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ntspannt folge ich den Schildern in den Bereich, der nur für das Personal gedacht ist. Heute bin ich extra ein paar Minuten früher hierhergekommen. Ich stoße die Tür zu meiner Linken auf und betrete den kleinen Aufenthaltsraum. In der Mitte steht ein Tisch, um welchen sich 4 Stühle reihen. In der einen Ecke befindet sich ein Schrank und daneben hängen auch gleich die Schürzen. In den großen Schrank lege ich meine Tasche und öffne sie. Meine Uniform – wie ich sie heimlich nenne – hat eine kleine Falte. Ich habe es zu spät bemerkt und hoffe, dass es keinem auffällt. Zunächst gehe ich zu dem Dienstplan an der Wand. Daneben hängen zahlreiche Bilder von Weihnachtsfeiern, Gruppenausflügen und Teamtagen. Auf keinem einzigen bin ich zu sehen, dafür bin ich noch zu kurz hier. Vielleicht werde ich bald auch hier verewigt sein und für immer hängenbleiben. Dieser Gedanke hat etwas Tröstliches
und Erwärmendes. Mein Blick streift die Schwarz-Weiß-Fotografien und wandert zum Plan. Für heute Abend bin ich endlich mal wieder im Restaurant eingeteilt. Meine Freude erstirbt allerdings, als ich sehe, mit wem ich arbeiten muss. Marc. Ich stöhne genervt auf und schnappe mir eine Schürze. Betont langsam binde ich sie mir an der Seite zu und greife mir einen Notizblock und Stift. Mal schauen, wie der Abend wird.
»Für mich eine Limonade. Als Vorspeise einen kleinen Bauernsalat mit Essig-Öl-Sauce und danach nehme ich das Steak mit den Champignons und einer Rahmsauce.«
Eifrig kritzele ich die Bestellung auf einen Zettel und mache mich schon im gleichen Moment daran, die Speisekarten wegzuräumen. Ich bedanke mich und eile wieder zur Küche. Meinen Zettel schmeiße ich unachtsam auf den Tresen und flitze raus. Über die Köpfe der Gäste hinweg schaue ich mich im Raum um. Sofort sehe ich einige leere Gläser und mir springen auch Teller ins Auge, die abgeräumt werden müssen. Schon innerhalb von einer halben Stunde habe ich alle Hände voll zu tun. Entspannter wäre es, wenn Marc endlich mal da wäre, aber das lasse ich unkommentiert. Nachdem meine unfreundliche Kollegin gefeuert worden war, hat der Sohn der Besitzer hier angefangen. Er spielt sich immer auf und so manches Mal wünsche ich mir meinen Drachen von Kollegin zurück. Sie war faul und unfreundlich, aber sie hat mich mit der Zeit wenigstens akzeptiert und respektiert.
Statt mich weiter gedanklich meinem Kollegen zu widmen, fokussiere ich meine Aufmerksamkeit auf die Menschen, die sie bekommen müssen und dafür bezahlen. Hinterher oder in einer ruhigen Minute kann ich mich immer noch beschweren.
»Entschuldigung. Ich warte jetzt seit 10 Minuten darauf, dass jemand unsere Teller abräumt. Außerdem haben wir Durst!«
Der verärgerte und anklagende Ton hat mich mit den Zähnen knirschen lassen, aber als ich mich zum Gast wende, setze ich wieder ein strahlendes Lächeln auf. Anstatt den Tisch von der Familie abzuräumen, drehe ich mich zum älteren Ehepaar.
»Was kann ich Ihnen noch bringen?«, erkundige ich mich höflich und werde sogleich unterbrochen.
»Zuerst muss ich mich bei Ihnen beschweren. Der Service ist grottig und das Essen … was kann ich noch dazu sagen? Nicht gut!«
Ich nicke und bin mit meinen Gedanken woanders. Vor meinem inneren Auge sehe ich meine Eltern, wie sie den Kopf schütteln würden. Kellnern, eine Tätigkeit, die sie nie ernst nehmen werden. Es wird ihnen nie reichen. Ich werde ihnen nicht reichen.
»Eine Enttäuschung!
