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W as habe ich nur getan? Ich bin ja noch nicht mal absichtlich von ihm abgerückt. Es war einfach ein Reflex und er kann doch deswegen nicht sauer sein, oder? Wäre ich es an seiner Stelle? Wie in letzter Zeit öfters habe ich keine Ahnung und auch nicht das Gefühl, bald eine Antwort zu erhalten.
Schon bevor ich die Tür zur Dachterrasse öffne, vernehme ich die vertrauten Stimmen der Jungs. Jules habe ich schon mal vorgeschickt, während ich den Geschirrspüler eingeräumt habe. Nun trage ich ein Tablett vor mir mit vier Schalen Nachtisch. Allein bei dessen Anblick läuft mir das Wasser im Mund zusammen und ich kann nicht glauben, dass ich immer noch Hunger habe. Mit meiner Hüfte stoße ich die Tür auf und drücke mich mit dem Rücken zuerst nach draußen. Mittlerweile ist es vollkommen dunkel und einzelne Sterne erstrahlen am Himmel. Mit dem Wetter haben wir echt Glück, obwohl ich das noch nicht zu früh sagen will. Laut Wetterbericht soll es noch diese Nacht anfangen, zu regnen. Die Kälte ist zumindest schon vorhanden und kriecht mir die Ärmel hoch. Zwar habe ich meinen dicksten Pulli an, doch selbst der schützt mich nicht ausreichend. Ich erschaudere und wünsche mir eine warme Decke und meine heiße Wärmflasche zu mir.
»Da kommst du ja schon!«, ruft Jules aus und ich blinzele kurz. Erst jetzt wird mir bewusst, was ich sehe. Sie müssen es verändert haben, denn jetzt ist der Tisch weggerückt und es liegen noch mehr Kissen da. Außerdem steht eine kleine Wärmelampe in der Ecke und Jules hält Wolldecken hoch. Freudig würde ich mich am liebsten zu ihnen werfen. Stattdessen reiche ich ihnen die kleinen Gläschen. In verschiedenen Schichten finden sich Cookies, Weintrauben in rot und grün und eine Creme, die ich selbst zubereitet habe, wieder. Stolz strecke ich jedem einen Löffel hin und sie schnappen ihn sich.
»Das sieht ja doch nicht so eklig aus«, kommentiert Damian, bevor er seinen Löffel in der fluffigen Creme versenkt. Ich will mein Besteck gerade ebenfalls eintauchen, als Casper anfängt, zu husten. Sofort richten sich alle Blicke auf ihn und ich sehe, wie er unter seiner wilden Frisur rot anläuft.
»Alles gut?«, erkundige ich mich, woraufhin er nur ein schiefes Lächeln und ein Nicken zustande bringt. Auch Jules mustert ihn kurz, wendet sich aber schnell wieder dem Dessert zu.
»O Gott!«, schreit da auf einmal mein bester Freund und springt auf.
»So gut?«, lächele ich ihn an und freue mich nur umso mehr.
Nun nimmt Damian einen Bissen, reißt plötzlich die Augen auf und schimpft: »Was ist das? Willst du uns umbringen?« Daraufhin spuckt er sein Essen wieder in das Schälchen zurück und stellt es auf dem Boden ab.
»Also, wenn die anderen es dir nicht sagen, muss ich es tun: Iss das nicht, wenn du deine Geschmacksnerven behalten willst!«
Mit gerunzelter Stirn schaue ich zwischen den dreien hin und her und nehme so genussvoll, wie ich nur kann, einen Löffel. Jules schlägt sich die Hand vor den Mund und auch Casper wirkt entsetzt. Ich mache mich bereit für den Geschmack von Mascarpone und Sahne in Kombination mit fruchtigen Trauben und leckeren, knusprigen Cookies.
Dann trifft mich der Schlag.
Am liebsten würde ich es wie Damian einfach ausspucken, aber ich hindere mich selbst daran und schlucke – oder besser gesagt, würge – es herunter. Es schmeckt wie eine Mischung aus ranziger Butter mit matschigen Früchten und durchweichten billigen Keksen. Etwas vergleichsweise Ekliges habe ich noch nicht gegessen und ich kann mir nicht erklären, wie es dazu gekommen ist. Als ich es zubereitet habe, war doch noch alles gut.
