuppern. Ich sehe, wie sich sein Brustkorb hebt, als er tief einatmet. Will er etwa raten, was drin ist? In der nächsten Sekunde schnellt sein Kopf wieder hoch. «Du hast Ms. J’s Buffalo Wings
mitgebracht. Fuck.»
Seine Stimme pendelt irgendwo zwischen geschockt und ehrfürchtig hin und her, und ich habe keine Ahnung, wie ich das einordnen soll. Offenbar kennt er die Speisekarte aus diesem Laden auswendig. «Ist das ein gutes Fuck oder ein schlechtes Fuck?»
Er sieht auf die Dose in seinen Händen herab und leckt sich unwillkürlich über die Lippen. «Ein verdammt gutes Fuck. Du kannst es nicht wissen, aber Chicken Wings und ich», seine Hand macht eine seltsam kreisende Bewegung, «wir haben so was wie eine intime Beziehung miteinander. Wir reden nicht darüber, aber es ist klar, dass jede Begegnung zwischen uns sehr, sehr sexy und leidenschaftlich verläuft.»
Wow. Da ist er wieder. Der
Tonfall. Der, für den die meisten Männer erst mehrmals ein «Mmh, ist das lecker» üben müssen. Aber bei Noah passiert das ganz beiläufig. Und das verursacht mir eine Gänsehaut. Als er nun auch noch mit der Hand zärtlich über den Deckel streichelt, schlucke ich. «Oookay», sage ich gedehnt, «soll ich dich und die Chicken Wings dann lieber allein lassen?»
Er schnaubt, hält wortlos die Tür weiter auf und schließt hinter mir den Riegel mit einer Hand, bevor wir ins Wohnzimmer gehen.
«Also, Film gucken oder spielen? Ich habe mir ein neues Game geholt, es geht um eine Dämonenapokalypse. Also falls du Bock auf einen Kampf gegen Hexenmeister und Dämonen hast, können wir noch mal von vorne starten und uns bei den Missionen abwechseln. Im Storymodus gibt es leider keine Multiplayer.» Er stellt das Essen auf Ivys kleinem Tisch ab und schnappt sich den Controller. «Bin sowieso erst bei der vierten Mission.»
Oh heilige Scheiße.
Vom Bildschirm flackert mir der Untertitel des Kapitels entgegen, der gerade dabei war zu verblassen, als Noah pausiert hat. Pandemonium – Hauptstadt der Hölle
. Ich weiß sofort, welches Spiel Noah spielt, weil ich die meisten Szenen aus diesem Game genauso gut kenne wie mein eigenes Bullet Journal. Nicht nur die Szenen, ich kenne sogar jeden Satz. Vor allem jeden Satz aus der vierten Mission, die Noah als Nächstes spielen wird. Die Mission, in der eine attraktive Dämonenjägerin auftaucht, an deren Seite der Spielercharakter einen harten Kampf führen wird und die am Ende des Spiels stirbt. Mein Gesicht läuft schlagartig heiß an.
Noah lässt sich auf das Sofa fallen. «Bisher finde ich AoF nicht schlecht, vor allem die Grafik ist genial, aber es hat definitiv noch Steigerungspotenzial. AoF», wiederholt er, «das steht für …»
«… Ashes of Fear
», beende ich seinen Satz.
«Du kennst es? Ich hätte gedacht, du interessierst dich genauso wenig für Games wie Ivy.»
Ich zucke mit den Schultern, weil ich meiner Stimme gerade nicht traue. Das ist mein
verdammtes Spiel. Mein Spiel, mit meiner Stimme. Oh mein Gott! Das ist einfach nur schräg.
Noah zieht die Dose mit dem Essen auf seinen Schoß und legt den
Deckel auf dem Tisch ab. Seine Finger schweben über dem Berg Fleisch, dann fischt er sich den ersten Chicken Wing heraus und stößt ein Seufzen aus, bevor er mir die Dose hinhält. «Wir essen, und danach suchen wir in Ruhe einen Film aus.»
