N
oah kotzt sich die Seele aus dem Leib.
Als ich vorsichtig die Tür aufdrücke, hält er sich mit den Händen an der Klobrille fest, und sein Körper verkrampft sich. «Scheiße», flucht er.
Unsicher bleibe ich stehen. Soll ich ihm ein Handtuch nass machen? Ihm über den Rücken streichen? Oder ihn doch lieber in Ruhe lassen? Ich entscheide mich für das Handtuch und drehe den Wasserhahn auf, um eine Ecke davon mit Wasser zu benetzen. In einer Würgepause halte ich ihm das feuchte Ende hin. «Er wollte dich doch nur provozieren, Noah.»
Er hebt stumm eine Hand, um mich zum Schweigen zu bringen, und ich beiße die Zähne zusammen. Aber er greift nach dem Handtuch und wischt sich damit über den Mund, während ich das trockene Ende festhalte. Mit einem Ächzen setzt er sich auf seine Fersen zurück, und ich beuge mich vor und drücke auf die Klospülung. Als ich mich wieder zu ihm umdrehe, lehnt er mit dem Hinterkopf an den Fliesen und sieht mich an. Sein Atem geht angestrengt, und in seinem Augenwinkel hängt eine Träne, was mich mehr trifft, als wenn ich einen Schlag in den Magen bekommen
würde. Es lässt ihn hilflos aussehen und so verletzlich. Ich schlucke und knete das Handtuch in den Händen.
Mit dem Handrücken wischt Noah sich über die Augen, und die Träne verschwindet. «Dieses Arschloch», stöhnt er. «Tut mir leid wegen deinem Essen, Aubree. Es war echt … lecker, aber …» Sofort presst er wieder die Lippen zusammen, weil sein Magen revoltiert.
«Das ist doch egal», sage ich schnell und schmeiße das Handtuch in den Wäschekorb. «Reden wir nicht mehr davon.» Worüber ich wirklich gern reden würde, ist das, was gerade passiert ist. Es ist offensichtlich, dass Noah sein Pferd nicht so gleichgültig ist, wie Asher es behauptet hat. Aber ich weiß nicht, was zwischen ihm und seinem Dad vorgefallen ist. «Was ist mit Ebony passiert? Hat dein Dad sie wirklich verkauft?»
Er schließt die Augen und atmet ruhig ein und aus.
«Einfach so?» Ungläubig starre ich ihn an. «Aber wieso? Mit welcher Begründung?»
«Aubree», gibt Noah mit einem Seufzen von sich. «Es gibt keine Begründung. Ich rede nicht mit meinem Dad.»
«Warum nicht?»
«Weil …» Er rappelt sich hoch. «Ach, ist doch egal. Ich hab keinen Bock auf die Scheiße. Hast du eine Zahnbürste, die du mir leihen kannst?» Sein Blick sucht die Ablage über dem Waschbecken ab. «Oder einfach nur Zahnpasta?»
«Sicher …» Ich wünschte, er würde mir sagen, was zwischen ihm und seinem Dad vorgefallen ist. Ich habe ihm eben anvertraut, was in New York passiert ist, und seine Sache kann wohl kaum schlimmer sein. Vertraut er mir nicht genug? Oder ist es einfach der falsche Zeitpunkt mit seinem Bruder und Ivy draußen vor der Tür? «Du
kannst meine nehmen. Das macht mir nichts aus.» Ich ziehe die Zahnbürste aus der Halterung und halte sie Noah hin.
«Was ist das?»
«Ähm … Meine Zahnbürste?»
Er dreht sie in der Hand hin und her. «Ist die aus Holz?»
«Das ist Bambus, glaube ich. Ich mag einfach kein Plastik. Erst recht nicht in meinem Mund.»
«Heißt das, du nimmst nur natürliche Sachen in den Mund?»
