N
oahs Körper spannt sich unter mir an. Er wartet ab, was ich tue, und das lässt ein ganz neues Gefühl in mir aufsteigen. Meine Angst, etwas falsch zu machen, vermischt sich mit der Macht, alles tun zu dürfen.
«Noah», raune ich. Und dann öffnet er leicht die Lippen, und ich hauche seinen Namen direkt an seinem Mund. Ich streiche mit meinen Lippen über seine, dann mit meiner Zunge, bis er stöhnt und ich weiter in die Hitze seines Mundes vordringe.
Er hat nicht nur geduscht, er hat auch seine Zähne geputzt. Da ist immer noch ein Hauch von Minzgeschmack. Sein Oberkörper richtet sich auf, er presst mich fester an sich. Eine Hand streicht über meinen Rücken nach oben, legt sich auf meinen Hinterkopf. Noahs Zunge stößt gegen meine, fest und sanft zugleich spielt sie mit mir, ganz leicht saugt er dann an meiner Oberlippe, und das sorgt dafür, dass ich einen erstickten Laut von mir gebe.
Er lässt von meinem Mund ab und presst seine Stirn gegen meine. «Willst du aufhören?» Vielleicht liegt es an seinem schweren Atem, aber es klingt in meinen Ohren ganz anders. Es hört sich mehr an wie ein «Du willst doch verfickt noch mal jetzt nicht wirklich aufhören!?».
Was es noch schöner macht. Weil ich weiß, dass er mich sofort loslassen würde, wenn ich ja sage, und weil ich weiß, dass ihn das umbringen würde.
«Nein.» Ich stemme mich auf die Knie hoch und drücke Noahs Oberkörper nach hinten zurück ins Polster, presse mich an ihn, stoße mit der Zunge vor und kann nicht genug davon bekommen, seine Zungenspitze mit meiner zu umkreisen.
«Setz dich verdammt noch mal wieder richtig hin», keucht er. «Ich bin kein Gaul, du musst mich nicht entlasten, ich will dein ganzes Gewicht auf mir spüren.»
Ich muss über seinen Tonfall lachen, was er sofort mit seinem Mund erstickt, und dann lasse ich mich wieder auf ihn sinken. Meine Hand streicht über die Gänsehaut an seinem Hals, und jetzt will ich das verdammte Licht wieder einschalten, weil ich ihn sehen will. Ich will sehen, wie meine Fingerspitzen die Tinte an seinem Hals entlangfahren, wie sich die Gänsehaut ausbreitet, die ich ertasten kann. Ich will mehr von ihm spüren. Am liebsten würde ich ihm sein Shirt über den Kopf zerren.
Seine Hände liegen erst warm auf meinem Rücken, dann streicht er mir seitlich über die Rippen und wieder zurück. Ich lehne mich nach hinten, probiere aus, ob ich seine Hände damit dirigieren kann, doch Noah passt auf, es nicht zu viel werden zu lassen. Ein frustriertes Stöhnen sitzt mir in der Kehle. Ich bin verrückt nach seinen Händen. Ungeduldig packe ich seine Handgelenke und schiebe sie zu meinen Brüsten.
«Aubree», murmelt er. Für einen Moment hält er ganz still, doch dann beginnt er, mich zu liebkosen. Meine Spitzen ziehen sich sofort zusammen.
Doch für eine Sekunde flackert ein Bild auf. Die fremde Hand auf meiner nackten Haut. Es ist wie ein Flashback. Ein unangenehmes Gefühl, das nur von der Erinnerung an ein Foto hervorgerufen wird. Aber ich will das nicht. Ich will es nicht. Ich will, dass Noahs Hände dieses Gefühl auslöschen, dass er mich mit seinen Händen neu zusammenpuzzelt. Ohne Erinnerungslücken, ohne die fehlenden, kaputten Teile. Er soll sie alle ersetzen. Ich halte seine Hände fest und küsse ihn, bis das Bild verschwunden ist. Und als ich mich wieder zurücklehne und seine Lippen über meinen Hals gleiten, ist da nur noch Noah. Völlig atemlos spüre ich, wie seine Daumen über meine Brustwarzen reiben, wie er sie zusammendrückt, und spüre diesen Druck überall. Seine Finger, sein heißer Mund, die Härte, die sich durch den Stoff seiner Jeans gegen meinen Schoß drängt.
