22
» S olea? Ich habe Donuts von deinem Lieblingsbäcker«, rufe ich und schließe die Tür hinter mir. In einer Bewegung streife ich meine Schuhe aus und stelle sie im Flur ab. Meine Jacke hänge ich an einen Kleiderhaken und folge den Geräuschen aus der Küche. Zu meiner Überraschung steht dort nicht meine beste Freundin, sondern ein pfeifender Casper. Fröhlich gießt er etwas in eine Pfanne und ich nehme nur ein leises Zischen wahr. Einen Moment betrachte ich ihn noch, wie er in einer grauen Jeans und einem knallgrünen Shirt dort kocht. Seine lockigen Haare werden immer länger und wilder und nur vereinzelt blitzt die helle Haut seines Nackens hervor.
»Guten Morgen!«
Ertappt dreht er sich um. Er wird rot im Gesicht und blinzelt mehrmals.
»Jules, mit dir hätte ich so früh nicht gerechnet«, sagt er schlicht und einfach, bevor er sich wieder seiner Pfanne zuwendet. Ich gehe ein paar Schritte näher, bis ich den Inhalt erkenne. Dabei stößt mir auch der leckere Duft der Pancakes in die Nase und ich grinse.
»Dein Lieblingsfrühstück? Ich dachte, dass du dir die Mühe nicht gerne machst«, frage ich ihn, um die entstandene Stille zu überbrücken. Unentschlossen lege ich die Tüte mit den Donuts schließlich auf dem Tisch ab und setze mich hin. Mit meinen Händen fahre ich mir über meine müden Augen. Gestern ist es doch noch ziemlich spät geworden, bis ich gegangen bin. Solea war da schon tief eingeschlafen und lag neben Damian. Die beiden zusammen zu sehen, ruft in mir widersprüchliche Gefühle hervor. Ich bin hin und hergerissen, weil ich ihr wirklich wünsche, glücklich zu sein. Auf der anderen Seite weiß ich nicht, ob er derjenige ist, der sie glücklich macht. Deshalb war es mir auch so wichtig, heute Morgen hier zu erscheinen.
»Du hast es dir gemerkt.« Unruhig fährt Casper sich mit der Hand durch die Haare, was sie dazu bringt, sich in alle Richtungen aufzustellen. Überraschung blitzt in seinen Augen auf, die er nur schwer verbergen kann. Meinen Kopf lege ich auf meinen Händen ab, bevor ich antworte: »Natürlich, wir sind doch jetzt Freunde und keine flüchtigen Bekannten mehr.«
»Okay, als Freund will ich dir einen Pancake anbieten und ich akzeptiere kein Nein«, befiehlt er und ich kann nur lachen. Der sonst so schüchterne und stille Junge kommt vollkommen aus sich heraus. Wenn er mir vorher immer nur im Vorbeigehen zugenickt hat, ist er jetzt wie ausgewechselt.
»Das soll vermutlich ein Ja sein«, redet er weiter und ehe ich mich versehe, sitzen wir uns gegenüber am Küchentisch. Jeder hat einen Stapel Pancakes auf seinem Teller und ein großes Nutellaglas steht vor uns. Kurz haben wir über die Verwendung von Marmelade oder Sirup geredet, aber wir waren uns sofort einig. Auf das Gebäck gehört einfach eine dicke Schicht Schokolade. Nach dem hervorragenden Essen gestern Abend mache ich mich auf ein leckeres Frühstück gefasst. Mit dieser Geschmacksexplosion habe ich aber nicht gerechnet.
»Wow«, entfährt es mir.
»Yep. Was Besseres gibt es nicht«, erklärt er und ich bemerke erst jetzt die feine Röte, die seine Wangen bedeckt.
Ich will etwas erwidern, da vibriert mein Handy. Als ich darauf schaue, sehe ich eine Nachricht von Valerian, was mich verwundert. Mit ihm hätte ich niemals gerechnet. Immer noch verblüfft öffne ich sie und finde eine Einladung zu einer Party vor. Außerdem fragt er, ob ich nächstes Wochenende auch dabei sei. Ich schenke dem nicht weiter Beachtung und schalte mein Handy aus. Mein Blick fällt zurück auf Caspers Teller, der schon fast komplett leer ist.