Keine Ahnung, was Noah jetzt denkt, aber meine Gedanken kann er mir garantiert ansehen, weil mein Gesicht aufglüht wie eine Tomate. Ich weiche meinem eigenen Spiegelbild aus und spiele mit der kleinen Dose, in der ich meine Zahnputztabletten aufbewahre. «Auf jeden Fall nichts, das mit Erdöl gemacht wird.»
«Nichts an mir ist aus Erdöl.»
Es ist mir klar, dass er mich damit nur von Ebony und seinem Vater ablenken will, aber es wirkt. Sein Grinsen strahlt mir aus dem Spiegel entgegen und fährt mir wie Strom direkt in den Unterleib.
«Nur, damit du’s weißt.» Er nimmt mir die Dose aus der Hand. «Und das ist deine Zahnpasta?» Er schraubt den Deckel ab und fischt eine der Tabletten heraus. «Ich habe schon echt oft was geschluckt, was ich nicht kenne, aber das hier …»
«Du musst sie zerkauen. Ist wie Zahnpasta nur ohne Wasser.»
Er steckt sich die Tablette in den Mund und beißt zu. «Willst du mir beim Zähneputzen zugucken?»
«Oh, sorry, nein, natürlich nicht. Ich lass dich dann mal in Ruhe.» Ich drehe mich zur Tür.
«Aubree?»
Ich sehe über die Schulter zurück. «Ja?»
«Es macht mir nichts aus, wenn du zuguckst.»
Sofort wird mein Gesicht wieder heiß. Wieso muss eigentlich alles, was aus seinem Mund kommt, irgendwie unanständig klingen? Als hätte er einen speziellen Filter dafür. Oder, oh Gott, ist dieser Filter vielleicht nur in meinem Kopf, und Noah meint das gar nicht so?
«Ich sehe dich auch gerne an.» Er schiebt die Bürste in den Mund und fängt an, sie hin und her zu bewegen. Etwas von dem weißen Schaum klebt an seinen Lippen. Dieser Moment ist so seltsam intim, dass mir die Kehle eng wird.
«Ich … bis gleich», sage ich und schließe hastig die Tür hinter mir, um Noah allein zu lassen.
Oh mein Gott, es kann doch nicht sein, dass es mich sogar anmacht, wie er seine Zähne putzt! Das ist doch nicht normal. Für einen Moment lehne ich mich an die Wand und atme tief durch. Ich weiß nicht, warum das so starke Empfindungen in mir auslöst. Vielleicht weil Zähneputzen etwas so Alltägliches ist, und Alltag hatte ich in letzter Zeit nicht viel. Ich stelle mir vor, wie Noah sich am Waschbecken rasiert oder wie er auf der Bettkante sitzt und seine Strümpfe anzieht. Es ist einfach nur lächerlich, dass mir solche Vorstellungen die Kehle eng werden lassen. Es ist lächerlich, dass ich genau das sehen will.
Als ich ins Wohnzimmer komme, haben Ivy und Asher den Fernseher angestellt und gucken eine Folge Riverdale. Asher lacht über etwas, das Betty Cooper von sich gibt. «Sie ist wirklich knallhart», sagt er. «Das Beste an der ganzen Serie.» Aber als er mich sieht, räuspert er sich. «Tut mir leid, Aubree.»
«Ist schon okay. Noah putzt sich nur noch die Zähne. Aber anstatt bei mir solltest du dich lieber bei ihm entschuldigen.»
«Ich denke drüber nach.» Er presst die Lippen zusammen und blickt wieder zum Bildschirm.
Ivy dreht sich zu mir um, als ich mich neben sie setze. «Dein Handy hat vibriert.»
«Okay, danke.» Ich nehme es vom Tisch und entsperre den Bildschirm. Eine einzige neue Nachricht wird mir angezeigt, aber die ist … von Ivy. Was …?
Irritiert schwenkt mein Kopf zu ihr, aber Ivy starrt hochkonzentriert auf den Bildschirm. Mit einem Kopfschütteln öffne ich unseren Chatverlauf.