Ich schiebe sein Shirt nach oben, und er muss mich loslassen, damit ich es ihm über den Kopf ziehen kann. Meine Finger ersetzen im Dunkeln meine Augen, sie ertasten die festen Muskeln an seinem Bauch, die Vertiefungen dazwischen, den Haarflaum. Ich streichle über seine Arme, spüre die Adern an seinen Unterarmen, die Sehnen, eine raue Stelle an seinem Ellbogen. Und am liebsten würde ich auch diese Stelle küssen.
Mit überkreuzten Armen ziehe ich mir das T-Shirt über den Kopf, dann öffne ich den Verschluss meines BHs am Rücken. Doch bevor ich ihn abstreifen kann, legt Noah seine Hände auf meine Schultern, hält die Träger fest.
«Bist du dir sicher?»
«Ja. Ich will keinen Stoff mehr zwischen uns.»
Ganz langsam streift er mir die Träger von den Schultern, und als der BH
herabfällt, werfe ich ihn hinter mich. Dann lehne ich mich
nach vorne, dränge mich an ihn, und die Hitze von Noahs Oberkörper, seiner Haut auf meiner, könnte mich verbrennen.
Wenn er wollte, könnte er mich verbrennen.
Zu hören, wie schnell sein Atem geht, lässt die Erregung in mir pulsieren. Und zu spüren, wie er die Hände an meinen Hintern legt und mich noch fester an seine Härte presst, lässt mich erschauern. Das fühlt sich so gut an. Doch plötzlich sind seine Hände weg. Er stöhnt leise auf, zieht mit einem Mal meinen Kopf zu sich hinunter und küsst meine Stirn. Was zum …? Wenn Männer einem die Stirn küssen, ist das nie ein gutes Zeichen.
«Lass … uns … aufhören, Aubree. Okay?»
«Warum willst du aufhören?» Das Herz schlägt mir bis zum Hals. Mich überrascht die Intensität, mit der ich eine Antwort verlange. Eine richtige Antwort.
«Weil … weil ich mit dir schlafen will. Ach … fuck, nein. Weil ich dich ficken will, okay? Und das, obwohl du mir gerade erzählt hast, welche Scheiße dir passiert ist.»
Ich weiß nicht, ob das die richtige Antwort ist, auf jeden Fall ist es eine, die mein Gesicht heiß anlaufen lässt. Okay. Vielleicht wäre jetzt die Gelegenheit, ihm zu sagen, dass ich das noch nie gemacht habe. Dass der Arzt nur deshalb relativ sicher sein konnte, dass mir das Schlimmste erspart geblieben ist, weil ich immer noch Jungfrau bin.
Ich schlucke, mache die Augen zu und … springe. Ich springe einfach. «Und wenn ich das auch will?»
«Aubree …» Noah schlingt die Arme um meinen Oberkörper und hält mich fest. Für einen Moment scheint er zu überlegen, was er tun soll. «Aubree», wiederholt er. «Ich will das so sehr, dass es weh tut. Aber das ist eine beschissene Idee.»
«Wieso bist du dir da so sicher?»
«Weil du mir gerade erst erzählt hast, dass irgendein Wichser dich unter Drogen gesetzt hat, verdammt. Was für ein Arschloch wäre ich denn bitte? Außerdem …» Er stockt und lauscht, dann sagt er mit einem Mal: «Fuck. Außerdem bekommen wir Besuch.»
«Was?» Im ersten Moment kapiere ich gar nicht, was er meint, dann höre auch ich die Geräusche auf dem Flur.
«Da ist jemand an der Tür.» Angespannt richtet er sich auf. «Ivy wollte doch erst morgen zurückkommen, oder?»
«Ja. Das hat sie mir zumindest geschrieben.»
«Tja», stößt er hervor. «Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich gerade ihre Stimme gehört habe.» Er lauscht einen Moment, dann gibt er ein Stöhnen von sich. «Und meinen verfickten Bruder hat sie auch dabei.»
Oh nein. Das ist nicht gut. Ich rutsche hastig von Noahs Schoß herunter und danke Gott, dass Ivy momentan keinen Schlüssel zu ihrer eigenen Wohnung hat. Ich schnappe mir meine Sachen vom Boden, und kaum habe ich den Kopf durch das T-Shirt gesteckt, sehe ich, dass mein Smartphone auf dem Tisch vibriert. Das Display leuchtet auf, als es sich Millimeter für Millimeter dreht. Dann verstummt es. Sofort aktiviere ich den Bildschirm. «Sie hat schon viermal angerufen.»