Mein Magen knurrt, und ich greife zu. «Ich glaube, ich kann mich heute sowieso auf nichts mehr konzentrieren. Ich bin vom Training so fertig; meine Muskeln zittern nur noch.» Zum Beweis hebe ich die Hand mit dem Hähnchenflügel hoch, und jep, sie zittert.
«Es wird besser, wenn du was im Bauch hast. Geht mir nach dem Training auch immer so.»
«Du kannst ruhig weiter Ashes of Fear
spielen», höre ich mich sagen. «Ich gucke einfach zu.»
Wieso mache ich das? Wieso bitte ich ihn nicht einfach, irgendeine langweilige Netflixserie anzuschmeißen? Irgendwas zum Hirn ausschalten. Warum will ich unbedingt, dass er weiterspielt?
Weil ich wissen will, ob er meine Stimme erkennt. Und wenn ja, wie er darauf reagiert. Das war ein tolles Projekt, und ich bin echt stolz auf meine Arbeit. Aber das allein ist es nicht. Ich hoffe, dass er meine Stimme mag
. Der Charakter, den ich spreche, hat in der vierten Mission den ersten Auftritt. Sie ist eine Asmodi, eine Halbdämonin. Sie trägt eine hautenge Lederkluft, hat langes, blondes Haar und ist kämpferisch und stark. Sie hat ganz viel, was ich nicht habe, aber es ist meine
Stimme. Ich will unbedingt, dass sie ihm gefällt.
Obwohl meine Glieder inzwischen bleischwer sind und ich kaum noch fähig bin, auch nur einen Arm zu heben, läuft mein Kopf auf Hochtouren. Es liegt an Noah und daran, dass er kurz davor ist, mich in einem Spiel zu treffen. Das ist so strange.
«Hast du gar keinen Hunger?», fragt Noah und legt den fünften abgenagten Knochen auf dem Deckel der Dose ab. «Du isst ja gar nichts.»
«Doch», sage ich schnell und beiße ein Stück Fleisch ab. Ich bin immer noch bei meinem ersten Chicken Wing. Dabei sind sie wirklich lecker und genauso, wie ich es am liebsten mag. Knusprig, fettig, scharf gewürzt und mit einem Hauch Süße. Ich kann verstehen, dass Noah dieses Restaurant liebt. In der Zeit, in der ich einen zweiten Hühnchenknochen abnage, verputzt Noah fünf weitere. Ich sehe ihm gern beim Essen zu. Ich schätze, das ist ziemlich skurril, aber verdammt, irgendwie ist es schön zuzusehen, wie sorgfältig er auch das letzte bisschen Fleisch abknabbert und dabei genießerisch die Augen schließt. Meine Mom hat immer gesagt, sie muss wissen, wie ein Mann isst, um zu entscheiden, ob sie mit ihm zusammen sein kann. Bei Gott, ich fange langsam an, sie zu verstehen.
Um Noah nicht länger anzustarren, lasse ich den Hähnchenknochen auf den Deckel fallen und stehe auf, um mir im Bad die Hände zu waschen. Als ich zurückkomme, stehen zwei volle Wassergläser auf dem Tisch. Er kann nicht wissen, wie viel Überwindung es mich kostet, von einem anderen etwas zu trinken anzunehmen. Aber es ist Noah, und inzwischen … Ich vertraue ihm. Ich nehme einen Schluck und bin erleichtert, dass es tatsächlich nur Leitungswasser ist. Noah ist anscheinend auch mit Essen fertig, denn kaum habe ich mich gesetzt, schnappt er sich den Controller, um das Spiel erneut zu starten. Er skipt das Intro zurück, um es mir zu zeigen, und die bekannte Melodie tönt aus den Boxen. Der Song ist von einer Rockband aus Los Angeles. Eigentlich ist ihre Musik nicht mein Fall, aber die Trommeln, die das Intro einleiten und immer
drängender werden, stimmen wirklich gut auf die Atmosphäre des Spiels ein.
