19
» J ules? Kommst du mit mir? Ich weiß ja nicht, wohin ich die Salate bringen soll. Es wäre einfacher, wenn ihr mir verraten würdet, wo ihr den Tisch aufgebaut habt.« Ohne dass ich es verhindern kann, fließt ein vorwurfsvoller Unterton in mein Gesagtes ein.
»Jules brauche ich als Küchenhilfe. Ich muss zugeben, dass er eine deutlich größere Hilfe ist als du.« Casper zuckt mit den Achseln und lächelt mich an. Auch wenn mich seine Worte treffen und ein bisschen an meinem Selbstbewusstsein nagen, kann ich ihm nicht böse sein. Er ist einfach der Typ Junge, der keine Spielchen spielen würde, sondern alles offenlegt. Anders als …
»Damian«, stöhne ich frustriert. Das heißt wohl, dass er mich begleitet. Als hätte er mich gehört, erscheint er im Türrahmen und lehnt sich locker an.
»Wie kann ich euch helfen?«
Seinen Ton kann ich nicht richtig einschätzen. Er hat so was Lockeres und nahezu Freundliches. Allein der Gedanke lässt mich den Kopf schütteln. Damian und freundlich passt so gut in einen Satz wie Hammer und sanft. Es sind einfach Gegensätze.
»Was?« Nun steht er direkt vor mir und betrachtet mich lange. Sein Blick bleibt letztendlich an meinen Augen hängen und ich spüre den Drang, ihn an mich zu ziehen. Damit meine Hände nichts Falsches machen, schnappe ich mir zwei Schüsseln und versuche, sie zu balancieren.
»Zeig mir den Essenstisch.« Dabei gebe ich mein Bestes, nicht unsicher zu wirken. Er muss nicht mitbekommen, wie meine Knie zittern, wenn er vor mir steht. Damian strahlt etwas aus, was man nicht in Worte fassen kann. Einerseits ist er unnahbar, andererseits kann er genauso gut aufmerksam sein und einen mit irgendwelchen Kommentaren zum Lachen bringen.
Schmunzelnd will ich ihm folgen, aber er nimmt mir eine Schüssel aus der Hand. Die nun freie Hand ergreift er wie selbstverständlich und zieht mich hinter sich her. Kleine Stromschläge scheinen sich von seiner Hand aus ihren Weg durch meinen Körper zu bahnen. Am liebsten würde ich mich für solche Gedanken schlagen, denn wem mache ich etwas vor? Ich bin nicht die Erste und auch nicht die Letzte, deren Hand er so hält.
»Ihr macht ein ziemliches Geheimnis daraus, das weißt du?« Letzteres soll nicht wie eine Frage klingen, aber meine Stimme ist automatisch leiser geworden. Meine Worte durchdringen die Stille zwischen uns und ich sehe seine Schultern zucken. Kritisch beäuge ich seinen muskulösen Rücken, bis mir klar wird, dass er ein Lachen unterdrückt. Nun bin ich diejenige, die sich das Grinsen nicht mehr aus dem Gesicht wischen kann. Es ist, als hätte es unseren kleinen Streit eben nicht gegeben. Als wäre alles wie vorher.
»Wenn es kein Geheimnis wäre, wärst du jetzt nicht aufgeregt.«
Für einen Moment dreht er sich um und ich habe das Gefühl, nicht nur den beliebten Macho zu sehen, der alles für sein Stipendium macht. Ich sehe in ihm auch den Jungen, dessen größte Leidenschaft der Sport ist und der seine Familie liebt. Ich sehe in seinen Augen das pure Glück, bevor er sich wieder wegdreht und sich räuspert. Still stehen wir auf der Treppe und ich löse meine Hand aus seiner, um über seinen Rücken zu streichen. Keine Sekunde später spüre ich seine angespannten Muskeln unter meiner Hand und dem dünnen Stoff des T-Shirts.
»Du bist kein schlechter Mensch«, flüstere ich leise und habe insgeheim die Hoffnung, dass er mich nicht hört. Ich kann nicht einschätzen, wie er damit umgeht.
»Das klingt ja fast wie eine Entschuldigung aus deinem Mund.« Übertrieben schockiert dreht er sich um: »Dass ich das noch erleben darf, grenzt ja an ein weiteres Weltwunder. Sagst du es noch einmal, damit ich es aufnehmen kann? Ich will es der Menschheit nicht vorenthalten.«
Gegen mein Lächeln kann ich nichts machen.
»Erstens: Ich entschuldige mich nicht, weil du übertrieben reagiert hast. Ich habe lediglich gesagt, dass du nicht so ein schlechter Mensch bist. Zweitens: Du bist der größte Idiot, den ich kenne, und ich kenne einige.« Ich quetsche mich an ihm vorbei und drücke die Tür, vor der wir stehen, auf.