«Fuck», sagt Noah leise und holt sein eigenes Smartphone aus der Tasche. «Mein verfickter Bruder auch.»
«Gehört das eigentlich automatisch zusammen? Ich meine verfickt
und Bruder
?», witzele ich, was in dieser Situation vermutlich völlig überdreht wirkt. Könnte daran liegen, dass ich gerade ziemlich überdreht bin.
«Bei meinem Bruder ganz bestimmt», raunt er.
Ich mache mich auf den Weg zum Lichtschalter, renne prompt – wie Noah vorhin – gegen die Tischkante und stoße ein lautes Aua aus. Wir erstarren beide, weil es nur eine Sekunde später an der Tür klingelt. Die beiden haben das garantiert gehört.
«Aubree? Bist du da?»
Ich schlage auf den Schalter, und das plötzliche Licht lässt mich zusammenzucken. «Moment!», rufe ich laut in Richtung Apartmenttür und fahre mir nervös über den Kopf, nur um daran erinnert zu werden, dass ich meine Haare nicht ordnen muss. Mal wieder ein echter Vorteil dieser Frisur. Noah sieht da schon deutlich verstrubbelter aus.
Ich deute auf meinen Kopf und dann auf seinen, um ihn darauf aufmerksam zu machen, und mit fahrigen Bewegungen glättet er notdürftig sein Haar.
«Was ist los?», ruft Ivy. «Kommst du grad aus der Dusche? Sollen wir später wiederkommen?»
«Nein», rufe ich panisch. «Ich meine, nein, ich komme nicht aus der Dusche, ich habe nur gerade …» Hilflos sehe ich mich nach Noah um, der aussieht, als würde er gleich in haltloses Gelächter ausbrechen.
«Soll ich mich im Schrank verstecken?», wispert er. «Du könntest später nachkommen. Das war mit vierzehn mal eine verdammt heiße Phantasie von mir.»
«Idiot», fauche ich und würde ihm am liebsten etwas an den Kopf werfen. Meine Hände flattern umher, als könnte ich so eine Idee aus der Luft pflücken.
«Hi, Ivy», ruft Noah laut. «Äh … also … Aubree hat sich nur
eben …»
Was? Was???
«Sie hat sich … verletzt, ich mache ihr nur gerade etwas Brandsalbe auf die Hand. Dauert nur noch eine Sekunde.»
Warum um Himmels willen? Ich gucke Noah böse an, und er hebt hilflos die Schultern. Ich dachte, er kann so gut lügen!?
Dann fällt mir auf, dass er sein T-Shirt auf links gedreht hat und das Wäscheschild in seinem Nacken herausguckt. Oh Gott.
«Dein Shirt! », flüstere ich panisch und gestikuliere wild in Richtung des Wäscheschildchens.
Er zieht es aus und flitzt währenddessen ins Bad. Als er zurückkommt, hat er das Shirt richtig herum an und wirft mir eine Packung Kleenex zu. «Wickle dir eins um den Finger.»
«Ist das dein Ernst?»
«Natürlich ist das mein Ernst. Na los! Ich mach die Tür auf.»
Und während er zur Tür geht, reiße ich ein Tuch aus der Box und wickle es hastig um meinen Finger. Dann zerre ich Errol aus meinem Beutel, der neben dem Tisch auf dem Boden liegt, kippe die Stifte aus und ziehe mir das Journal auf den Schoß, als hätte ich seit Stunden nichts anderes getan, als in meinem Buch zu kritzeln. Wie dämlich das ist, geht mir erst im nächsten Moment auf. Was soll Noah bitte in der Zeit hier gemacht haben? Kreuzworträtsel? Aber ich habe keine Zeit mehr, die Stifte alle wieder einzusammeln.
Ich starre auf die leere Seite und habe überhaupt keine Ahnung, was ich schreiben soll. Oder malen. Mein Gott, in meinem Kopf ist gerade nur Chaos. Ich weiß nicht mal, was ich gerade fühle außer der Erleichterung, dass Noah es endlich weiß. Und mein Herzklopfen, weil wir uns gerade geküsst haben. Außerdem bekomme ich Panik bei
dem Gedanken, dass Ivy mir das ansehen kann. Wenn sie es wüsste …
In meinem Kopf höre ich Rhys Lewis verzweifelt singen: What if, what if, what if, what if …
Noah, Ivy und Asher reden im Flur miteinander. Ich schnappe mir einen Bleistift und skizziere schnell einen Notenschlüssel auf die leere Seite.