Ashes of fear
Since the moment of birth
We’re here to burn the demons
In embers and smoke
«Willst du wirklich nicht mitspielen?» Noah wirft mir einen Blick zu. «Ist doch langweilig, wenn du nur zuguckst.»
«Ich bin echt zu müde.» Um meine Worte zu unterstreichen, schlüpfe ich aus meinen Schuhen, ziehe die Beine aufs Sofa und tue so, als würde ich es mir auf der Couch gemütlich machen. Aber in Wahrheit warte ich nur darauf, dass es endlich losgeht.
Noah startet die neue Mission und bekommt erste Anweisungen. Er soll in einer dunklen Gasse in New York einen Jäger treffen, der eine neue Art Waffe für ihn mitbringt, und hat keine Ahnung, dass es eine Frau sein wird. Also ich
. Außerdem muss er sich vor den Hexen und Dämonen in Acht nehmen, die überall auf ihn lauern. Und mit jeder Mission, die er übersteht, steigert sich sein Wissen und ermöglicht es ihm, sie früher zu erkennen. Ich weiß, dass sich gleich ein kleines, ziemlich niedlich aussehendes Mädchen von ihm retten lassen wird und danach versucht, ihm die Kehle durchzubeißen. Ich könnte ihm einen Tipp geben, aber damit würde ich zugeben, das Spiel schon zu kennen, also presse ich die Lippen zusammen.
Noahs Smartphone liegt auf dem Tisch und leuchtet permanent auf, weil er eine Nachricht nach der anderen bekommt. An seiner Stelle würde mich das wahnsinnig machen, aber er ist offenbar daran
gewöhnt. Da ich Instagram meide, habe ich mir auch seinen Account länger nicht mehr angesehen, aber vielleicht sollte ich das. Ich würde wirklich gerne wissen, was er in den letzten Tagen gepostet hat. Ob er seinen Followern erzählt hat, dass er für ein paar Tage in einem anderen Apartment wohnt? Ob er auch den Grund dafür genannt hat? Vielleicht hat er von der Freundin seiner Schwester geschrieben, wegen der er die Tür eintreten musste. Oder dass er einer Frau den Kopf rasiert hat. Bei dem Gedanken dreht sich mir der Magen um. Nein, ich will es doch nicht wissen. Ich schaue einfach wieder auf den Bildschirm.
Noahs Spielercharakter heißt Jack und hat gerade seinen monströsen SUV
verlassen und ein paar Hexen mit einem Flammenwerfer umgeblasen. Nun huscht Jack geduckt durch eine Gasse, um ein heruntergekommenes Gebäude durch die Hintertür zu betreten. Im Hintergrund hört man die unabdingbaren weit entfernten Polizeisirenen und ein Hundebellen. Ich habe schon bei den Aufnahmen deshalb die Augen verdreht.
Jack hält eine Pistole in der rechten Hand, und ich wünschte, er würde die Knarre ins Halfter stecken und stattdessen das verdammte Schwert von seinem Rücken nehmen. Ich habe echt keine Ahnung von Waffen, aber eigentlich lernen die Spieler bei der ersten Mission, dass man gegen Dämonen nur mit einem Schwert aus Silber etwas ausrichten kann. Na ja, genau genommen kann man sie auch erschießen, aber dann kratzen sie ihren Kopf oder ihre Gliedmaßen einfach wieder zusammen und machen weiter, als wäre nichts gewesen.
Dieser dämliche Idiot!
Das ist der erste Satz, den ich gleich sagen werde, und ich habe ihn nur zweimal gesprochen, bis ich ihn perfekt
hinbekommen hatte, sodass er gleichermaßen angestrengt, genervt, aber auch einen Hauch besorgt klingt.
Na endlich, Noah schiebt die halbautomatische Pistole weg, aber was zum Teufel macht er da? Greift er ernsthaft nach dem Sturmgewehr? Denkt er, er wäre ein Navy SEAL
, oder was? Er kämpft hier gegen Dämonen! Die Kugeln werden keinen dauerhaften Schaden anrichten, der Dämon wird sich kurz schütteln und ihm dann mit bloßen Händen den Kopf abreißen – Mission gescheitert. Ich unterdrücke ein Stöhnen.
