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» U nd dann?« Neugierig beuge ich mich zu ihr herüber.
Bemüht, unauffällig zu wirken, schaut sie sich um und sagt langsam: »Nichts …«
Das Lächeln, das ihre Lippen umspielt, kommt zwar nicht überzeugend rüber, aber meines ist genauso gestellt wie ihres. Damian, der absolute Herzensbrecher, und Solea. Das klingt viel zu klischeehaft fürs echte Leben, auch wenn ich ihr glaube, dass nach ihrem Streit nichts mehr passiert ist, weil sie zu mir gerannt ist. Wortwörtlich gelaufen, da sie vollkommen außer Atem und mit roten Wangen angekommen ist. Ich habe heute im Hotel eine Frühschicht eingelegt und wurde an der Rezeption zum hundertsten Mal gefragt, wann der Fitnessraum geöffnet ist, und sicherlich zum tausendsten Mal, von wann bis wann das Frühstück stattfindet. Umso erleichterter war ich, als ich meine beste Freundin in der Lobby sah. Schon in dem Moment, in dem sie sich zu mir umgedreht hat, ist mir aufgefallen, dass etwas nicht stimmt.
Jetzt steht sie vor mir, mit hängenden Schultern, und ich nehme sie trotz der Bauchschmerzen, die ich bekomme, in die Arme. Schließlich ist sie meine beste Freundin.
»Jules? Darf ich mich bei dir ausschlafen? In der WG herrscht zurzeit schlechte Stimmung.«
Ohne dass sie es ausspricht, bin ich mir sicher, dass nicht in der ganzen WG schlechte Stimmung herrscht. Meine Vermutung, dass es mit Damian zu tun hat, bewahrheitet sich natürlich.
Als sie mit ihrem Bericht über den Streit fertig ist, gebe ich ihr, ohne zu zögern, die Schlüssel und frage, ob ich noch etwas für sie machen kann. Angespannt starrt sie auf ihre Schuhspitzen und ich weiß, dass sie zu stolz ist, um mein Angebot anzunehmen. Trotzdem sage ich bestimmt zu ihr: »Schlaf du dich bei mir aus. Du weißt ja, wo alles ist. Ich gehe zu dir in die WG und hole dann deine Unterlagen und frische Kleidung. Okay?«
Ohne dass sie auf meine Frage antwortet, weiß ich, dass meine Entscheidung die richtige ist. Sie braucht dringend Schlaf und es wäre unnötig, wenn sie noch mal hin und her laufen muss. Ich habe immerhin mein Auto direkt vor der Hoteltür stehen. Meinen Hintergedanken, Damian eine klare Ansage zu machen, teile ich ihr besser nicht mit.
Warum sie immer so schnell klein beigibt, sobald er mit ihr diskutiert, verstehe ich nicht. So kenne ich sie gar nicht. Immerhin habe ich sie immer als die Stärkere von uns beiden eingeschätzt. Im Bereich, der normalerweise nur für das Personal ist, suche ich meine Jacke und lege sie ihr um die Schultern. Müde hält sie diese fest, umarmt mich und geht.
Ich mache mich wieder an die Arbeit, wobei meine Gedanken ständig bei ihr sind. Ein kleines bisschen Stolz empfinde ich aber auch. Die Idee mit dem Wassereimer ist zwar nicht allzu kreativ, aber ich hätte es trotzdem gerne mit eigenen Augen gesehen. Nicht jeder hätte sich Damian so tough entgegengestellt. Mal sehen, ob ich genauso stark bin.
Bemüht laut klimpere ich mit dem Schlüssel vor der Wohnungstür herum, bis ich aufschließe. Noch scheint alles ruhig zu sein. Auf mein Ziel fokussiert schreite ich durch den Flur zu ihrem Zimmer. Wie immer herrscht absolutes Chaos und nur mit Mühe kann ich mich beherrschen und das Augenrollen unterdrücken. Andererseits stiehlt sich aber auch ein Lächeln auf mein Gesicht. Typisch Solea, finde ich, und wühle mich durch ihre Unterlagen. Als ich glaube, alles zu haben, schiebe ich es sorgfältig in den Rucksack. In der Sekunde, als ich nach einem Paar Socken greife, um es neben die Pullis zu legen, nehme ich aus dem Flur kommende Schritte wahr.