I can’t explain how I feel, but I can find a song that can.
Nervös kaue ich auf meiner Unterlippe. Das Lettering werde ich später fertigstellen müssen, denn schon kommt Ivy ins Wohnzimmer, und ich muss jetzt mein Schauspieltalent aktivieren. Gelangweilt klopfe ich mit dem Stift auf mein Journal und spreize meinen angeblich verletzten Zeigefinger ab.
«Oh shit, was hast du gemacht?»
«Ist beim Kochen passiert», sage ich und beiße die Zähne zusammen. Oh Gott, ich halte es nicht aus, sie anzulügen. Ich klappe Errol zusammen und stehe auf.
«Mist. Tut es sehr weh?»
«Alles halb so wild.»
«Wir haben auch was zu essen mitgebracht.» Sie hebt schief lächelnd einen Stapel Pizzakartons in die Höhe, und Asher, der hinter ihr auftaucht, hält je zwei Flaschen Bier in der Hand.
«Fuck, Aubree», stößt Asher hervor. «Und das alles wegen Dirk Nowitzki?»
Ich spüre genau, wie ich rot werde, vor allem, weil Ivy mir einen schnellen Blick zuwirft. Sie hat ihm mir zuliebe nichts gesagt, sagt mir dieser Blick.
Dann seufzt sie. «Tut mir leid. Ich habe Asher das Versprechen abgenommen, dass er dich nicht darauf anspricht, woran er sich aber offensichtlich nicht erinnern kann.»
«Aber es sieht echt interessant aus», schiebt Asher nach. «Scheiße, tut mir leid, wenn das falsch rauskam. Die kurzen Haare stehen dir wirklich gut.»
Noah schnaubt angriffslustig. «Kein Schwein interessiert sich für deine Meinung.»
Oh Gott, die beiden sind so was von verwandt! «Äh, danke,
Asher.» Mein Lächeln gerät wahrscheinlich zur Grimasse. «Ich muss mich noch dran gewöhnen.»
«Tja», sagt Noah, «die Pizza müsst ihr jedenfalls alleine essen, weil Aubree Enchiladas gemacht hat, und ich werde mindestens vier davon vertilgen.»
«Ich befürchte, sie sind mir etwas angebrannt», sage ich und halte meinen verbundenen Finger in die Höhe, obwohl da gar kein Zusammenhang besteht.
«Ist mir scheißegal. Das Schwarze kratze ich einfach ab.»
Ivy verzieht den Mund. «Sorry. Es war eine spontane Idee von uns, heute schon zu kommen. Wenn ich gewusst hätte, dass ihr zusammen kocht, hätten wir keine Pizza besorgt.»
«Die Enchiladas sind leider nicht vegetarisch.»
«Wieso leider? Gott sei Dank.» Noah geht an ihr vorbei in die Küche und ruft über seine Schulter: «Ich hol Teller. Will noch jemand Enchiladas? Nein? Wunderbar, dann bleibt mehr für mich.»
Asher verzieht den Mund, dann stellt er das Bier ab und läuft seinem Bruder hinterher, vermutlich um einen Flaschenöffner zu holen. Oder auch nicht. Kaum sind sie durch die Tür, kann man an den lauten Stimmen hören, dass sie streiten. Ivy lässt sich neben mich auf das Sofa fallen, und ich stopfe Errol und den Großteil der Stifte zurück in meine Tasche.
«Wie geht es dir? Alles okay?», fragt sie mich.
«Das hast du mich heute Morgen schon gefragt.» So wie jeden Morgen und eigentlich in jeder WhatsApp, die ich von Ivy bekomme. «Danke, es geht mir schon viel besser.»
«Du würdest mir sagen, wenn es anders wäre, oder?»
«Versprochen», sage ich schnell. «Hast du dir die Tür angesehen?
Jennas Cousin Thomas war heute da und hat das Schloss ausgewechselt. Es sieht aus wie neu.»
«Danke, dass du dich darum gekümmert hast. Dann habt Noah und du wieder Zimmer zurückgetauscht?»