»Ich liebe die Musik der 80er Jahre und auch 90er. Aktuelle Charts finde ich schrecklich, weil man das alles keine Musik nennen sollte. Zurzeit habe ich einen Ohrwurm von »Wonderwall« von Oasis, weil das eines der Lieder ist, bei denen ich gerne an dem Roboter weiterarbeite. Außerdem liebe ich Queen, die einfach nur Legenden sind. Ich bin ein Mensch, der es hasst, etwas nicht beendet zu haben. Deshalb hast du hier noch den fehlenden Fakt über mich, den ich dir schulde, und einen weiteren, womit du mir wieder einen schuldest.«
Überrascht hebe ich den Blick und sehe nur noch, wie er seinen Teller in den Geschirrspüler steckt und verschwindet. Mit mir allein denke ich grinsend über das, was er gesagt hat, nach. Jetzt bin ich also wieder am Zug.
Als mir nach 10 Minuten, die sich für mich wie Stunden angefühlt haben, immer noch nichts Interessantes eingefallen ist, stehe ich auf. Den Kopf kann ich mir darüber später noch lang genug zerbrechen.
»Solea?«, rufe ich einige Male leise in den Flur. Unter keinen Umständen will ich Damian aufwecken. Das letzte Mal, als ich so laut nach ihr gerufen habe, ist er aus seinem Zimmer gestürmt und hätte mich vermutlich am liebsten an die Wand geklatscht. Allgemein scheint er etwas gegen mich zu haben, was aber auf Gegenseitigkeit beruht. Als sie immer noch nicht reagiert, schiebe ich ihre Zimmertür komplett auf. Zusammengerollt liegt Joker auf ihrer Decke und scheint tief zu schlafen. Von ihr ist keine Spur zu sehen, obwohl ich mir auch nicht vorstellen kann, dass die beiden sie oben haben liegen lassen. Das heißt, dass sie bei Damian ist?
Fluchend trete ich gegen ihr Bett, was den kleinen Kater aufspringen lässt. Dieser starrt mich böse an, bis er sich schlussendlich dazu entscheidet, dass ihm sein Schönheitsschlaf lieber ist als ich.
Ohne nachzudenken, stürme ich aus ihrem Zimmer und klopfe an Damians Tür. Ich höre das Knarzen eines Bettes und verfluche mich umso mehr. Wenn ich ihn geweckt habe, wird er mir vermutlich den Hals umdrehen. Die nötige Kraft dafür hat er allemal.
»Jules?« Langsam öffnet sich die Tür und Solea schleicht heraus. Komplett angezogen. Ich lasse die Luft aus meiner Lunge entweichen. Bis gerade habe ich nicht mal gemerkt, dass ich sie angehalten habe. Dabei bin ich ihr bester Freund und nichts anderes. Am liebsten würde ich mich dafür ohrfeigen, dass ich sie immer beschützen will – wo sie doch eigenständig ist und selbst entscheiden muss.
»Donuts?«, frage ich und wedele mit der Tüte vor ihrem Gesicht herum. Wie aufs Stichwort beginnt ihr Magen zu knurren und sie zieht mich mit ins Wohnzimmer.
»Ich habe ganz vergessen, dass bald die ersten Klausuren und Prüfungen anstehen.« Sie klatscht sich mit der flachen Hand auf die Stirn. Ihre Haare fallen in unregelmäßigen, gekräuselten Strähnen bis auf ihre Schulter. Den Rest hat sie gerade eben, nachdem sie sich diese mehrmals gerauft hat, zu einem Knoten hochgesteckt. Mit wachsamem Blick beobachtet sie Joker, der über die Sofalehne stolziert. Weiterhin behält mich das Tier argwöhnisch im Auge, was ich ihm nicht verübeln kann. Versöhnlich streichele ich ihm übers Fell. Glücklicherweise scheint er nicht sehr nachtragend zu sein und schnurrt.
»Das schreit ja quasi nach ganz vielen Lernstunden«, ruft sie und hebt ihre Hände für einen gespielt enthusiastischen Freudentanz.
»Und nach zahlreichen Stunden in der Bibliothek, in denen wir nicht reden, sondern uns von den Bücherbergen begraben lassen«, antworte ich und muss es mir unwillkürlich bildlich vorstellen.
»Das ist vermutlich immer noch besser, als die letztendlichen Prüfungen«, gibt sie zu bedenken und ich muss grinsen.
»Ach, komm schon. Ich frage dich ein paar Gesetze ab und du mich ein paar Knochen, Muskeln und Sehnen.« Lachend werfen wir uns auf den Rücken, bis wir nebeneinanderliegen. Unsere Köpfe sind nur wenige Zentimeter voneinander entfernt und ich spüre ein paar ihrer Locken an meinem Gesicht tanzen. Ein warmes Gefühl macht sich in mir breit. Ich streiche ihr gedankenverloren durch die Haare und auch an ihrer Wange vorbei. Auf ihrer seidigen, warmen Haut kommen mir meine Finger direkt kalt und rau vor. Ihre zarte Hand legt sich über meine.