Ivy:
Oh mein Gott, du und Noah??? Sag mir, dass das nicht wahr ist.
Mein Kopf geht wieder zu ihr, aber Ivy sieht mich nicht an, sondern kuschelt sich entspannt an Ashers Brustkorb. Ich lasse meine Daumen über das Display jagen: So ein Quatsch. Wie kommst du denn darauf?
Oh Gott, Aubree, das ist armselig. Eine ganz armselige Lüge. Löschen, löschen, löschen. Ivy ist meine beste Freundin, und hier geht es um ihren Stiefbruder, da kann ich unmöglich behaupten, sie würde sich das nur einbilden.
Aubree:
Woran hast du es gemerkt?
Ich lehne mich wieder zurück und versuche mich zu entspannen. «Ist das die vierte Staffel?», frage ich, und dabei pocht mein Herz wie
verrückt.
«Ja», sagt Ivy. «Nach der blöden Musicalfolge in Staffel drei wollte ich die Serie eigentlich nicht mehr weitergucken. Oh Gott, ich hasse es, wenn sie singen. Aber dann konnte ich doch nicht anders.»
«Ging mir genauso.»
Im Augenwinkel kann ich ihr Display aufleuchten sehen. Sie liest meine Nachricht, und dann tippt sie. Sie tippt sehr lange. Unglaublich lange. Was zum Teufel schreibt sie da alles? Endlich schiebt sich zwischen meinen Fingern mit einem Whoop
ihre Antwort hoch.
Ivy:
1. Ihr hattet das Licht aus, das konnte man vom Flur aus sehen.
2. Du hast dir angeblich den Finger verbrannt, aber das Essen war schon kalt.
3. Noah hat nicht ein einziges Foto auf Instagram hochgeladen. Schon seit Tagen nicht.
4. Er hat dich vor Asher verteidigt.
5. Du bist ihm hinterher, als er kotzen musste.
6. Grover ist hier.
7. Noah beobachtet dich, wenn du nicht hinsiehst.
8. Du beobachtest Noah, wenn er nicht hinsieht.
9. Wenn sich eure Blicke dann doch mal treffen, kriegt man Angst, dass euch gleich Herzchenkonfetti aus den Ohren schießt.
Soll ich noch mehr aufzählen?
Aubree:
Nicht nötig.
Ivy:
Was ist passiert?
Aubree:
Es ist eigentlich noch gar nichts passiert. Er ist einfach nett zu mir, okay?
Ivy:
Denkst du, das ist im Augenblick eine gute Idee? Nicht weil es Noah ist, ich meine ganz allgemein. Brauchst du nicht eher etwas Zeit für dich?
Aubree:
Ich weiß verdammt genau, dass das gerade keine gute Idee ist.
Ihre Hand drückt meine ganz fest, und sie lässt sie erst los, als Noah wieder ins Wohnzimmer kommt.
«Noah, hör zu …» Asher rafft sich auf und will etwas sagen, von dem ich hoffe, dass es eine Entschuldigung ist, aber Noah unterbricht ihn sofort. «Schlaft ihr eigentlich heute Nacht hier?», fragt er.
Allein das Wort schlafen
aus Noahs Mund sorgt dafür, dass mir das Herz in die Hose rutscht. Weil ich dabei sofort eintausend Bilder im Kopf habe, und die haben nichts mit Ivy und Asher und schon gar nichts mit «Er ist einfach nur nett zu mir» zu tun.
«Ich hoffe, ich kann Ivy noch überreden, mit in meine Wohnung zu kommen.» Asher sieht Ivy mit fragend hochgezogenen Brauen an. «Ich könnte dich morgen früh zur Uni fahren. Du würdest auch garantiert nicht zu spät kommen.»
«Ich muss wirklich lernen, Ash. In den letzten Tagen habe ich zu viele Vorlesungen versäumt, und ich bekomme meine Scheine nicht zusammen, wenn du mich weiter ablenkst.»