«Ja, gerade eben.» Puh, da liefert Ivy mir doch die perfekte Ausrede. «Deshalb ist Noah auch hier, ich hatte noch was in seinem Zimmer vergessen, das hat er mir gebracht. Ach, weißt du was: Ich war vorgestern boxen.»
Ivy hat gerade einen Pizzakarton geöffnet und versucht, ein Stück vom vorgeschnittenen Teig abzureißen. «Du warst was?» Sie schüttelt ihre Hand aus, weil sie sich verbrannt hat.
«Boxen. In Quin’s Boxing Club. Noah hat mir die Adresse gegeben, und ich habe einen Anfängerfitnesskurs mitgemacht und hatte danach noch mit Quin ein Einzeltraining.»
«Wer ist Quin?»
«Ein Freund von deinem Bruder. Du kennst ihn gar nicht?»
Sie schüttelt den Kopf. «Und wieso ausgerechnet boxen?»
«Wieso nicht? Das Training hat mich total ausgepowert, ich weiß nicht, wann ich mich das letzte Mal so fertig und dabei so gut gefühlt habe. Quin ist in Ordnung. Er hat mir einen kostenlosen Probemonat spendiert. Nur weiß ich noch nicht, ob ich das annehmen kann.» Ich sehe in Richtung Küche. «Wie machen wir das jetzt? Bleibt Asher heute Nacht hier?»
«Nein, er hat mich nur gefahren. Ich kann mir nicht erlauben, noch mehr zu verpassen, und mein Stiefvater hat mich deswegen mehr oder weniger rausgeschmissen. Er will nicht schuld sein, dass ich nachher meine Credits nicht bekomme.»
«Ich habe dein Bett schon frisch bezogen, dann schlafe ich einfach
auf der Couch.»
«Das ist aber keine Dauerlösung, Aubree. Auf dem Ding bekommst du einen Rückenschaden. Hast du eigentlich schon was von deiner Agentur gehört wegen dieses Frühstücksflockenjobs?»
Ich erzähle Ivy davon, dass sie sich bereit erklärt haben, meine Reisekosten zu übernehmen. Schon in zwei Tagen geht es los. Vom Hotel sage ich ihr nichts, weil ich nicht darüber sprechen will, wie sehr es mir davor graut, noch einmal ins Wohnheim zu gehen.
«Hast du mit deiner Mom gesprochen?»
«Ja, habe ich. Sie war geschockt, aber sie wird ihren Anwalt auf das Foto ansetzen. Ich bin froh, dass sie es jetzt weiß.»
«Ich auch. Ehrlich. Ich liebe deine Mom, und ich glaube nicht, dass ich es geschafft hätte, sie anzulügen.»
«Sie liebt dich auch. Ich soll dich fragen, ob du Thanksgiving wieder bei uns verbringen willst. Sie würde sich wirklich freuen, aber sie wollte dich nicht selbst fragen wegen deinem Stiefvater. Du kannst dich schließlich nicht teilen, und sie will dir kein schlechtes Gewissen machen, wenn du lieber auf die Insel fahren willst.»
«Nein, ich kann mich nicht teilen.» Ivy hat ihre Hände unter die Oberschenkel geschoben, jetzt zieht sie sie wieder hervor und fängt an zu grinsen. «Aber meine Pizza.» Sie schiebt sich den Karton auf den Schoß und schwenkt ein Stück davon vor meiner Nase. «Ich wäre bereit, dir etwas davon zu überlassen. Es sind extra viele Peperoni drauf.» Als ich den Kopf schüttele, beißt sie mit einem Achselzucken hinein und gibt ein Stöhnen von sich. «All you need is love, pizza and Netflix
.»
«Enchiladas», wirft Noah ein, als er mit seinem Bruder aus der Küche kommt. «All you need is love, Enchiladas and Netflix
.» Er
trägt zwei Teller vor sich her. Auf dem einen eine einzige Tortillarolle, auf dem anderen mindestens die doppelte Menge. «Ich wusste nicht, wie viel du willst», sagt er entschuldigend zu mir, und ich nehme ihm die kleinere Portion ab.
«Danke.»