»Zum Glück bist du wieder …« Damian schluckt und unterbricht seinen Satz, als er mich sieht. Unverzüglich kommt mein Zorn wieder, jetzt, wo ich ihn sehe. Und zwar um einiges härter als zuvor. »Was willst DU hier?« Empört und gleichzeitig angsteinflößend nähert er sich mir und ich gebe mein Bestes, still stehenzubleiben. Ich darf mir bloß nicht anmerken lassen, wie sehr mich seine Muskeln verunsichern, lautet mein stilles Mantra, welches ich stetig wiederhole. Die beiden geben echt eine merkwürdige Kombination ab und ich weiß nicht, ob ich sie mal darauf ansprechen soll. Schon in den ersten Tagen habe ich gemerkt, dass sie ihn anders anschaut und behandelt als Casper.
»Du hast kein Recht darauf, zu erfahren, wo sie ist. Vielleicht solltest du dich eher mal fragen, wie billig du dich verhältst? Ist das toll?«
Bevor ich die Chance habe, mich weiter aufzuregen, stößt er mich nach hinten. Der Rucksack mit ihren Sachen rutscht mir dadurch aus meiner Hand. Ich unterdrücke den Impuls, zurückzuschubsen. Ich dachte, dass ich keine Angst mehr vor ihm habe, dennoch weiß ich, dass er mir kräftemäßig überlegen ist. Nachdenkend hält er inne und ich kann so etwas wie Schmerz in seinen Augen aufflackern sehen: »Ich soll billig sein? Dann bist du gratis. Schon ein Blinder würde mitbekommen, dass du mehr von ihr willst, als sie gibt. Sei also am besten still!«
Zugleich sowohl verblüfft als auch überrumpelt starre ich ihn an. Wenn ich ihm die Wahrheit sagen würde, die er nicht mal zu erahnen scheint, würde er mein Verhältnis zu Solea verstehen, aber er hätte Macht über mich. Macht, die ich ihm nicht geben kann, solange ich mir nicht sicher bin, wie die anderen reagieren. Wahrheiten, die ich ihm nicht geben kann, weil sie alles verändern würden. Empörung, Unglauben, Hass. Emotionen, die das letzte Mal wachgerüttelt worden sind und die ich ungern ein zweites Mal erleben würde. Ich schweige ihn an. Egal, wie sehr ich Solea mag, mein Geheimnis werde ich nicht für sie öffnen. Sie weiß es nicht, auch wenn ich ihr vertraue, aber die Angst vor der Verständnislosigkeit, die ich auch in den Augen meiner Eltern gesehen habe, gewinnt. Stillschweigend lasse ich ihn reden und packe ihre Sachen. Bevor ich verschwinde, drehe ich mich noch mal zu ihm um: »Armselig ist dein Verhalten. Ich will nichts von ihr, was bei dir ja nicht der Fall zu sein scheint.« Dann bin ich auch schon zur Haustür heraus.
Mit großen Augen sieht Solea mich an, als ich mit ihren Sachen neben ihr auftauche. Sie muss mehrmals blinzeln, bis sich ihr Blick klärt.
Noch immer kann ich es nicht glauben, dass ich Damian meine Meinung gesagt habe. Unschlüssig lege ich ihren Rucksack auf den Boden und kratze mich am Kopf. Als ich wieder aufsehe, erhebt sie sich und umarmt mich. Ich spüre unsere Herzen klopfen und weiß, dass ich nicht ehrlich zu ihr bin. Eine Last legt sich auf meine Schulter. Dabei sehe ich es noch nicht mal als richtiges Geheimnis an. Es scheint eher, als würde sie nur eine meiner Facetten kennen. Eine von den vielen Teilen meiner Seele, die ich ihr offenbart habe. Nicht die Teile, die noch immer wie Feuer brennen, sondern die, die mich zu dem witzigen und munteren Kumpel machen.
»Danke, dass du für mich da bist, Julius«, beginnt sie ihren Satz zögerlich. Das ist das erste Mal, dass sie mich so ernst anschaut und mich nicht mit meinem Spitznamen anspricht. Julius, so haben mich meine Eltern immer genannt. Als ich für mein Studium umgezogen bin, habe ich mich nur noch mit Jules vorgestellt. Damit habe ich auch versucht, einen Teil meiner alten Persönlichkeit hinter mir zu lassen. Solea scheint meine Unruhe zu spüren, weil sie mich dichter an sich zieht. Meine Arme umschließen sie und sie spricht weiter: »Ich wüsste nicht, was ich ohne dich machen würde. Ich habe das Gefühl, dass du immer für mich da bist. Du bist wie eine Sternschnuppe. Jeder will sie sehen, aber nur wenige haben das Glück, wirklich eine zu bemerken.«
Ohne auf ihr Geständnis zu antworten, hauche ich einen Kuss auf ihre Stirn und ziehe sie wieder an mich: »Ich werde immer für dich da sein, egal, was passiert. Beste Freunde für immer.«
Lächelnd lehnt sie sich ein Stück zurück, um mich genau zu betrachten. Mir entgeht dabei nicht, wie vertraut sie mir mittlerweile ist. Scheinbar wie ein offenes Buch. Und doch entdecke ich auch immer wieder neue Seiten an ihr. Im Moment dominiert das Glück, aber ich weiß genau, dahinter lauern der Frust und Trauer.
