V
on weitem winke ich ihm – Valerian – zu. Für einen kurzen Moment scheint es, als würde er mich nicht erkennen. Enttäuscht lasse ich die Hand sinken und meine Schultern hängen. Rasch drehe ich mich um, sodass hoffentlich niemand etwas bemerkt hat. Mein Herz pocht viel zu schnell und ich weiß nicht, warum. Habe ich nur das Gefühl oder starren mich gerade alle an? Ich senke den Kopf und versuche, mich in meinem Kragen zu vergraben. Mein Pullover ist an den Enden schon ziemlich ausgefranst, was sein hohes Alter verrät. Mit dem Blick starr auf den Boden gehe ich ein paar Schritte, bevor ich mich umschaue. Um mich herum eilen viele Studenten über die Flure. Vermutlich sind sie alle auf dem Weg zu ihren Kursen mit ihren Freunden. Ich gehe an einer Mädchengruppe vorbei, die über irgendeinen Sportler schwärmt. So allein habe ich mich bis jetzt noch nie gefühlt. Solea und ich haben zwar
keine gemeinsamen Kurse, aber wir haben trotzdem versucht, jede freie Zeit miteinander zu verbringen.
Wie so oft wähle ich ihre Nummer und frage mich, ob ich ihr von Valerian erzählen soll und der neuesten Begegnung geradeeben. Meine Gedanken sind hin- und hergerissen, da es eigentlich noch nicht mal ein Aufeinandertreffen war, weil ich ihn nur von der anderen Seite des Gangs gesehen habe. Aber ich kann mir vorstellen, dass sie mich versteht. Vielleicht kennt sie ihn auch, mache ich mir Hoffnung. Vermutlich sollte ich ihn einfach mal selbst anrufen, jedoch sträubt sich alles in mir dagegen. Mehr als ein peinliches Stottern von verschiedenen zusammenhangslosen Worten kriege ich ihm gegenüber bestimmt gar nicht zustande.
»Jules? Hey!«
»Hallo, beste Freundin, lange nichts mehr von dir gehört«, schimpfe ich mit ihr im Spaß. Am anderen Ende der Leitung höre ich ihr unterdrücktes Lachen. Um ein ruhigeres Umfeld zu haben, drängele ich mich an den Studentengruppen vorbei zum Ausgang. Dabei fühle ich mich auf eine beunruhigende Art beobachtet. Mir kommt es so vor, als würden die anderen über mich reden. Hinter vorgehaltener Hand ihre Gemeinheiten flüstern und mich hinter meinem Rücken beschimpfen. So wie damals, als ich noch in der Schule war. Genauer gesagt in den vielen Jahren vor meinem Abschluss. Mein Leben, das mir meine Mitschüler zur Hölle auf Erden gemacht haben. Durch ewige Feuer wäre ich lieber gelaufen, wenn ich damit auslöschen könnte, dass alle über mich reden.
»Jules?«, höre ich eine besorgte Stimme direkt hinter mir. Ich lasse mein Handy sinken und bin überrascht, Solea zu sehen. Ihre offenen Haare fallen ihr in leichten Locken über die Schultern und sie hat einfach ein ansteckendes Lächeln.
Nur für ein paar glückliche Stunden will ich meine Gedanken in die hinterste Ecke meines Gehirns drücken. Mit all meiner Macht verdränge ich sie und langsam lichtet sich um mich
herum alles. Ich bin wieder im Hier und Jetzt, stehe auf der Wiese vor der Uni und habe meinen letzten Kurs für heute hinter mich gebracht. Erleichtert atme ich auf.
Wiederholt rüttelt sie an meiner Schulter und ich löse mich aus meiner Erstarrung. Neben ihrer positiven Stimmung merke ich so etwas wie Besorgnis.
»Wollen wir uns ein paar Donuts kaufen und dann zu dir gehen?«, bringe ich hervor und laufe im selben Moment schon zielstrebig los. Trotz meines unerbittlichen Versuchs, meine Gedanken auszuschalten, herrscht in meinem Kopf nur ein großes Durcheinander. Erinnerungen von meinem unbeschwerten Leben und dem daraus gewordenen Chaos schnüren mir die Luft ab. Wie bleischwere Gewichte legen sie sich um mich und ziehen mich runter.
»Jules!«, höre ich jemanden verzweifelt immer wieder hinter mir schreien. Als ich mich umschaue, entdecke ich überrascht, dass Solea einige Schritte hinter mir stehengeblieben ist.
Mit verschränkten Armen blickt sie mich misstrauisch an. Trotz der wenigen Monate, die wir uns erst kennen, spürt sie sofort, wenn etwas nicht in Ordnung ist. Wenn mich irgendein Gedanke quält oder ich traurig bin.
Ich kann es ihr nicht erzählen, weil ich nicht will, dass sie mich als jemand anderen ansieht. Nicht, dass sie auch noch anfängt, sich abzuwenden, und ich wieder allein bin. Überall Menschen, aber keiner, der mich versteht. Keiner, der mich einfach akzeptiert, wie ich bin. Der sich nicht um die gesellschaftlichen Maßstäbe kümmert.