»Na, willst du meinen Nachtisch auch noch?«, stichelt Damian und bringt mein Blut damit zum Kochen. Er schafft es irgendwie immer, mich aufzuregen und dabei gleichzeitig zum Lächeln zu bringen. Um ihn anzustacheln, nehme ich noch einen Löffel und versuche, mein Gesicht nicht allzu sehr zu verziehen. Dabei stöhne ich auf, als wäre mein Küchen-Desaster ein Geschenk Gottes. Ich befürchte, dass ich bei einem weiteren Löffel kotzen würde und bin einigermaßen froh, als er mir die Schale abnimmt. Trotzdem will ich es mir nicht anmerken lassen.
»Was ist, wenn ich das noch essen wollte?«, empöre ich mich und höre Jules im nächsten Moment lachen:
»Also ehrlich, wenn du das isst, lecke ich freiwillig den Boden ab. Gib schon zu, dass es eklig ist.«
»Also«, fange ich an, »irgendwas muss mit der Sahne nicht stimmen. Ansonsten würde es echt toll schmecken.«
Auf einmal stutze ich: »Jetzt haben wir ja gar keinen Nachtisch?! Aber ich hatte doch so Hunger drauf.«
»Hast du im Ernst noch Hunger? Nach dem Festmahl?«, schnaubt Damian.
»Ja«, brumme ich und laufe rot an. Ich bin eben nicht so wie andere, die nur auf ihre Figur achten. Wenn ich Hunger habe, brauche ich einfach Essen. Bevorzugt in Form von Schokolade, aber Chips sind auch in Ordnung.
»Ich könnte auch noch einen Snack vertragen«, stimmt Casper mir versöhnlich zu und setzt sich auf. In kürzester Zeit ist er verschwunden, ohne viel zu sagen, außer, dass er gleich wieder da ist. In der Zwischenzeit betrachte ich die Lichterketten, die die Jungs angemacht haben.
»Ich gebe es ja nur ungern zu, aber es sieht wirklich toll aus«, lobe ich sie.
»Und ich gebe es auch nur ungern zu, aber die Hauptarbeit hat Damian geleistet. Er hatte die Idee und hat auch alles für die Umsetzung besorgt«, erklärt Jules und ich verstehe zuerst nicht, was er damit meint.
Damian soll das alles gemacht haben?
»Du?« Ich drehe mich zu ihm und merke erst jetzt, wie nah er mir eigentlich ist. Noch von hier spüre ich die Wärme seines Körpers und das, obwohl er nur einen dünnen Pulli übergeworfen hat. Überraschenderweise ist dieser mal nicht nur schwarz, sondern olivgrün. Dieser Ton bringt seine gebräunte Haut zum Glänzen und sie sticht noch mehr hervor. Mein Gefühl sagt mir, dass ich mich zu ihm lehnen will, aber ich halte mich zurück und lächele ihn stattdessen an.
»Danke«, räuspere ich mich und bin froh, dass Casper schon im nächsten Moment erscheint.
Betreten schaut Jules zwischen uns hin und her. Ich schaffe es nicht, meinen Blick mit seinem zu kreuzen, weil ich seine Sorge und Zweifel nicht sehen will. Stattdessen konzentriere ich mich auf meinen Mitbewohner, der sonst immer sehr still ist und jetzt eine Packung hinter seinem Rücken hervorzaubert.
»Schokoladeneis«, hauchen wir alle zusammen und wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich meinen, dass wir alle ein Lächeln auf dem Gesicht tragen.
»Ich habe jetzt keine Schüsseln, aber ich dachte, dass wir es vielleicht einfach daraus löffeln können«, fängt Casper an. »Es kommt zwar nicht an was Selbstgemachtes heran, aber es ist besser als nichts.«
»Es ist perfekt«, unterbrechen Jules und ich ihn gleichzeitig und lächeln uns kurz an. Casper reicht mir schließlich die Packung mit der Begründung, dass ich die Tapferste unter ihnen sei, weil ich ganze zwei Bissen von meiner … Pampe … genommen habe.