«Alles okay?», fragt Noah mit einem kurzen Seitenblick.
«Ja, alles prima. Aber willst du nicht lieber das Schwert nehmen? Ich meine, das Ding da auf deinem Rücken?»
«Was?», murmelt Noah, hakt aber nicht nach, als ich nicht antworte. Er ist voll auf das Spiel konzentriert.
Jack hat Geräusche aus dem Nebenraum gehört und geht ihnen nach. Es klingt nach einem hilflosen Wimmern, und als er mit dem Fuß die Tür auftritt, das Gewehr im Anschlag, fällt sein Blick auf das Kinderbett, in dem sich ein heulendes Kleinkind an den Stäben hochzieht. Sie sieht so harmlos und verzweifelt aus. Wie soll man da ahnen, dass das kleine Mädchen ein fieser Dämon ist?
«Verdammt, ich kann es nicht ab, wenn sie Kinder in diesen Spielen einbauen», sagt Noah. «Das ist einfach nur abartig.»
Jack sichert die Tür und das Fenster, dann muss er sich das Sturmgewehr umhängen, um das Kind aus dem Bettchen zu nehmen.
Oh Gott, ich kann gar nicht hinsehen. Das Kind wird ihm weh tun, es wird ihm so was von weh tun!
Ein knacksendes Geräusch ertönt, und ich blinzele. Und dann blinzele ich gleich noch mal, während ich ungläubig auf den
Bildschirm starre. Jack hat dem Kleinkind das Genick gebrochen und wirft es gerade zurück ins Bett. Fassungslos schnappe ich nach Luft. «Du … du hast gerade das Kind getötet.»
«Ich hasse das.» Noah knirscht mit den Zähnen. «Wenn es gleich wieder aufersteht, war es ein Dämon, und wenn nicht … na ja, dann hab ich einen Fehler gemacht.» Er wirft mir einen schnellen Seitenblick zu. «Ist nur ein Spiel, Aubree.»
«Ja, ich weiß», krächze ich. Was ich aber nicht weiß, ist, was jetzt als Nächstes kommt. In Gedanken gehe ich den gesamten Text durch, den ich sprechen musste, aber mir will verdammt noch mal nicht einfallen, was die Alternative zu der Szene mit dem Kleinkind war. Eigentlich hätte das Kind ihn anfallen müssen, damit Alisha, die Heldin mit meiner Stimme, ihm den Arsch retten kann. Auf jeden Fall steht das Kind jetzt wieder auf, sieht unglaublich süß und hilflos aus, wimmert und streckt seine speckigen Ärmchen nach Jack aus, als wollte es auf den Arm genommen werden. Dann plötzlich verändert sich das kleine Gesicht, lange Tentakel mit riesigen Reißzähnen kommen aus seinem Mund und schnappen nach Jack.
«Das ist doch krank», sagt Noah. «Genau deswegen spiele ich normalerweise keine Fantasygames.» Er zieht das Schwert von seinem Rücken und schlägt dem Dämonen-Kind damit den Kopf ab, damit es nicht wieder zurückkommt. Ich kneife die Augen zusammen, weil es ekelhaft aussieht und mir jetzt wieder bewusst wird, warum das Spiel ab achtzehn ist. Ziemlich viel schwarzes Blut und ziemlich viele andere Gewebemassen, die sich nun in einer Aschewolke auflösen.