»Jules?«, flüstert sie. Die Luft scheint zu kribbeln und ist aufgeladen voller Spannung und Überraschung. Ich weiß gar nicht, wie genau wir in diese Situation gekommen sind.
»Ich bin unfassbar dankbar, dass ich dich als beste Freundin habe. Das klingt jetzt wirklich klischeehaft, aber ich weiß nicht, ob ich die letzten Wochen so einfach überstanden hätte – ohne dich.«
Ich spüre, wie sie ihre Position neben mir verändert und sich mit dem Kopf zu mir dreht. Ich betrachte allerdings nur die Decke. Ein Schweigen breitet sich aus und ich winde mich innerlich. So etwas habe ich noch nie laut ausgesprochen. Dabei meine ich die Worte genauso, wie ich sie gesagt habe. Sicherlich hätte ich sie noch mehr ausführen können. Ich hätte die Momente aufzählen können, die mir viel bedeuten. Angefangen bei unserem wackeligen und unbeholfenen Kennenlernen über die Zeit, die wir zusammen verbracht haben, bis heute. Einfach auf der Couch liegen und reden. In ihr habe ich jemanden gefunden, der mich versteht. Sie weiß zwar noch längst nicht alles von mir und innerlich winde ich mich deshalb, aber im Augenblick reicht es so. Ich bin zufrieden, wie es ist, und das habe ich ihr zu verdanken.
»Jules«, sie atmet tief ein und aus. Mit einer Hand fährt sie durch meine ungekämmten Haare. Heute Morgen war es mir am wichtigsten, schnell zu ihr zu kommen. Darüber habe ich alles vergessen – außer das Zähneputzen.
»Ich bin schlecht mit Worten.« Bei diesem Satz muss ich lächeln und bemerke ihren wachsamen Blick. »Aber … mir ist das genauso wichtig. Ich habe dich wirklich lieb gewonnen und du bist mein bester Freund. Ich vertraue dir einfach …«, sie gerät ins Stocken.
Ich fühle mich in diesem Moment einfach nur mit ihr verbunden und nehme sie in den Arm. Vertraut kuschelt sie sich an mich und ich komme mir vor wie ihr Bruder. Ich habe das Gefühl, sie schon viel länger zu kennen als nur diese paar Monate. So ein bisschen wie eine Freundin, die ich in einem vorherigen Leben hatte und dann wieder entdeckt habe.
»Jules«, ich warte darauf, was sie dem noch hinzufügen will, »du erwürgst mich fast, wenn du den Arm noch mehr um mich schlingst.« Lachend lasse ich sie ein Stück los, jedoch nur so weit, dass ich immer noch ihre Wärme spüren kann.
»Aber in meinen Armen erwürgt zu werden, ist doch immer noch besser, als von einem Bücherstapel erschlagen zu werden, oder?«, erkundige ich mich und streiche gleichzeitig mit meiner Hand über ihren Rücken. Sie spannt die Schultern an und ehe ich mich versehe, massiere ich ihre verhärteten Muskeln. Unter meinen Fingern bemerke ich, wie sie sich bewegt und zusammenzuckt, bis sie sich langsam entspannt.
»Also, du bist zwar toll, aber gegen Bücher anzukommen, ist schon irgendwie unmöglich«, fügt sie grinsend hinzu. Ein leises und ehrliches Lachen schleicht sich meine Kehle empor und ich gluckse. Unglaublich . Unglaublich, wie sehr sie mir ans Herz gewachsen ist. Wie sie mich immer wieder zum Lachen bringt.
»Jungs aus Büchern sind halt doch die besseren«, sage ich und meine es auch so. Sie nickt und kichert.
Ich richte mich auf, während sie ein Stück von mir wegrutscht.
Auf einmal fühle ich mich beobachtet und drehe mich unruhig um. In der Küche meine ich, einen Jungen in grünem Shirt gesehen zu haben, aber sicher bin ich mir nicht.
»Also, klar … wir könnten lernen … oder aber wir schauen uns einen Film an. Du hast doch sowieso keine Unisachen dabei.«
Wie ein kleines Teufelchen auf meiner linken Schulter trichtert sie mir diese Idee ein, obwohl ich eigentlich vernünftig sein sollte. Aber wie sollte ich bei dem hoffnungsvollen Blick in ihrem Gesicht Nein sagen?