»Beste Freunde für immer«, wispert sie und lehnt sich bei mir an.
»Jules! Hast du die schon gesehen?«
Verzückt rennt sie umher und macht die Tiere nervös. So glücklich habe ich sie schon lange nicht mehr gesehen. Es war auf jeden Fall die richtige Entscheidung. Mich im Hintergrund haltend werde ich von der Leiterin angesprochen: »Die meisten Tiere tun mir wirklich leid. Abgeschoben, als wären sie ein altes Handy, das durch ein neues Modell ersetzt werden muss.«
Pflichtbewusst nicke ich, als sie weiterredet, obwohl ich ihr gar nicht mehr richtig zuhöre. Viel zu faszinierend finde ich den Anblick, wie Solea sich den verstoßenen Hunden nähert, ohne scheu zu sein. Vor ein paar Tagen hat sie den Entschluss gefasst, wieder in die WG zurückzugehen. Natürlich kann sie noch länger bei mir bleiben, auch wenn meine kleine, abgelegene Wohnung nicht zu vergleichen ist mit ihrer großen, zentrumsnahen. Die Idee, sie mit ins Tierheim zu nehmen, hatte ich gestern Abend spontan und als ich ihr heute Morgen davon berichtet habe, war sie sofort Feuer und Flamme. Auch die Tierheimleiterin bedenkt Solea mit einem liebevollen Blick.
»Deine Freundin ist besonders, pass auf sie auf.«
Lächelnd verschwindet sie und lässt mich stehen. Noch ehe ich darüber philosophieren kann, was sie meint, und ich die Möglichkeit erhalte, sie zu berichtigen, werde ich von Solea unterbrochen.
»Können wir noch zu den Katzen?«
Bevor ich antworten kann, ist sie schon losgegangen. Seit einer Stunde sind wir hier und haben uns auf dem nicht sehr weitreichenden Gelände noch nicht komplett umgeschaut. Geschwind folge ich ihr ins Innere des Tierheims. Ich kann sie noch nicht ganz sehen und höre sie schon begeistert aufschreien: »Jules, wo bist du denn? Guck dir die mal an. Die sind so süß.«
Einen Schritt um die Ecke und schon stehe ich selbst in einer Horde von Katzen. Das gesamte Zimmer ist noch mal mehrfach unterteilt in kleinere, umzäunte Bereiche, in denen jeweils mehrere Katzen zusammen wohnen. Vorsichtig gehe ich zum ersten Käfig und blicke hinein. An dem kleinen Türchen entdecke ich Bilder der Tiere und ihre Namen.
»Blacky, Tiger, Nala, Leo und«, Solea legt von hinten die Arme um mich, »Piet.« Obwohl ich sie nicht sehe, merke ich, wie sie sich das Lachen verkneifen muss.
»Jules, du musst mal mitkommen … der da hinten ist so süß, den musst du einfach sehen.«
Mich zu wehren, wäre zwecklos gewesen, denn sie nimmt bestimmend meine Hand und zieht mich mit zu einem anderen Käfig, den wir betreten. Vielleicht hätte ich ihr vorher sagen müssen, dass ich kein Mensch bin, den Tiere mögen. Langsam nähert sie sich einem orange-weiß gestreiften Kater, der sie aus großen grünen Augen neugierig betrachtet. Die Pfoten sind komplett weiß, als wäre er einmal durch Farbe gelaufen. Das dichte Fell steht ihm zu allen Seiten ab und als er von dem Brett, auf dem er gesessen hat, herunterspringt, um Solea zu beschnüffeln, scheint er kein Misstrauen zu zeigen. Verschmust wirft er sich neben sie und lässt sich ausgiebig von ihr streicheln. Nun wenden die anderen ihre Aufmerksamkeit mir zu und ich beginne, leicht zu schwitzen. Was ist, wenn eine davon auf einmal anfängt, zu kratzen oder zu beißen? Unauffällig versuche ich, zurückzugehen, doch Solea bleibt das nicht verborgen. Sie nimmt meine Hand und zieht mich zu dem kleinen schnurrenden Kater. In dem Moment, als meine Hand auf sein Fell trifft und er sein Köpfchen an mich presst, ist es um mich geschehen. Ich habe mich ebenfalls in das Fellbündel verliebt.