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oah hat sonst nichts weiter geschrieben, und ich frage mich, was los ist. Die Nachricht klang genervt, sogar wütend. Als ich versucht habe, ihn anzurufen, ging nur die Mailbox ran, deshalb gehe ich, als ich endlich im Wohnheim ankomme, direkt in den vierten Stock zu seinem Zimmer. Der Anblick der Reitstiefel neben Noahs Fußmatte löst ein warmes Gefühl in meinem Brustkorb aus. Ich berühre den Schaft mit den Fingerspitzen, das Leder ist glatt und die Kante überraschend scharf.
Vom Stall bis hierher habe ich mit dem Bus fast zwei Stunden gebraucht. Weil es kurz vor der Ankunft in Dartmouth anfing zu regnen, bin ich jetzt durchgefroren und hoffe nur, er ist auch da. Mit zu schnell pochendem Herzen klopfe ich an die Tür und warte. Hinter mir geht die Aufzugtür, und ich fahre herum.
«Hey, Aubree.» Kennesaw kommt mit zielstrebigen Schritten den Flur herunter. Er trägt mehrere Plastiktüten in den Händen.
«Oh … hallo.» Ich starre wohl ziemlich blöd auf die Tüten, denn Ken hebt sie demonstrativ hoch und grinst breit.
«Weißt du schon das Neuste? Ich wohne jetzt hier. Seit heute. Und auch noch in einem Zimmer mit Küchenzeile. Das ist ein komplett
anderes Leben. Die Beschwerdebriefe haben sich echt gelohnt.»
«Wow … das ist toll.» Meine Stimme klingt längst nicht so begeistert, wie ich es beabsichtigt habe. «Weiß Jenna das schon?»
Er schüttelt den Kopf, und seine langen Haare bleiben am Knopf seiner Jeansjacke hängen. «Ich will sie heute Abend mit einem Essen überraschen, also lass ja nichts durchsickern. Kannst du das mal kurz halten?» Ohne meine Antwort abzuwarten, drückt er mir die Henkel zweier Tüten in die Hand. «Vorsichtig, da sind Weinflaschen drin.»
Ooookay. Offenbar hat er sich einiges für den Abend mit Jenna vorgenommen. Die Tüten sind echt schwer. Und während Ken erst sein Haar zurückstreicht und dann nach seinem Türschlüssel kramt, formuliere ich in Gedanken schon die Textnachricht an Jenna, um sie vorzuwarnen. Denn ich muss sie warnen, oder? Ich kaue auf meiner Wange. Ja. Ja, ich denke schon.
Kennesaw schließt das Zimmer genau gegenüber von Noahs auf, nimmt mir die Tüten ab und bringt sie hinein. Ich schätze, es ist sinnlos, noch einmal an Noahs Tür zu klopfen, hinter der sich sowieso nichts rührt. Er ist wirklich nicht da. Ich versuche, die Enttäuschung zu verdrängen, aber sie baut sich trotzdem in meinem Magen zu einem unangenehmen Druck auf. «Äh, Ken?»
«Ja?» Er hat sich einen Schokoriegel aus einer der Tüten geschnappt, reißt die Verpackung auf und beißt ein großes Stück ab.
«Du hast nicht zufällig Noah gesehen?» Ich deute auf Noahs Zimmertür.
Er kaut an seinem Snack herum. «Keine Ahnung, ich kenne ihn noch nicht. Heute morgen kam so ein Typ mit einem abartigen senfgelben T-Shirt aus dem Zimmer. Hab aber nicht mit ihm geredet.»
Ein Typ mit den faszinierendsten grünen Augen der Welt?
, will ich ihn fragen, räuspere mich aber dann. «Dunkelblonde Haare und ziemlich viele Tattoos?»
«Nein, eigentlich nicht. Der war dunkelhaarig.»
«Oh. Dann war es nicht Noah.»
«Wenn du das sagst. Aber ich muss jetzt hier weitermachen. Jenna kommt um halb acht von der Arbeit nach Hause. Ihr Onkel Joseph hat ihr wieder eine Schicht im Laden aufgehalst. Sie wird wahrscheinlich total dankbar sein, wenn ihr jemand was zu essen kocht. Also so richtig dankbar.» Er wackelt mit einer Augenbraue.
Ich muss mich zusammenreißen, um keine Grimasse zu ziehen. «Dann halte ich dich nicht länger auf. Mach’s gut!»
Ich hebe die Hand, und noch bevor ich im Aufzug bin, habe ich mein Handy rausgeholt und Jenna eine Nachricht getippt.
Aubree:
Schockmoment! Kennesaw ist gerade im vierten Stock eingezogen und will dich heute Abend bekochen. Er hat Wein gekauft. Ziemlich viel Wein. Und er denkt, dass du dafür dankbar sein wirst. SEHR
dankbar. Wenn du das eher nicht bist, solltest du dich vielleicht nicht im Wohnheim von ihm erwischen lassen. Bist du noch bei deinem Onkel?
Es dauert keine Minute, bis sie antwortet.
Jenna:
Verdammt. Ich esse irgendwo anders. Vielleicht frage ich meine Tante, ob ich bei ihnen was kriege.
Aubree:
Oder du übernachtest bei Thomas. ;-P
Jenna:
Schön wär’s. Thomas hat heute Abend ein Date. Hat mir mein Onkel verraten.
Aubree:
Oh nein. Das tut mir leid.
Jenna:
Ist nicht so schlimm. Klingt jetzt vielleicht gemein, aber das wird eh nichts. Sie ist schrecklich eingebildet. Und sie steht auf Arztserien. Thomas weiß es zwar noch nicht, aber der Abend wird schrecklich für ihn. ;-)
Aubree:
Du könntest ihm einen Tipp geben.