Unsere Finger berühren sich nicht, aber das ist auch gar nicht nötig. Ich habe auch so das Gefühl, dass mir Strom durch den Körper schießt, sobald er nur in meine Nähe kommt. Für einen Moment bin ich abgelenkt, weil ich beobachte, wie Noah sich neben dem Couchtisch auf den Boden setzt und die Gabel in seinem Essen versenkt. Die Enchiladas sind längst kalt, aber das scheint ihn nicht zu stören. Außerdem ist die Soße vollständig eingesogen, und an den Ecken ist der Käse verbrannt. Ich muss mich zwingen, auf meinen eigenen Teller zu gucken und Noah nicht beim Essen zuzusehen.
«Wir müssen noch ein zweites Bett besorgen», sagt Ivy zu Asher. «Aubree bleibt länger hier, und das Sofa ist zum Schlafen höllisch unbequem.»
«Ich könnte Jennas Onkel Joseph fragen», werfe ich schnell ein. «Er hat einen Gebrauchtwarenladen, und ich wette, er kennt jemanden, der ein Bett zu verkaufen hat. Oder ich fahre nach Claremont, dort gibt es ein Cash & Carry.»
Asher runzelt die Stirn. «Eigentlich sollte es eine Überraschung sein, und Ivy weiß auch noch nichts davon, aber ich habe schon ein Bett für dich bestellt. Es dauert nur noch ein paar Tage, bis es geliefert wird.»
«Ash.» Ivy sieht aus, als würde sie ihn im nächsten Moment abknutschen.
«Ich hoffe, das geht in Ordnung für dich, Aubree.»
«Natürlich. Wow, das ist … danke. Aber ich bezahle dir das selbstverständlich.» Hoffentlich hat er nicht so viel Geld dafür ausgegeben. So wie ich Asher kenne, wird er kaum auf den Preis geguckt haben. Zumindest nicht so, wie ich es tun würde.
Er winkt ab. «Du kannst das nächste Mal vegetarische Enchiladas machen, dann sind wir quitt.»
«Das kann ich auf keinen Fall an…»
Noah unterbricht mich. «Du solltest sein Angebot annehmen, Aubree.» Er spricht mit vollem Mund. «Blakelys lieben es, alles und jeden mit ihrem Geld zuzuscheißen. Es gibt ihnen ein gutes Gefühl. Muss was mit Macht zu tun haben, keine Ahnung.» Es ist nicht zu übersehen, dass er damit nur seinen Bruder ärgern will, und Asher wirft ihm unter halb gesenkten Lidern einen düsteren Blick zu.
Ich stelle meinen Teller ab. «Ich will dir das lieber zurückzahlen.»
Asher schüttelt langsam den Kopf. «Geld ist wirklich kein Problem, Aubree.»
Noahs Gabel klirrt geräuschvoll gegen den Teller. «Nein», bestätigt er. «Für einen Blakely ist Geld nie ein Problem. Es sei denn, man ist nicht gut genug, ein Blakely zu sein, so wie ich. Dann ist Geld eventuell doch ein Problem.»
«Ach ja?» Asher beugt sich vor. «Brauchst du Geld, Noah? Gibt es irgendwas, wovon ich nichts weiß? Du redest ja nicht mir, und ich bin kein Hellseher. Seit Dads OP
hast du ihn nur ein einziges Mal besucht, und da war zwischen euch noch alles in bester Ordnung. Du hattest einen beschissenen Anzug an, um ihm zu zeigen, was für ein Vorzeigesohn du sein kannst. Was ist los mit dir? Hast du ihn etwa um Hilfe gebeten, und er hat nein gesagt, weil du dich wie ein Arschloch aufgeführt hast?»
«Klar, was auch sonst.»
«Warum bittest du mich
nicht um Hilfe, verdammt?»
«Keine Ahnung», gibt Noah zurück. «Warum stecke ich meinen Finger nicht einfach in einen Mixer? Ich habe Dad nicht um Hilfe gebeten, weil ich verfickt noch mal nichts von ihm will. Oder von dir.» Sein Blick geht zu mir, dann atmet er tief durch. «Ich komme gut zurecht. Ohne Dad. Ich brauch sein beschissenes Geld nicht.»
«Wo ist dein Problem?», schnauzt Asher. Er ist sichtlich wütend.
«Es gibt kein Problem», gibt Noah so ruhig zurück, dass wir ihn alle überrascht anstarren. Mit einer lässigen Bewegung schiebt er sich den letzten Rest der Enchiladas in den Mund und kaut. «Echt lecker, Aubree. Ich liebe deine Enchiladas.»