«
Bei den letzten Worten seiner Schimpftirade nicke ich benommen und fühle mich wie betäubt. Das sind genau dieselben, die auch meine Eltern zuletzt zu mir gesagt haben. Ich gehe nicht weiter auf den Mann ein und nehme die Teller mit in die Küche. Kurz überlege ich, ob ich nicht einfach auf der Toilette verschwinden soll. Doch … um was zu tun? Zu schreien? So kindisch bin ich nicht, sage ich mir, und räume weiter Teller ab. Ich muss mich nicht verstecken, versuche ich mir einzureden. Obwohl das genau das ist, was ich mit diesem Studium gemacht habe. Ich verstecke mich vor ihnen, nachdem sie mich nicht mehr ansehen wollten. Nachdem ich für sie nicht mehr ihr Sohn war. Die nächsten Bestellungen schreibe ich auf, ohne sie wirklich wahrzunehmen. Nach einer weiteren Stunde bin ich wieder halbwegs gedanklich dabei. Immer wieder schweife ich jedoch ab. Ich schüttele mich und streiche mit den Händen über meine Schürze. Gerade hat der Vater einer 6-köpfigen Familie seiner Tochter einen Witz erzählt. Ihr helles, ehrliches Lachen rüttelt mich wach und ich kann nicht anders,
als auch zu grinsen. Ihr pinkes Kleid wippt hin und her und sie hat noch eine Puppe neben sich sitzen.
»Prinzessin, kann ich noch irgendwas für dich bringen?«
»Einen Prinzen«, sagt sie nach kurzem Überlegen. Ich nicke, tue so, als würde ich mir das aufschreiben, und nehme noch die anderen Getränkebestellungen auf. Langsam werden die Gäste weniger und der Raum leerer. Also nehme ich mir immer etwas mehr Zeit an den einzelnen Tischen. Es ist entspannend, mit den Menschen herumzualbern und Smalltalk zu halten. Anfangs hätte ich mich das niemals getraut. Wenn überhaupt habe ich nur das Nötigste mit den Gästen geredet. Bei dem Gedanken muss ich lächeln. Die kurze Zeit hat schon gereicht, um mich zu prägen.
»Bist du heute allein?«, fragt mich einer der neuen Köche. Kurz überlege ich, ihm die Lage mit Marc zu erklären, aber ich lästere einfach nicht gerne. Vielleicht hat er wirklich ein privates Problem und kann nicht kommen? Wer weiß, möglicherweise hat er sich auch abgemeldet und es wurde keiner gefunden, der einspringen kann. Alles ist möglich.
Ich zucke mit den Schultern und drängele mich zu einem älteren Kollegen.
»Kannst du irgendwas zaubern, was an einen Prinzen erinnert? Ein kleines Mädchen hat das bestellt.«
Ohne weitere Fragen zu stellen, macht er sich an die Arbeit. Unbedingt muss ich meinen Kollegen noch mal danken. Immerhin stehen sie trotz meiner verrückten Ideen hinter mir.
Damit sich die anderen Gäste nicht benachteiligt fühlen, versorge ich sie abermals. Ich verteile ein paar Limonaden, Bier vom Zapfhahn, Kaffee und Cappucino. Zudem kommen noch einige Dessert-Bestellungen hinzu. Eis, Waffeln, Kuchen und Muffins. Trotz der vielen Arbeit fühle ich mich glücklich und erfüllt. Die kleine Prinzessin wartet immer noch und wird langsam unruhig. Ihrer Familie habe ich jetzt die Bestellung gebracht und sie schaut mich aus traurigen Augen an. Schnell
begebe ich mich in die Küche und kann nur staunen.
»Wow!«, entfährt es mir und ich bin wie eingefroren.
Vor mir steht ein Eisbecher, der einer Prinzessin würdig ist. Ich sehe eine Schicht aus Schokoladen- und Vanilleeis, die durchbrochen wird von Erdbeeren und Schokoladenstücken. Über den Rand von dem Glasbecher hinaus ist eine kleine Sahnehaube, die mit bunten Streuseln übersät ist. Überall entdecke ich Marshmallows in den Farben des Regenbogens. Am Rand hängen Gummibärchen und ich muss einfach lächeln. Als Kind hätte ich mich höchstwahrscheinlich selbst über den Eisbecher hergemacht. Jetzt läuft mir immer noch das Wasser im Mund zusammen. Behutsam nehme ich den Becher, bedanke mich und begebe mich wieder auf den Weg zu ihr.
Das kleine Mädchen sitzt mit dem Rücken zu mir. Das ist meine Chance. Leise schleiche ich mich von hinten an sie heran. Um sie zu überraschen, lege ich ihr eine Hand auf die Schulter und sie dreht sich zu mir um.
»Eine Prinzessin lässt man nicht warten«, schimpft sie mit mir, doch ihre Augen weiten sich, als sie den Eisbecher sieht. Ich sehe förmlich vor mir, wie ihr Herz aufgeht.