«Aber ich muss morgen sowieso nach Pennsylvania. Mein Flieger geht um halb neun, ich würde …»
«… du würdest mich auf jeden Fall vom Schlafen abhalten.» Sie lacht leise, und Noah stößt ein Schnauben aus.
«Wie auch immer», sagt Noah. «Ich geh jetzt pennen.» Er schnappt sich sein Handy vom Tisch, wo er es vorhin neben meinem
hat liegen lassen, und streckt die Hand dann nach unseren Tellern aus. Ich sehe genau, dass er vorhat, sie wegzuräumen, aber dann lässt er den Arm sinken. Es ist Ashers Blick, der ihn zurücktreten lässt. Egal, wie sehr er seinen Vater hasst, er wurde von ihm gut erzogen, auch wenn er das vor seinem Bruder nicht zeigen will.
«Dann bis irgendwann.» Er winkt knapp und geht.
«Schlaf gut», krächze ich, weil das die denkbar schlimmste Verabschiedung ist, die ich mir vorstellen kann.
«Ja, schlaf gut», sagt Ivy und wirft mir einen undeutbaren Blick zu.
Ich liege auf dem Sofa, und Ivy hatte recht: Es ist
höllisch unbequem. Ganz egal, in welche Richtung ich mich drehe, es wird nicht besser. Man spürt jede Feder im Rücken, was im Sitzen komischerweise gar nicht auffällt. Ich rutsche weiter runter, bis diese eine besonders gemeine Feder nicht mehr in meine Hüfte pikst. Dafür sticht sie mir jetzt in die Seite.
Asher ist gefahren, nachdem die Folge zu Ende war, und Ivy und ich haben viel zu lange geredet. Über Noah, meine Mom und ihren Stiefvater. Darüber, wie viel Sorgen sich Asher um seinen Bruder und seinen Dad macht und dass er einfach nur Angst hat, die beiden werden sich niemals aussprechen. Ivys erste Vorlesung morgen beginnt um acht. Wir haben noch zusammen frische Wäsche über dem Sofa ausgebreitet, und am liebsten hätte ich in Noahs Bettwäsche geschlafen, was bescheuert ist, ich weiß. Aber sie liegt noch im Wäschekorb im Badezimmer und riecht nach ihm.
Taylor hat mir eine Nachricht geschickt und mich gefragt, wie es
mir geht und wann ich nach New York zurückkomme. Ich habe ihm noch nicht geantwortet, aber weil ich sowieso nicht schlafen kann, wische ich jetzt über den Bildschirm.
Aubree:
Tut mir leid, dass ich mich so lange nicht gemeldet habe. Ich komme übermorgen für eine Aufnahme nach NY
. Vielleicht können wir uns dann treffen?
Taylor:
Klar, das machen wir. Wie wäre es im Footprints, wenn du nicht ins Wohnheim kommen willst.
Aubree:
Ich muss sowieso ins Wohnheim und den Zimmerschlüssel abgeben.
Taylor:
Heißt das, du kommst wirklich nicht zurück?
Aubree:
Strout hat mich rausgeschmissen, Taylor. Also ja.
Taylor weiß nichts von dem, was auf der Verbindungsparty passiert ist. Er war nicht dabei und ist am nächsten Morgen nur zufällig vorbeigekommen, als es mir so schlecht ging. Ich würde gerne wissen, ob er mit Ginnifer gesprochen oder Gerüchte darüber gehört hat, und überlege gerade, wie ich meine Frage formulieren soll, als eine Nachricht von Noah eintrifft. Und sofort bin ich hellwach.
Noah:
Kannst du reden?
Aubree:
Ja. Ivy schläft schon.
Die Häkchen färben sich blau, und fast in derselben Sekunde verschwindet die Online
-Meldung von ihm, und mein Handy, das ich lautlos gestellt hatte, vibriert von seinem Anruf.
