C
asper reicht mir gerade den Salat, als mein Blick Solea streift, die bekümmert zu Damian starrt. Immer wieder schaut sie hoffnungsvoll zu ihm. Zwischen den beiden ist irgendwas passiert, was Solea mal wieder eine Tomatenröte ins Gesicht gezaubert hat. Eigentlich hätte ich damit gerechnet, dass sie sich streiten, als ich mit Casper auf die Dachterrasse kam. Unwillkürlich lächle ich jenen an. Es fühlt sich einfach toll an, Freundschaften zu schließen und neue Leute kennenzulernen. Vor meinem geistigen Auge taucht Valerian auf, dessen Nummer ich nicht mehr gewählt habe. Zwar begegnen wir uns hin und wieder auf dem Flur, aber mehr auch nicht. Einschätzen kann ich ihn deshalb auch ziemlich schlecht. Trotzdem schleicht sich immer wieder sein Bild in meinen Kopf.
»Erde an Jules!« Soleas Hand wedelt vor meinem Gesicht.
»Kannst du mir das Salz reichen?«, erkundigt sie sich und ich bemerke, wie mich alle anstarren. Anscheinend war ich etwas länger versunken gewesen, als ich gedacht hatte.
»Ich kann dir das Wasser reichen und das Salz erst recht«, versuche ich, bemüht locker zu entgegen. Nachdem ich es ihr gegeben habe, häufe ich mir noch mal etwas Ofengemüse auf die Gabel und schlucke es genüsslich herunter. Casper ist einfach ein Künstler in der Küche. So gut habe ich noch nie gegessen, zumindest in den letzten Monaten nicht.
»Ich habe gehört, dass die Technik-Fakultät dieses Jahr wieder einen Roboterkampf geplant hat, stimmt das, Casper?«, fragt Damian aus dem Nichts.
»Ja, wir mussten in Zweier-Teams Roboter entwerfen und anschließend bauen. Der genaue Termin steht noch nicht fest, aber ich denke, dass es wieder in die Adventszeit fällt«, antwortet Casper schüchtern. Dennoch sehe ich ein Leuchten in seinen Augen.
»Roboterkämpfe, wie besinnlich für die Weihnachtszeit«, kommentiert Solea grinsend.
»Also, wenn ihr sehen würdet, wie es in meiner Familie zu dieser Zeit abgeht, würdet ihr die Kämpfe sicherlich entspannend finden«, stichelt Damian weiter. Dabei schaut er sie nicht an, sondern mich. Familie … Mein Magen verkrampft sich und ich bemerke erst jetzt, dass ich meine Gabel hab fallen lassen. Er soll froh sein, denke ich, und hasse ihn für diese Selbstverständlichkeit. Bis vor kurzem war ich allerdings nicht anders. In mir war immer der unerschütterliche Glaube, dass Blut dicker als Wasser ist und Familie bleibt, wenn alle anderen gehen. Falsch gedacht.
»Und wie kommt es, dass du dich für die Roboter interessierst?«, überspielt Casper geschickt meinen Ausrutscher und sieht Damian an.
»Es ist schwer zu erklären«, beginnt er und wird unterbrochen.
»Du hast dir als kleiner Junge immer einen Roboter vom Weihnachtsmann gewünscht und nie bekommen, weil du nicht lieb genug warst?« Solea hat wieder diesen Unterton, als würde sie ihn sticheln wollen. O nein.
»Und du hast dir als kleines Mädchen immer ein Märchenschloss mit einem Prinzen gewünscht, den es nie geben wird?« In Damian lodert ein Feuer, aber ich merke auch, wie seine Mundwinkel nach oben wandern.
»Vermutlich warst du einer dieser Jungen, die Mädchen an den Haaren gezogen oder sie mit Bausteinen beworfen haben!«, ruft meine Freundin energischer aus. Siegessicher, dieses verbale Duell gewonnen zu haben, lehnt sie sich zurück und verschränkt die Arme vor der Brust.
Damian flüstert daraufhin etwas, was ich nicht ganz höre. Allerdings gibt mir Soleas Reaktion ein deutliches Signal. Ich verfluche ihn, während ich gleichzeitig froh bin, nicht so viel gehört zu haben. Mit einem roten Gesicht wendet sie sich ihren Kartoffeln zu und fragt mich nach meiner letzten Hausaufgabe. Eine offensichtliche Ablenkung, aber das ist in Ordnung.
»Ich glaube, dass ich gleich platze«, meint Damian, während er sich über den Bauch streicht. An ihm sieht man natürlich kein Gramm Fett, sondern nur stahlharte Muskeln. Trotzdem bin ich irgendwie überrascht und auch fasziniert davon, wie viel er gegessen hat. Bestimmt hat er das Doppelte von meiner Portion in sich gestopft und ich hatte schon nicht allzu wenig.
»Jetzt gibt es aber noch Nachtisch«, schmollt Solea, die bemerkt hat, wie wir uns alle übersättigt zurückgelehnt haben.
»Und jetzt kommt mir nicht damit, dass ihr auf eure Linie achten müsst. Ich habe die Kalorien von diesem Essen ausgeschlossen. Fertig!«
Zufrieden mit sich selbst klatscht sie in die Hände und steht
auf, ehe sie die Teller und einige der Reste auf ein Tablett lädt und losstapft. Ich folge ihr mit einem zweiten vollen Tablett, auf dem sich die leeren Platten und Schüsseln stapeln. Als ich die Tür erreiche, ist sie schon verschwunden.
Vorsichtig setze ich einen Fuß vor den anderen und bahne mir meinen Weg die Treppe hinunter. Immer wieder schlägt das Porzellan klappernd aufeinander und ich bete darum, dass nichts kaputt geht.
»Joker, komm, ich gebe dir noch was zum Naschen«, höre ich ihre leise Stimme in der Küche. Sie kniet vor dem kleinen Kater, der sie erwartungsvoll anschaut. Anscheinend kann sie seinen Kulleraugen auch nicht widerstehen.
Als sie sich aufrichtet, wende ich mich an sie: »Was war das da eben zwischen Damian und dir?«
Ich merke, wie sich ihr Brustkorb viel zu stark hebt und senkt, bis sie den Mund öffnet:
»Ich weiß es nicht, aber ich bin auf dem Weg, es herauszufinden.«