»Aber ich verzeihe dir«, sagt sie und schnappt sich den Becher von meinem Tablett.
Ihr freches Grinsen ist das Einzige, was ich von ihr sehe, weil sie sich schon auf das Eis stürzt. Ihre Familie lacht glücklich und ich stimme mit ein. Unverzüglich muss ich aber wieder weiter, um die nächsten Tische abzuräumen und abzuwischen. Mit meinem Lappen bewaffnet schrubbe ich schon mal über die leeren Flächen. Im Hintergrund nehme ich die leise Musik wahr, die zu dieser Zeit etwas moderner ist. Ich meine sogar, einen aktuellen Chart-Hit zu erkennen, aber ich erinnere mich nicht an den Namen. Fröhlich summend mache ich mich an ein paar Abrechnungen und werde auch schon prompt von einem Kollegen unterbrochen.
»Julius, du sollst mal zur Chefin gehen.«
Aufmunternd klopft mir der junge Koch auf die Schulter und macht sich mit einem Tablett und einer Schürze bewaffnet ans Kellnern. Komisch, grübele ich. Den ganzen Abend hat mich das Gefühl verfolgt, dass ich meine Aufgaben halbwegs gut gehändelt habe. Trotz der Tatsache, dass ich auf mich allein gestellt bin, habe ich alle schwierigen Situationen irgendwie gemeistert. Der eine ältere Mann ist noch etwas lauter geworden und ziemlich ausladend. Freundlich habe ich ihn zum Bezahlen gebeten, nachdem ich ein Getränk weniger abgerechnet habe. Zudem haben die beiden einen Gruß aus der Küche bekommen, bevor sie gegangen sind. War das falsch? Mein Herz hämmert und mein Mund trocknet aus. Ich darf diese Stelle nicht verlieren. Ich liebe es, hier zu arbeiten. Die meisten Kollegen sind einfach nur unglaublich nett und wir verstehen uns gut miteinander. Außerdem liebe ich es, die Gäste zu bedienen, egal, ob in der Lobby, an der Rezeption oder als Kellner im Restaurant. Davon abgesehen brauche ich das Geld. Sollte ich diese Stelle verlieren, kann ich mir wahrscheinlich nicht mehr die Wohnung und den Platz an der Uni leisten. Ich kneife die Augen zusammen und werde immer langsamer. Am liebsten würde ich heulen. So schnell hysterisch zu werden, ist sonst nicht mein Ding, aber von diesem Job hängt einiges ab. Die Arbeitsschichten passen perfekt in meinen Uni-Alltag und die Bezahlung liegt deutlich über dem Mindestlohn. Wo soll ich so einen Beruf noch mal finden?
Noch mehr graut es mir allerdings vor der Vorstellung, dass ich zurückmüsste. Zurück zu meiner angeblichen Familie, die mich nicht verstehen kann und will. Damit würde ich dem Ruf als Enttäuschung noch einen draufsetzen, denn dann wäre ich ein Verlierer. Mir wird schlecht und ich klopfe mit zittriger Hand an die Bürotür. Als sie ruft, dass sich hereinkommen kann, fahre ich mit meinen Fingern durch meine blonden Haare, um sie zu richten.
Vorsichtig stoße ich die Tür schließlich auf und entdecke sie
lächelnd hinter ihrem Schreibtisch. Bis jetzt habe ich sie nur einmal gesehen, bei meinem Vorstellungsgespräch. Das wird dann wohl das letzte Mal sein. Innerlich verabschiede ich mich bereits von meiner Schürze und den Kollegen. Meinen Notizblock werde ich mitnehmen, als Trost. Das ist mein festes Vorhaben.
Unsicher, was sie jetzt von mir erwartet, zeige ich auf den Stuhl und sie nickt. Unruhig knete ich meine Hände und schaue bedrückt an mir herab. Einen besseren Eindruck würde ich machen, wenn ich sie anschaue. Also hebe ich meinen Blick langsam und begegne ihrem mit einem gezwungenen Lächeln.
»Julius, ich darf Sie doch so nennen?«, erkundigt sie sich.
Meiner Stimme traue ich noch nicht wirklich, also nicke ich stumm. Nichtsdestotrotz halte ich ihrem Blick stand.
»Ich bin wirklich froh, dass du ein Teil des Teams bist. Könntest du dir vorstellen, einen Vollzeitvertrag zu unterschreiben? Wir hätten auch noch einen Ausbildungsplatz frei.«