»Tut mir leid«, höre ich mich wispern. Mit etwas kräftigerer Stimme wiederhole ich es noch mal.
»Du musst dich doch nicht entschuldigen«, versichert sie mir und kommt auf mich zu. Bevor ich dem etwas hinzufügen kann, hat sie mich in eine Umarmung gezogen. Ihre schlanken Arme hat sie um meinen Hals geworfen und ich hebe sie kurz an. Ich klammere mich an sie, weil sie meine einzige Hoffnung ist.
Mein Polarstern in der größten Dunkelheit. Sie nimmt mich an die Hand und führt mich durchs Leben.
»Du kannst mit mir über alles reden«, sagt sie an meinem Hals. Unwillkürlich drücke ich sie heftiger und spüre ihre tiefen Atemzüge an meinem Oberkörper. Tröstend fährt sie mir mit ihrer einen Hand über den Rücken. Wenn ich es ihr doch nur sagen könnte.
»Ich weiß«, ein halbherziger Versuch meinerseits, den Schein zu wahren. Ich weiß, dass sie mir das nicht glaubt, aber das muss sie auch gar nicht. Wenn der Zeitpunkt gekommen ist, werde ich ihr alles sagen. Dann kann sie in mir lesen wie in einem offenen Buch. Noch muss sie sich mit einem Buch begnügen, in dem ein paar Seiten fehlen.
Vorsichtig löse ich die Umarmung und fühle mich ein kleines bisschen besser. Erleichtert darüber, dass ich wenigstens eine Person habe. Eine Person, die sich um mich sorgt und die sich nicht für mich schämt.
»Was ist jetzt mit den Donuts?«, versuche ich, die Stimmung aufzulockern. Anders, als ich es erwartet habe, verzieht sie das Gesicht. Nicht zu einem Grinsen, sondern sichtlich angeekelt.
»Donuts sind doch überbewertet.« Mit einer gleichgültigen Geste unterstreicht sie ihr Gesagtes. Doch ich kann nur verneinend den Kopf schütteln. Das kann nicht die Solea sein, die ich kenne. Besorgt erkundige ich mich bei ihr, ob sie eine Donut hassende Zwillingsschwester hat, die zufällig zurzeit in der Stadt ist. Sie winkt ab.
»Wo soll ich anfangen? Also, Damian …«
Ich lasse sie gar nicht aussprechen, sondern unterbreche sie sofort: »Damian? Soll ich ihn mir vorknöpfen? Hat er dir wehgetan?«
Sofort setzt mein Beschützerinstinkt ein und ich schaue sie fassungslos an. Klar, Damian ist unangefochten einer der hübschesten Sportler der Uni. Sogar dann, wenn er krank ist
und eigentlich nicht mitspielen kann, schwirren die Mädchen um ihn wie die Motten ums Licht einer Straßenlaterne in der Nacht. Vermutlich könnte er genauso gut ein Rockstar sein, das Aussehen hat er zumindest schon mal.
»Nein!«, betont sie laut und ehe ich erwidern kann, dass das gar nicht so abwegig ist, spricht sie schon weiter. »Wir … es war ein Streich.« Nun fängt sie an, genau zu schildern, wie er sie mit dem Friedensangebot getäuscht hat. Ohne es zu wollen, muss ich grinsen. Er scheint gar nicht so dumm zu sein, wie er wirkt. Um Soleas Willen hoffe ich es zumindest.
Den ganzen Rückweg sprechen wir über unsere teuflischen Rachepläne. Ich glaube, dass Damian noch gar nicht ahnt, mit wem er sich angelegt hat. Als unser grober Plan steht und immer weitere Ideen aus ihr heraussprudeln, unterbreche ich sie plötzlich und die Worte platzen nur so aus mir heraus.
»Ich habe Valerian wiedergesehen, den Jungen, von dem ich dir bei unserem gestrigen Telefonat erzählt habe.«
Als ich es ausspreche, merke ich erst, wie viel es mir wirklich bedeutet, ihn wiedergesehen zu haben. Umso schlimmer ist der Schmerz darüber, dass er kaum eine Regung gezeigt hat. Er hat mich übersehen, weil ich für ihn nur einer unter vielen Bekannten bin.
Kurz ist es still, ehe Solea irritiert blinzelt.
»Was war das mit Valerian … Du hast ihn wiedergesehen? Wo? Worüber habt ihr geredet?«
Unheimlich gerne hätte ich eine andere Antwort für sie parat, in der ich ihr davon erzähle, wie aus Smalltalk ein langes Gespräch geworden ist.
Stattdessen ist die Wahrheit: »Ich glaube, dass er mich bewusst übersehen hat.«
Ungläubig starrt sie mich an, was unweigerlich meine Trauer und Wut hochkochen lässt. Ein kurzes ‚Hallo‘ hätte ihm nicht geschadet. Das erzähle ich auch Solea, die ihm direkt wüste Beschimpfungen an den Kopf wirft.
Sie ist auf meiner Seite. Solea stellt sich nicht gegen mich, sondern ist, ohne viel zu wissen, diejenige, die mir den Rücken stärkt.
Wie immer.