«Das ist doch Bullshit, Noah», sagt Asher. Er hat noch keinen einzigen Bissen von seiner Pizza gegessen. «Was ist mit deinem Studium? Ist das das eigentliche Problem zwischen Dad und dir?»
«Das geht dich einen Scheißdreck an.»
«Vielleicht solltet ihr lieber unter vier Augen darüber sprechen», sage ich im selben Moment, in dem Ivy Asher eine Hand auf den Arm legt und eindringlich den Kopf schüttelt.
«Sorry, ich wollte euch nicht das Essen verderben.» Asher atmet tief durch und nimmt dann einen ebenso tiefen Schluck von seinem Bier. «Aber weißt du was, Noah? Mich geht es sehr wohl etwas an, wenn du Dad einfach im Stich lässt. Und das alles ohne irgendeine Erklärung. Aber das scheint genau dein Ding zu sein, oder? Andere im Stich zu lassen. Hast du bei Ebony genauso gemacht, oder willst du behaupten, du würdest dich noch um dein Pferd kümmern?»
«Alter, halt einfach die Schnauze.»
«Tut weh, wenn jemand die Wahrheit ausspricht, nicht wahr?»
«Könnt ihr jetzt bitte damit aufhören?» Ivy wirft mir einen hilflosen Blick zu, und ich weiß nicht, was ich tun soll. Einfach aufstehen und in die Küche gehen? Das wäre wahrscheinlich das Beste.
Ich habe meinen Teller schon abgestellt, als Asher weiterspricht. «Wo ist Ebony eigentlich? Hat Dad sie schon verkauft? Scheint dich ja alles einen Scheiß zu interessieren.»
Obwohl Noah versucht, sich nichts anmerken zu lassen, kann ich fast körperlich spüren, wie hart sein Bruder ihn mit diesem Vorwurf trifft, und am liebsten würde ich ihn mit mir wegziehen. Aber Asher ist noch nicht fertig. «Sicher, dass das da Rindfleisch auf deinem Teller ist?»
Was Asher damit andeutet, lässt mir den Atem stocken. Das ist so was von nicht witzig.
«Fick dich», stößt Noah mühsam hervor und presst danach fest die Lippen zusammen. Angewidert schiebt er seinen Teller von sich und steht auf. Für eine Sekunde verharrt er, bevor er seinem Bruder den Mittelfinger entgegenstreckt und dann aus dem Raum rauscht.
«Musste das sein?», fragt Ivy.
Vom Flur her knallt die Badezimmertür.
«Asher», stammle ich. «Du … du Arsch.»
Er zuckt zusammen. «Tut mir leid, okay? Aber ich weiß einfach nicht, was ich tun soll. Er redet nicht mit mir. Er lässt unseren Dad hängen, obwohl er eine schwere Operation hinter sich hat. Weißt du, was es gekostet hat, diese Familie wieder so einigermaßen zusammenzukitten? Und jetzt zerstört er das völlig ohne Grund. Einfach nur, weil er es kann, weil er das schon immer so gemacht hat.»
Ivy knallt ein Kissen gegen seinen Oberarm. «Im Augenblick bist du der Einzige, der hier etwas kaputt macht. Wieso kannst du nicht einmal in Ruhe mit ihm reden?»
«Verdammt, er weiß genau, welche Knöpfe er bei mir drücken muss. Es ist ihm scheißegal, was ich sage. Das prallt einfach alles an ihm ab. Schon als er klein war. Das ist … ein Talent.»
«Seine Superkraft, oder was?», fauche ich.
«Genau.» Asher sieht düster aus, als er das bestätigt. «Er ist ein verdammt guter Beobachter und hat das perfektioniert. Kommt wahrscheinlich vom Reiten. Oder vom Boxen, ich weiß es nicht. Er checkt dich ein paar Minuten ab und kennt deine wunden Punkte. Und dann, wenn du dich gerade sicher fühlst, drückt er auf den richtigen Knopf und lässt dich explodieren.»
«Nicht diesmal», sage ich aufgebracht. «Diesmal hast du in seiner Wunde gestochert.»
Aus dem Badezimmer kommen Würgegeräusche, und Ivy und ich springen beide gleichzeitig auf. Sie sieht mich überrascht an. «Willst du …?»
«Ja», sage ich schnell. «Ja, ich gehe.»