Jack verlässt das Kinderzimmer, arbeitet sich durch den Flur und sichert die anderen Räume. Als Letztes öffnet er lautlos die Tür zu
einem Arbeitszimmer, in dem er mich entdeckt. Also den Charakter, dem ich meine Stimme geliehen habe. Alisha trägt ein Pentakel um ihren Hals, eine Art Schutzamulett. Sie verstaut gerade ihr Schwert auf dem Rücken, um den Schreibtisch nach einem geheimen Dokument abzusuchen. Sie zieht ein alt aussehendes Buch zu sich heran und blättert es durch. Eine Seite reißt sie heraus, bevor sie sie zusammenfaltet und in der Gesäßtasche ihrer schwarzen Lederhose verschwinden lässt. Jack hat das alles vom Flur aus beobachtet und betritt nun das Zimmer. «Verdammte Dämonen», sagt er und hebt sein Schwert an, um es auf sie zu schleudern, weil er nicht weiß, dass sie genauso ein Jäger ist wie er. Alisha hebt eine Augenbraue an und lässt den Blick nach links gleiten. Jack sieht den Dämon zu spät, der neben der Tür auf ihn gelauert hat, und im nächsten Moment wird er von einem der vielen Tentakel erfasst und zu Boden gerissen.
«Fuck my life!», stößt Noah aus, und ich unterdrücke ein Lachen.
«Dieser dämliche Idiot!», zischt Alisha, während sie auf Jack zumarschiert, der reglos am Boden liegen geblieben ist. Sie zieht ihr Schwert, und der Dämon zerplatzt in tausend Stücke. Unsanft verpasst sie Jack eine Ohrfeige, um ihn aus der Besinnungslosigkeit zurückzuholen. «Hey, alles okay mit dir?»
Jack schlägt die Augen auf, und Noah atmet erleichtert neben mir aus.
Ich habe mich auf dem Sofa aufgesetzt und ihn beobachtet. Dieser dämliche Idiot! Hey, alles okay mit dir?
Oh Gott, hat er denn meine Stimme nicht erkannt? Noah zeigt überhaupt keine Reaktion. Als er auf dem Sofa nach vorne rutscht, beuge ich mich auch vor und lauere auf jede Veränderung in seiner Mimik. Aber von der Seite erkenne ich nur, wie sich sein Adamsapfel bewegt, als er kurz schluckt.
«Bist du eine Asmodi?», fragt Jack und wischt sich mit dem Ärmel über das schweißnasse Gesicht.
Alishas Stimme klingt gehetzt und angespannt. «Ich bin die Frau, die dir gerade den Arsch gerettet hat.»
Meine Lippen bewegen sich lautlos mit. Okay, sie haben den Dialog so geschrieben, dass er zu unterschiedlichen Szenen passt. Wenn man einmal hinter die Kulissen geschaut hat, ist das etwas seltsam, aber ich muss zugeben, dass es gut funktioniert. Nur leider kann ich mich gerade gar nicht auf so was konzentrieren, weil Noah immer noch nichts gesagt hat und mir das Herz bis zum Hals schlägt. Oh Gott, ich glaube, er erkennt mich wirklich nicht. Oder doch? Jetzt gerade neigt er den Kopf zur Seite, so als wolle er besser hören, aber das kann ich mir auch einbilden. Für einen kurzen Moment schwenkt sein Blick zu mir, nur um sofort wieder zum Bildschirm zurückzukehren.
Alisha übergibt Jack eine Geheimwaffe, eine Art diamantenen Dolch, und erklärt, dass sie einen Hexenmeister aufsuchen müssen. Die beiden verlassen gemeinsam das Gebäude. Die Szenerie verändert sich vom dunklen Hinterhof in einen schillernden Club mit laut wummernden Bässen. Tanzende Leiber umschwirren die zwei Jäger. Alisha wird angerempelt und merkt nicht, dass jemand ihr etwas zusteckt, was in einer späteren Mission noch eine wichtige Rolle spielen wird. Sie treffen in einem Hinterzimmer auf den Hexenmeister, mit dem Jack um etwas verhandelt. Das Gespräch verläuft nicht wie geplant, und im nächsten Augenblick bricht die Hölle los. Der Hexenmeister schleudert einen Fluch auf die beiden, und von allen Seiten werden sie von Mitgliedern aus seinem Zirkel attackiert.
«Tötet die Bastarde!», schreit jemand.