Jenna:
Ich bin doch nicht blöd. Nach diesem Abend wird er mich vielleicht in ganz neuem Licht sehen. :-)
Nachdem ich ihr auch einen lachenden Smiley geschickt habe, schreibe ich Noah eine Nachricht, dass ich wieder da bin. Überraschungen sind ganz offensichtlich keine gute Idee. Mit geschulterter Tasche laufe ich die beiden Stockwerke nach unten zu Ivys Apartment und springe erst einmal unter die Dusche, um wieder warme Füße zu bekommen. Ich habe ein frisches Shirt angezogen und rubble mir gerade mit einem Handtuch über den Kopf, als mir auffällt, dass mein Handy mit Noahs Bild aufleuchtet.
Ich hechte über die Sofalehne und schnappe mit das Telefon, um mit atemloser Stimme «Hallo?» in das Mikro zu stammeln.
«Hier ist Quin. Hallo, Bitsy.»
Überrascht nehme ich das Gerät vom Ohr. Nein, ich habe mich nicht getäuscht, Quin ruft mit Noahs Handy an. «Hi, Quin. Was … Wieso …», stottere ich. Ich habe sofort ein ungutes Gefühl.
«Wo bist du, Chica?»
«Zu Hause, ich meine im Wohnheim. Wieso rufst du von Noahs Handy an?» Hat Noah das irgendwo liegen lassen? Hat er gar keine
Codesperre drin?
«Du hast versucht, ihn zu erreichen, hab ich gesehen. Wäre, glaube ich, eine ganz gute Idee, wenn du mal in den Club kommst.» Quins Tonfall ist locker wie immer, aber der angespannte Unterton entgeht mir dennoch nicht.
«Will Tony mir unbedingt den Russian Twist
mit diesem Seil zeigen oder was?» Ich versuche mich an einem Scherz, aber der geht in die Hose.
«Beim nächsten Mal vielleicht, Bitsy. Es geht um Noah. Er hat gerade ein Extratraining mit Elvis.»
«Oh, okay.» Was will Quin mir damit sagen? Ich kann ihm überhaupt nicht folgen. Weil ich nichts darauf erwidere, gibt Quin ein angestrengtes Lachen von sich.
«Du kennst Elvis, der Typ ist ein Vollidiot, aber er hatte heute einen schlechten Tag und ist ziemlich aggressiv. Und im Augenblick sieht es so aus, als würde Noah sich von diesem Wichser einfach nur verprügeln lassen.»
Oh Gott. «Ist Noah verletzt?» Mir wird flau.
«Bisher nicht.»
«Was heißt bisher? Verdammt, Quin. Kannst du Noah ans Telefon holen?» Das Blut rauscht mir mit einem Mal in den Ohren. So laut, dass ich meine eigenen Gedanken kaum hören kann. Als wäre die Verbindung zu meinem Gehirn unterbrochen.
«Die beiden trainieren noch. Ich sag’s ganz ehrlich, das ist gerade eine beschissen einseitige Angelegenheit. Ich schätze, Noah braucht gleich jemanden, der ihn abholt. Kannst du das übernehmen?»
Ich werfe das Handtuch auf den Tisch und versuche, mit einer Hand meine Jeans anzuziehen. «Natürlich. Aber sag mir jetzt
verdammt noch mal, was genau passiert ist!»
«Ich schätze, Elvis hatte einfach einen echten Scheißtag. Offenbar hat er eine Menge Kohle verloren. Tja, und Noah war eben nicht besonders nett zu ihm. Hat ihn provoziert.»
Ich bin wie betäubt. Noah hat wieder Ärger provoziert. Aber warum hat er das getan? Er nimmt Elvis doch gar nicht ernst, was ist denn heute vorgefallen? Und was meinte er damit, dass er heute schon genug Überraschungen hatte?
«Ich komme sofort.»
«Gut.» Quin klingt erleichtert. «Noah war auch vor Elvis schon völlig fertig. Hat sich am Boxsack abgearbeitet. Minutenlanges Power Boxen und Punch-out-Drills. Er ist durch. Und ich sag’s nur ungern, aber die Scheiße hatten wir schon mal. Mit ’nem anderen Kunden. Ist schon etwas länger her, kurz nachdem Noah hier angefangen hat. War nicht dramatisch, aber mir wäre es lieber, du würdest ihn abholen.»
Ich zögere keine Sekunde. «Bin schon unterwegs.»
«Nur das wollte ich hören.»
Ich lege auf und kann für einen Moment nicht mehr tun, als geschockt den Kopf zu schütteln. Was geht da vor sich? Was geht in Noah vor? Warum will er unbedingt verletzt werden? Warum hat er mich nicht angerufen, verdammt? Die Fragen rasen mir unkontrolliert durch den Kopf, und ich muss mich zusammenreißen.
Als ich eine Minute später die Apartmenttür aufreiße, berührt meine Hand dabei eine kleine raue Stelle am Türrahmen, und ich halte für einen winzigen Augenblick inne. Es ist die Stelle, die Thomas neu lackiert hat und an der Noah mit seinem T-Shirt hängengeblieben ist. Durch die Stofffasern hat sich ein Muster in den Lack gedrückt, das ich mit den Fingerkuppen ertasten kann. Ich schlucke, dann
werfe ich die Tür hinter mir zu.
Ich kann Noah einfach nicht verstehen. Mich würde er vor allem beschützen. Und nicht nur mich, auch Woodstock, Frida, Ivy und sogar seinen Bruder. Nur sich selbst nicht.
Und jetzt muss ich ihn dazu bringen, sich selbst zu schützen.