Zunächst kann ich gar nicht richtig begreifen, was sich vor meinen Augen zeigt. Mit vielem habe ich gerechnet, aber nicht damit. Vor mir erstreckt sich eine Dachterrasse, deren triste Wände mit bunten Lampions geschmückt sind. Überall stehen Blumenkübel mit Pflanzen in allerhand Farben. Das seichte Licht von Kerzen leuchtet flackernd in der Dämmerung und taucht die Szenerie in einen rötlichen, warmen Ton. Mein Blick ist aber gefangen genommen von dem Podest. Auf diesem steht eine große L-förmige Couch, die mit Kissen übersät ist und zum Hinlegen einlädt. Gekrönt wird dies von einem Tisch aus alten Paletten. Ohne dass ich es wirklich wahrgenommen habe, bin ich nähergetreten und betrachte die Dekoration. Äste und Treibholz sind in einem schlichten Durcheinander arrangiert worden und anschließend wurden noch getrocknete Blätter und ein Blumengedeck hinzugefügt. Mein Mund steht vor lauter Staunen offen, aber ich kann nicht anders. Meinen Blick kann ich auch nicht abwenden. Selbst nicht, als Damian mir die Schüssel aus der Hand nimmt und auf den Tisch stellt. In mir lodern die verschiedensten Gefühle auf. Überraschung, pures Staunen und grenzenlose Freude. Jules und Damian haben sich wirklich Mühe gemacht und ich hatte ihn zu Unrecht als schlecht betitelt.
»Du bist ein guter Mensch, Damian«, flüstere ich, auch wenn ich noch so viel mehr sagen will. Ich will ihm sagen, wie dankbar ich ihm bin und wie viel mir das bedeutet.
»Du bist auch kein so schlechter Mensch«, erwidert er und zieht das »so« in die Länge. Grinsend umarme ich ihn und drücke ihn an mich. Sein Geruch ist mir in den letzten Wochen schon zur Gewohnheit geworden. Nicht der seines Deos oder Parfums, sondern dieser eigene Duft, den jeder Mensch trägt. Bei ihm ist es für mich ein sandiger Duft, der sich vertraut anfühlt. Vor einigen Monaten hätte ich mir das niemals erträumt. Damals, als ich hier gestrandet bin und diese Wohnung ergattert habe. Und dann habe ich auch noch meinen Seelenverwandten – Jules – gefunden.
»Also, ich will mich ja nicht über deine Nähe beschweren, aber du drückst mir die Luft ab«, murmelt er und ich lasse direkt etwas Platz zwischen uns. Trotzdem stehen wir immer noch dicht an dicht und ich schaue in seine Augen. Ich spüre seinen schnellen, pochenden Herzschlag und bin erleichtert, dass ihn das auch nicht kalt lässt. Sein Blick verhakt sich in meinem, bis ich ihm wieder leicht gegen die Schulter boxe.
»Weichei!«, schreie ich und springe ein Stück nach hinten. Angriffslustig betrachtet er mich, als wäre ich sein nächstes Opfer.
»Na warte. Bevor du mich als Weichei betiteln kannst, musst du erst mal richtig schlagen lernen«, erwidert er und boxt mich ebenfalls spielerisch. Da ich darauf vorbereitet bin, habe ich einen festen Stand und belächele ihn nur. Er fährt sich mit seiner Zunge über die Lippe, bevor er mich mit einem Ruck über die Schulter schmeißt. Mit all meiner Kraft versuche ich, mich loszureißen, obwohl ich weiß, dass es zwecklos ist. Mit meinen Händen trommele ich auf seinen Rücken ein, während meine Beine verzweifelt strampeln.
»Lass mich los«, kreische ich lachend. In diesem Moment verschwindet seine toughe Seite. Ich merke, wie meine Kraft langsam nachlässt und ich mich auf meine Umgebung konzentriere, wodurch mir auffällt, wo wir uns befinden. Ich schaue direkt in den Abgrund. Auch wenn es nicht viele Stockwerke sind, bleibt mein Herz für einen Moment stehen. Mein Atem geht keuchend und ich klammere mich an seinem Shirt fest, bis meine Knöchel weiß hervorstehen.
»Wehe, du lässt mich fallen. Dann sorge ich dafür, dass du neben mir in der Notaufnahme sitzt.«
Kurz bleibt er noch an der Kante stehen und schwenkt mich über den Abgrund. Dies lasse ich natürlich nicht ohne einen filmreifen Schrei passieren. Im nächsten Moment habe ich wieder festen Grund unter meinen alten Chucks und nehme die Kälte wahr, die mich schlagartig umgibt. Er presst mich an sich, sieht zu mir herab und ich merke, wie sein Blick zu meinem Mund wandert. Das Grinsen, was danach auf seinem Gesicht erscheint, saugt all die Dunkelheit um uns herum auf und lässt sie erstrahlen. Ich lehne mich ein Stück nach vorne und meine Hände fahren über seine harten Bauchmuskeln. Unsere Köpfe nähern sich Millimeter für Millimeter, aber bleiben immer noch auf Abstand. Leicht streifen seine Lippen die meinen und ich erschaudere. Wir kommen uns Stück für Stück immer näher.
»Wir bringen das restliche Essen mit«, ruft Jules und erscheint mit Casper im Türrahmen. Auch wenn ich es nicht wollte, bin ich einige Zentimeter von Damian weggesprungen und starre nun auf meine Hände. Für meinen besten Freund habe ich nur ein Nicken übrig.
»Ich helfe dir«, sagt Damian und stürzt sich quasi auf Jules, der ihn misstrauisch mustert. Während er ihm hilft, würdigt er mich keines Blickes, egal, wie oft ich den seinen suche.