»Köstlich«, bringe ich hervor, als die Schokolade in meinem Mund zerfließt. Damian, der sich bisher eher im Hintergrund gehalten hat, nimmt nun auch einen Löffel. Diesen Moment, in dem er die Augen genießerisch geschlossen hält und den Mund zu einem Lächeln verzieht und friedlich in Richtung Himmel blickt, würde ich gerne festhalten. Hinter ihm leuchten die Lichterketten um die Wette und hüllen ihn in einen warmen Schein. Plötzlich suchen seine Augen die meinen. Kurz will ich mich ihnen hingeben, aber ich weiß es besser. Ich belehre mich innerlich und schaffe es, meinen Körper wieder von ihm abzuwenden. Uns umgibt eine deutliche Stille, während Casper und Jules in ein angeregtes Gespräch vertieft sind. Irgendetwas übers Kochen, meine ich, bin mir aber nicht sicher. Es könnte auch ein Technik-Gespräch sein.
Erst jetzt bemerke ich die fehlende Wärme so richtig und reibe mir mit den Händen über die Arme. Auch wenn alle sagen, dass der Herbst milder ausfällt, ist es definitiv Zeit für die dicke Winterjacke. Noch während ich darüber nachdenke, spüre ich ein Gewicht auf mir. Damian hat mir die Wolldecke auf die Beine gelegt. Im Kontrast zu seiner Geste starrt er ernst auf seine Hände. Stirnrunzelnd nehme ich seine Hand in meine und drücke sie kurz. Er versucht, sie wegzuziehen, doch ich bleibe starr. Mit dem Blick nach vorne gerichtet verschränke ich unsere Finger und streiche mit meinem Daumen über seinen Handrücken.
»Was«, setzen wir gleichzeitig an und ich kann ein Grinsen nur schlecht verhindern.
»Du zuerst«, fordere ich ihn auf, damit ich noch etwas Zeit gewinne, um mir die Worte zurechtzulegen.
»Schämst du dich für mich?«
Ich blinzele und versteife mich. Das ist das, was ihm Sorgen bereitet? Fassungslos schnappe ich nach Luft und lache. Also, wenn sich einer für ihn schämt, wäre die Menschheit dem Untergang geweiht. Klar, er ist nicht der Gesprächigste und ein ganz schöner Idiot, aber er ist tiefgründig. Er weckt ein Feuer in mir, von dem ich dachte, dass es schon längst erloschen ist.
Immer noch lächelnd spüre ich alle Blicke auf mir. Erst ist mir das unangenehm. Dann erinnere ich mich, dass hier meine Freunde vor mir sitzen und nicht irgendwer. Jeder von ihnen ist vollkommen anders und einzigartig, aber durch Zufall hocken wir hier auf dieser wunderschönen Dachterrasse und genießen den erfrischenden Abend.
Um ein Zeichen zu setzen, drücke ich Damians Hand erneut.
Jules forscht in meinem Blick und scheint, die Situation noch abzuschätzen. Casper strahlt mich hingegen an. Vielleicht ist er aber auch einfach nur begeistert von der Vorstellung, dass Damian und ich uns nicht die ganze Zeit bekriegen werden. Die letzten Wochen hat es, glaube ich, sehr an seinem Geduldsfaden gerissen, ständig in irgendeinen Scherz oder eine Streiterei verwickelt zu sein. Selbst die Prüfungsphase konnte uns nicht richtig davon abhalten.
Erst vor kurzem hat er sich mit meiner Bluetooth-Box verbunden, als ich duschen war. Plötzlich drangen nicht mehr die mir vertrauten Linkin-Park-Bässe zu mir, sondern die Lieder der Eiskönigin. Was Damian nicht wusste, ist, dass die Filme zu meinen Lieblingen gehören. Ziemlich laut und übertrieben emotional habe ich mit Elsa gesungen und mir zum Schluss selbst applaudiert.
Bei meinem eigenen Scherz hatte ich sogar fälschlicherweise Caspers Handtuch genommen und mit Glitzer eingerieben. Wie er entsetzt und mit vielen kleinen, funkelnden Partikeln übersät vor mir stand, werde ich nicht so schnell vergessen. Auch wenn man sagen muss, dass es ihm sogar sehr gut gestanden hat. Sogar Jules merkte das damals an.
Damian schaut mich nicht an und ich ihn nicht. Stattdessen erwidert er meine Geste. Dabei wandert mein Blick zu Jules, der die Arme verschränkt hat und mir sicherlich eine Moralpredigt halten wird.