»
K
annst du noch mal nachschauen, ob …«
»Ob sie beide noch leben?«, feixt Casper und obwohl es nur ein Scherz ist, spüre ich ein schmerzhaftes Ziehen in meiner Brust. Ich übergehe mein Gefühl, bevor es mich überwältigt und ich mich nachher noch verrate. Stattdessen denke ich an Jules und Damian, die sich hoffentlich anfreunden.
Mit einem Grinsen, was meine Augen nicht ganz erreicht, drehe ich mich um und stolpere beim Losgehen beinah über Joker. Um mein Gleichgewicht zu halten, weiche ich ihm aus und falle dabei fast in die Töpfe, die auf dem Boden stehen. Ich will gar nicht daran denken, dass wir das später noch aufräumen müssen. Obwohl ich auch zugeben muss, dass ich Casper eher eine schlechte Hilfe in der Küche bin. Woher er auch immer sein Talent hat, es riecht auf jeden Fall lecker. Während ich mich dazu degradiert habe, den Salat zu machen,
lief mir immer wieder das Wasser im Mund zusammen, wenn ich seine kleinen Spieße mit Fleischstücken, Gemüse und verschiedenen Gewürzen gesehen habe.
Leise vor mich hin summend bahne ich mir den Weg in den Garten. Im Treppenhaus ist einiges los, was mich schon stutzen lässt. Jedoch hält mich das nicht auf. Ich summe gerade leise die Lieder der Eiskönigin, öffne die Tür zum Garten und komme mir plötzlich vor, als hätte mir jemand einen Schneeball ins Gesicht gepfeffert. Einen Schneeball, der gespickt von kleinen Eissplittern und Steinchen ist. Unwillkürlich verengt sich mein Brustkorb. Nachdem sich meine Augen vor Überraschung geweitet haben, schließe ich sie nun zu kleinen Schlitzen, die den Wiesenplatz absuchen. Überall stehen Tische und Stühle, aber alles mutet vielmehr nach einer Geburtstagsfeier als einem hoffentlich entspannten WG-Essen an. Wo zur Hölle sind Jules und Damian? Sie sollten doch eigentlich hier sein! Ich spüre, wie ich schon wieder die Kontrolle verliere, und meine Gedanken rasen. Die winzige Stimme der Vernunft flüstert mir noch zu, dass es dafür eine logische Erklärung gibt und ich überreagiere, aber ich kann einfach nicht auf sie hören. Viel zu gebannt bin ich von der lähmenden Angst, dass ihnen etwas passiert sein könnte. Unkontrolliert ballen sich meine Hände zu zuckenden Fäusten. Überall um mich herum nehme ich Schritte wahr und gedämpftes Gemurmel. Auch wenn ich mitten im Weg stehe, kann ich mich nicht auf die Seite bewegen. Dabei schallt eine Stimme in meinem Kopf, dass ich ein schlechter Mensch bin. Ich habe tatsächlich den Geburtstag meiner eigenen Mutter verdrängt.
»Mum«, schluchze ich noch, ehe sich eine warme Hand in meine legt. Nicht dazu imstande, den Kopf zu drehen, bleibe ich stehen und starre geradeaus. Ein sanfter und allzu bekannter Duft hüllt mich ein und ich verstecke meine Gefühle und die Trauer wieder. Heute ist kein Tag, um
zusammenzubrechen. Meine Mama hätte das sicherlich nicht gewollt.
»Hey, ich würde jetzt gerne fragen, ob alles gut ist, aber die Antwort sehe ich schon in deinem Gesicht.«
Ich schnaube. So gut war ich dann wohl nicht im Verstecken meiner Gefühle.
Aber Jules kennt mich und meine kleinen Panikattacken und Trauerphasen mittlerweile eben gut, auch wenn der wahre Grund noch immer ein Geheimnis ist.
»Solea«, er zieht seine Hand aus meiner, legt sie auf meine Wange und dreht meinen Kopf ein Stück zu ihm. Flüchtend lasse ich meinen Blick über den Boden und seine Schuhe wandern, obwohl ich mir damals geschworen habe, aufrecht durch die Welt zu gehen. Daher recke ich mein Kinn, sehe ihm in die Augen und da erkenne ich nichts als Sorge und Mitgefühl.
»Wenn du reden willst, bin ich immer für dich da, egal wann, wo und worüber. Immer!«
Mein bester Freund schaut mich voller Liebe an, was mich trifft. Niemals hätte ich gedacht, einen Freund wie ihn zu finden. Jemanden, der mich ohne Worte versteht und der mir hilft, selbst wenn ich selbst nicht weiß, was ich vorhabe.
Ich ziehe ihn in eine Umarmung und spüre, wie er mich ebenfalls drückt. Er ist wie ein Anker, der ein Schiff selbst an den stürmischsten Tagen im Hafen hält. Unerschütterlich und immer zur Hilfe. In mir wächst der Wunsch, auch sein Anker zu sein.