Ich kann mich genau an diese Aufnahmen erinnern, weil ich dabei bis an meine Grenzen gegangen bin. Das Mikrophon klebte mit Tape an meiner Brust, und mit beiden Armen habe ich mich gegen einen Kollegen gestemmt, um «Verfluchte Dämonen!», zu brüllen. Meinen Text bekam ich vom Regisseur vorgelesen, damit ich mit ganzem Körpereinsatz in die Szene gehen konnte. Es kam nicht darauf an, sauber zu sprechen, wir durften spucken, schleifen, die Enden verschlucken. Ich bekomme jetzt noch eine Gänsehaut, wenn ich daran denke, wie sich einer meiner Kollegen, als ich am Boden lag, auf meinen Rücken gesetzt hat, damit mir wirklich die Luft wegblieb.
Jack und Alisha weichen den Flüchen aus und kämpfen um ihr Leben. Mauern zerbröckeln unter der Wucht der Magie.
«Raus hier!», schreit Jack. «Pass auf, er sieht dich, er sieht dich!!»
«Aufpassen! AUFPASSEN
!!!»
«Heilige Scheiße!»
«Vorsicht, Deckung. IN DECKUNG
!»
«Wie gefällt dir das, Bitch!»
Der Kampf dauert mehrere Minuten, in denen Noah hochkonzentriert auf den Bildschirm starrt. Seine Finger fliegen über die Tasten. Er hat nicht noch einmal zu mir gesehen. Er hat mich wirklich nicht erkannt. Ich weiß nicht, warum ich darüber so enttäuscht bin, denn eigentlich bedeutet es nichts. Aber verdammt, ich bin
enttäuscht.
Als Jack und Alisha sich endlich in ein angrenzendes Gebäude retten können, bin ich so erschöpft, als hätte ich mitgekämpft. Wie ein Embryo rolle ich mich auf dem Sofa zusammen. Alisha ist verletzt, aber Jack kann ihre Wunden mit dem Pentakel verschließen.
Magische Runen bilden sich dort, wo die Haut sich wieder geschlossen hat.
Noah rutscht so weit auf dem Sofa nach vorne, dass ich meine Beine hinter ihm ausstrecken kann, und ich verstecke ein Gähnen hinter meiner Hand.
Der Spielmodus wird von einer Filmsequenz unterbrochen, in der Jack und Alisha sich küssen. Das ganze wird mit dramatischer Musik untermalt. Die Welt steht kurz vor dem Untergang, die beiden befinden sich in einem absoluten Ausnahmezustand. Außer ihnen gibt es nur noch wenige Menschen auf der Welt, und jeden Augenblick könnten Hexen und Dämonen über sie herfallen. Sie haben also nichts zu verlieren.
Das Zimmer ist in Dunkelheit getaucht. Nicht nur Ivys Wohnzimmer, sondern auch das Zimmer auf dem Bildschirm, in dem Jack Alisha in die Augen schaut. Die Mimik der Figuren wirkt erstaunlich echt, sie scheinen sich in diesem Moment tatsächlich verzweifelt nacheinander zu sehnen, und ich wappne mich für den nächsten Satz, der kommen muss. Alisha krallt sich an seinem blutbesudelten Shirt fest. Ich habe meine Stimme noch genau im Ohr. Es sollte schmerzerfüllt klingen und dennoch sexy. Der Regie war es besonders wichtig, dass nichts im Spiel amüsant oder lustig wirkt, dass wir alles absolut ernst nehmen. Ich habe die Stelle wahrscheinlich mehr als zwölfmal gesprochen, bis sie zufrieden waren. Aber jetzt ist es egal, weil Noah es sowieso nicht merkt. Er ist so auf das Kämpfen konzentriert gewesen, dass er Alishas Stimme gar nicht beachtet hat.
Ich strecke meine Arme auf dem Sofa aus und gebe ein leises Stöhnen von mir, weil meine Muskeln schmerzen, und Noahs Blick
schwenkt für eine Sekunde zu mir.
«Schlaf mit mir», raune ich. «Jetzt.»