«Hey.» Seine Stimme klingt atemlos, als hätte er gerade einen Sprint hingelegt.
«Hey.» Verdammt, meine Stimme klingt ganz genauso. «Ich dachte, du schläfst schon.»
«Musste noch lernen.»
Stimmt. Ich darf nicht vergessen, dass ich hier die Einzige bin, die im Augenblick nichts für die Uni machen muss und nur auf der faulen Haut liegt.
«Wegen meinem Bruder …», beginnt Noah und stößt ein Seufzen aus. «Noch mal sorry für den Streit und das vermieste Abendessen.»
«Ist schon in Ordnung. Asher sollte sich bei dir entschuldigen, er hat sich wie ein Arsch aufgeführt. Du kannst nichts dafür.»
«Ich kann nichts dafür? Wow, das ist eine ganz neue Erfahrung für mich.» Er lacht auf, aber ich höre die Bitterkeit darin.
«Ivy meint, er hat Angst davor, dass das mit dir und deinem Dad vollkommen in die Brüche geht. Ich glaube, wenn ihr mal in Ruhe über alles reden würdet …»
«Hast du es ihr erzählt?»
«Was? Nein. Ich … habe nichts gesagt. Also nicht von mir aus. Aber Ivy hat gefragt.»
«Okay», sagt er leise. «Denkst du nicht, du kannst ihr das anvertrauen?»
«Wirklich? Jetzt schon? Sie …»
«Moment», unterbricht er mich. «Scheiße, reden wir gerade aneinander vorbei? Ich dachte, es geht darum, was in New York passiert ist. Du hattest ihr das mit den Drogen noch nicht gesagt.»
«Nein, äh …» Oh verdammt. Meine Finger umkrampfen das Telefon fester. «Ich meinte, sie hat mich gefragt, ob ich …» Meine
Stimme schwankt und stockt schließlich.
«Ob du …?», hakt er nach.
«Ach, vergiss es, ist nicht so wichtig.»
«Okay», sagt er. «Jetzt hab ich’s kapiert. Du redest von uns. Heißt das, Ivy weiß es?»
Von uns. Ich muss schlucken. «Sie hat etwas vermutet, aber ich habe ihr gesagt, es wäre nichts passiert.» Noch nicht.
Noah atmet mehrmals hintereinander tief in den Hörer.
Dass er nichts sagt, verunsichert mich. Ich drehe mich auf die Seite, und sofort bohrt sich die Feder in mein Kreuz. Verdammtes Sofa. «Ist alles in Ordnung?»
«Nein», sagt er. «Es ist scheiße, dass ich hier alleine bin und du unten auf dem Sofa liegst.»
Ich schlucke. «Sei froh, dass du ein bequemes Bett hast. Ich liege hier ziemlich hart.»
«Nicht dieses Wort, Aubree. Nicht dieses Wort, okay?»
Oh mein Gott. «Ich meine, es ist ungemütlich wegen der Polsterfedern, und du hattest mit allem recht. Ich vermisse dein Bett. Es ist das beste Bett, in dem ich je geschlafen habe.»
«Fuck», sagt Noah.
«Ich liebe es, wenn du Fuck sagst. Also wenn du es auf diese Art sagst.» Ich werde rot. Gott sei Dank kann Noah das nicht sehen. «Aber egal. Du hast das bequeme Bett, dafür habe ich Grover.»
«Großartig.»
Ich muss lachen. Aber dann verebbt meine Heiterkeit abrupt, weil Noah sich bewegt und ich am Rascheln hören kann, dass er im Augenblick in genau diesem bequemen Bett liegt. Aus irgendeinem Grund bin ich davon ausgegangen, dass er am Schreibtisch sitzt, was
total bescheuert ist. Sein Zimmer ist winzig. Warum sollte er es sich zum Telefonieren nicht bequem machen?
«Hast du deine Zahnbürste weggeworfen?», fragt Noah.