Um der Situation die Ernsthaftigkeit zu nehmen, fahre ich mit meiner Hand durch seine blonden, wild abstehenden Haare. Bei ihm wirkt dieser Look ganz anders als bei Damian. Jules verleiht er etwas Jugendliches, während es Damian verwegener macht.
»Na, was haben Damian und du denn die ganze Zeit getan? Viel kann es ja nicht gewesen sein«, necke ich ihn, woraufhin er
mir die Zunge herausstreckt und seine nicht wirklich vorhandene Frisur richtet.
»Das würde ich dir gerne erzählen, aber manche Dinge unterliegen einfach strengster Geheimhaltung.« Gespielt tadelnd sieht er mich an und jetzt bin ich an der Reihe, meine empörte Miene aufzusetzen.
»Was? Zwischen bestem Freund und bester Freundin herrschen aber andere Regeln«, schnaube ich, was ihn leise lachen lässt.
»Warte mal, habt ihr euch jetzt angefreundet und gegen mich verbündet?«
Ich boxe ihm leicht gegen den Arm. Auf einmal stürzt sich Jules auf mich und kitzelt mich. Lachend springe ich weg und versuche, mich aus seinem Griff zu winden und der Attacke zu entgehen – allerdings relativ erfolglos. In seinem Gesicht sehe ich verschiedenste Emotionen, die ich nicht alle zuordnen kann. Überstrahlt wird dies von einer leuchtenden Fröhlichkeit, die sich besonders in seinen Augen widerspiegelt. Als ich zum Gegenangriff ansetzen will, höre ich ein Räuspern hinter mir.
»Ich will euren Spaß ja nicht dämpfen, aber Casper wartet in der Küche auf Hilfe«, betont Damian und reißt mich vollkommen aus meinen Gedanken. In dem Moment, in dem ich mich umdrehen will, um zu Casper zurückzugehen, spüre ich Damians Blick. Dieser liegt zu meiner Überraschung nicht auf mir, sondern bohrt sich in Jules hinein. Jener hält ihm verbissen stand und ich verdrehe innerlich die Augen.
»Ich dachte, dass ihr euch angenähert habt«, funke ich dazwischen. Auch wenn ich immer noch nicht so ganz verstehe, um was es geht.
Nahezu unmerklich schüttelt Jules den Kopf, was mir als Zeichen reicht. Vielleicht war es reines Wunschdenken, dass sich die beiden anfreunden.
Was haben sie eigentlich die ganze Zeit miteinander
gemacht, als sie aufräumen sollten?
»Jules, gehst du schon mal zu Casper? Vielleicht bist du ihm ja eine bessere Hilfe, als ich es war.«
Daraufhin verschwindet mein bester Freund im Haus und ich drehe mich zähneknirschend zu Damian um, der mich mit hochgezogener Augenbraue mustert.
»Und jetzt? Willst du mir sagen, dass zwischen euch nichts ist?«
Ich höre den Spott in seiner Stimme. Ich hasse diesen Tonfall, weil er damit versucht, unnahbar zu sein, was er nicht sein muss. Dennoch macht er es, was mir einen Stich versetzt.
»Ich …«, setze ich an, finde jedoch keine passenden Worte. Alle logischen Satzanfänge sind aus meinem Kopf gelöscht. Stattdessen kann ich nur in seine haselnussbraunen Augen schauen und fühle mich, als würde ich ohne Anker aufs weite Meer hinaustreiben. Ich spüre ein hartes Pochen in meiner Brust und die Flammen, die sich durch mich schlängeln.
»Solea, hör mir zu«, setzt er an, ehe ich ihn mit einer Handbewegung unterbreche.
»Damian, hör DU mir zu. Was soll das? Du machst hier eine Szene, als wären wir zusammen und als wäre ich dir mit meinem besten Freund fremdgegangen. SO ist es aber nicht. Entspann dich bitte. Das Einzige, worum ich dich bat, war, dass du versuchen sollst, dich mit Jules gutzustellen. Und was machst du? Bist kälter, als es in der Antarktis möglich ist. Ich hätte wirklich mehr von dir erwartet.«
Damit er nicht irgendwas erwidern kann, was meinem Gesagten den Wind aus den Segeln nimmt, drehe ich mich um und gehe. Fast schon warte ich darauf, dass er mir hinterherruft, aber dann besinne ich mich eines Besseren. Meine Worte haben einen unangenehmen Geschmack auf meiner Zunge hinterlassen. Wenn ich ehrlich zu mir selbst bin, wollte ich nicht so fies sein. Bei ihm passiert mir das allerdings viel zu schnell.
Ohne mich umzudrehen, verschwinde ich genauso, wie mein bester Freund es vor ein paar Minuten gemacht hat.