Eigentlich sollte ich mich über diese Frage wundern. Aber ich wundere mich bei Noah über gar nichts. «Nein, ich habe sie eben benutzt.»
«Okay.» Er atmet leise aus. «Das heißt, du findest das nicht ekelig.»
«Nein.» Er doch auch nicht, oder? Sonst hätte er sie nicht benutzt. «Ich hätte dir gerne zugeguckt», sage ich und beiße mir im selben Moment auf die Zunge. Gott, Aubree, wie blöd hört sich das denn an?
«Beim Zähneputzen?» Noah lacht leise. «Ich will dir auch dabei zugucken. Und nicht nur beim Zähneputzen. Ich will zusehen, wie du im Badezimmer deine Augen schminkst. Oder noch mal sehen, wie du Chicken Wings isst.» Seine Stimme wird ruhiger, tiefer, und sofort ist dieses warme Summen in meinem Kopf. «Jetzt du.»
Ich weiß nicht so recht, was ich sagen soll, und eigentlich habe ich auch schon genug Blödsinn von mir gegeben, deshalb nehme ich etwas Harmloses. «Ich würde gerne sehen, wie du Woodstock streichelst.»
«Kein Ding. Dann würde ich gerne sehen, wie du auf ihm reitest. Hast du Lust, das auszuprobieren?»
Auf dem Riesenvieh? Nicht unbedingt. Aber Noahs Stimme klingt sofort eine Spur heller, als würde er sich wirklich darauf freuen, mir das zu zeigen. «Warum nicht? Ja.»
Er sagt «Gut», aber was ich in meinem Kopf höre, ist «Hm, ist das lecker», was paradox ist.
«Ich will auch sehen, wie du Kussgeräusche mit deiner Hand
machst oder wie du irgendwas in ein Mikrophon sprichst. Scheißegal was. »
«Und wenn es etwas total Langweiliges ist? Werbung für einen Steuerberater oder so was?»
«Egal. Ich will es trotzdem sehen.»
«Na gut. Aber nur, wenn ich dann zugucken darf, wie … wie du boxt.»
Er seufzt. An seinem Zögern merke ich, dass er eigentlich nein sagen will, aber dann gibt er doch nach. «Wenn es sein muss. Aber ganz ehrlich, wahrscheinlich kann ich mich dann kein bisschen konzentrieren und kriege nur eins auf die Fresse. Quin wird sich vor Lachen ins Hemd pissen.»
Ich verziehe das Gesicht. «Ich will zusehen, wie du boxt, aber ich will nicht zusehen, wie du eins auf die Fresse kriegst.»
«Ich überleg mir was», sagt Noah.
«Und da wäre noch etwas», fange ich an und kratze meinen Mut zusammen, weil jetzt etwas Wichtiges kommt. Etwas Intimes. «Ich würde gerne alle deine Tattoos sehen. Also lesen, meine ich.»
«Wirklich alle, Aubree?»
«Natürlich alle. Oder … Oh mein Gott, wo überall hast du welche?» Mein Gesicht glüht sofort auf, und meine Stimme überschlägt sich fast.
Noah bricht in Gelächter aus. «Ein oder zwei sind an … interessanten Stellen», sagt er. «Die zeige ich dir unter der Dusche. Weil ich dann nämlich im Gegenzug sehen will, wie du dich einseifst.»
Atmen. Ganz ruhig atmen, Aubree.
Aber das geht nicht, verdammt. Ich bekomme keine Luft. Mein Puls geht so schnell, als hätte ich gerade eine halbe Stunde mit dem Battle Rope gekämpft. Ich
drehe mich auf den Rücken und starre an die Zimmerdecke über mir, wo der Lichtschein von draußen einen schmalen hellen Streifen hinwirft, und versuche, meine Atmung zu kontrollieren.
Aber Noah ist noch nicht fertig, und seine Stimme hat wieder dieses umwerfende Timbre, als er weiterspricht. «Und dann will ich sehen, wie du kommst.»