I
ch schaue zu dem Stapel Bücher links von mir und stöhne innerlich auf. Ich muss gut sein in der Uni, das habe ich meinen Eltern versprochen. Sie haben es sich immer erträumt. Für mich. Für uns. Das bin ich ihnen schuldig, für alles, was sie noch heute für mich machen. Mein Pullover rutscht von meiner Schulter und ich bekomme eine Gänsehaut, dennoch bin ich nicht in der Lage, mich zu bewegen. Meine Augen fixieren einen Punkt vor mir. Besser gesagt, eine Person vor mir. Hinter meinem Bücherstapel versteckt erzittere ich und mir wird schlecht. Ich weiß nicht, wie ich reagieren soll, oder, ob ich überhaupt etwas sagen soll. Verkrampft bewege ich meinen Stift zwischen zwei Fingern. Damit habe ich nicht gerechnet, aber hätte ich überhaupt etwas anderes erwarten dürfen? Wir sind nur Mitbewohner und doch spüre ich einen unbekannten Schmerz in meinem Oberkörper. Es fühlt sich
nicht richtig an, das zu beobachten. Unruhig fahre ich mir durch die Haare und erinnere mich, wie ich eigentlich aussehe. In kürzester Zeit habe ich mir heute Morgen irgendeinen viel zu großen Pulli übergeworfen. Meine Leggings hat auch schon bessere Tage erlebt. Um nicht aufzufallen, packe ich meine Stifte in meinen Rucksack. Meinen Notizblock und meinen Kaffeebecher schnappe ich mir ebenfalls und stehe zügig auf. So schnell, wie ich mich erhoben habe, eile ich auch an den Tischen vorbei, um zum Ausgang zu gelangen. Ich spüre ein paar vereinzelte Blicke auf mir, aber ich zwinge mich dazu, mich nicht umzudrehen. So leise und unauffällig wie möglich verabschiede ich mich von der Bibliothekarin, die mich mit gerunzelter Stirn ansieht. Noch nie bin ich gegangen, ohne mir ein Buch auszuleihen, und sie scheint das zu bemerken.
»Bis bald!«, ruft sie mir hinterher und ich drehe mich doch noch einmal um. Die Tür habe ich schon leicht aufgedrückt. Ich kann nicht anders, als ein letztes Mal zu Damian zu schauen, als er mich plötzlich entdeckt. Sein Blick gilt mir, während ich nur die Studentin anstarren kann, die sich an ihn drückt. Ihre Hände wandern über seine muskulösen Schultern und wecken Erinnerungen in mir. Gestern konnte ich ihm noch durchs Haar streichen und heute sie? Wer ist dann morgen dran? Die nächstbeste dahergelaufene Frau?
Hastig drehe ich mich um und bewege mich über den Flur. Meine Tasche hängt mir über die Schulter und rutscht immer weiter nach hinten. Um mich herum stehen einzelne Studenten, die gerade aus ihren Kursen kommen. Ich versuche, in der Menge unterzutauchen und schnell zu verschwinden. Innerlich verfluche ich mich für meine Reaktion, aber ich kann nicht anders. Wir haben nie darüber geredet, was wir füreinander fühlen. Es hat sich immer so echt und real angefühlt, als würde Damian mehr in mir sehen als seine Mitbewohnerin. Mehr noch als eine gewöhnliche Freundin. Meine Beine wollen nicht stehenbleiben.
»Solea, jetzt warte doch mal!«, höre ich ihn hinter mir. Seine Stimme, die mir immer eine Gänsehaut beschert, hat heute den gegenteiligen Effekt. Ich fühle mich verraten, obwohl ich das nicht dürfte. Aber ich kann nicht anders. Mein Herz rast und ich hasse mich. Für meine übertriebene Reaktion. Was denke ich, wer ich bin? Ich schnappe nach Luft, als mich ein Junge anrempelt. Überrascht rutscht mir mein Rucksack von der Schulter. In meiner Eile habe ich ihn nicht richtig zugemacht. Natürlich fallen jetzt auch die einzelnen Stifte, die ich gerade nur achtlos hereingeworfen habe, heraus. Fluchend knie ich mich hin und sammle sie ein.
Ich fahre mir mit einer Hand durchs Haar, als ich mich aufrichte. Mein Blick fällt auf den Studenten vor mir. Damian. Mein Mitbewohner und bloß ein guter Freund. Mehr nicht.
»Hey, du bist gerade ziemlich schnell abgehauen. Also im Basketball-Team von der Uni suchen sie sicherlich noch jemand, der so flink ist wie du.«
Mein Mund klappt auf und zu. Zu mehr bin ich nicht imstande, als sich ein Orkan an Gefühlen in mir entlädt. Ich weiß, warum er das macht. Er will keine unangenehme Situation oder Atmosphäre entstehen lassen. So gut kenne ich ihn mittlerweile. Er meidet alles, was nicht mit Spaß verbunden ist. Selbstgefällig grinsend lehnt er sich an die Wand und betrachtet mich. Ohne mit der Wimper zu zucken, gleitet sein Blick über meinen dicken Pulli bis zu meiner alten Leggings und den dicken Socken. Ich laufe rot an. Andererseits hatte mich mein Mitbewohner schon in deutlich peinlicheren Klamotten gesehen.
Unwillkürlich muss ich lächeln, während ich an sein überraschtes Gesicht denke, als ich mit einem Hello-Kitty-Pulli durch die Küche getanzt bin und nicht mitbekommen habe, dass er im Türrahmen stand und mich grinsend beobachtet hat.
»Alsooo …«, beginnt er und schaut mich abwartend an. Als ich nicht reagiere, verschränkt er seine Arme vor seiner Brust.
»Du bist geflohen, weil du mich so unwiderstehlich findest? Gib es zu«, stachelt er mich an. Diabolisch grinsend streckt er sich. Dabei rutscht sein Shirt ein Stück nach oben und zeigt ein paar seiner definierten Bauchmuskeln.
»Du Spinner. Eher würde es in der Hölle regnen, bevor ich dich, wie du es sagen würdest, unwiderstehlich finde.« Ich strecke ihm die Zunge raus und schließe meinen Rucksack fest. In dem Moment, in dem ich mich umdrehen will, um ihn verdutzt stehen zu lassen, packt er meine Taille und hebt mich hoch. Geschickt wirft er mich über seine Schulter und ich frage mich, wie ich für ihn so leicht sein kann. Gleichzeitig versetzt es mich auch an den Abend zurück, an dem wir auf der Dachterrasse waren. Ich erinnere mich an seine Überraschung und daran, wie schön es war, einfach neben ihm einzuschlafen. Plötzlich mache ich mir bewusst, dass wir uns in einem Flur voller Studenten und Professoren befinden.
»Was soll der Mist?«, schreie ich und versuche, mich aus seinem festen Griff zu befreien. Wie kann ein Mensch so stark und hart sein, aber gleichzeitig auch so sanft? Seine Finger hinterlassen eine angenehm kribbelnde Wärme auf meiner Haut. Ich erschaudere und er setzt sich in Bewegung.
»Ey, du hast mich gehört. Setz mich sofort ab!«, kreische ich und dämpfe meine Stimme, als ich die irritierten Blicke der anderen Studenten sehe.
»Und was, wenn ich das nicht mache? Verhaust du mich dann?«, fragt er spitzbübisch und lacht leise. »Ach, Solea. Beschimpfungen sind nicht so dein Ding oder?«, heizt er mich weiter an.
Mittlerweile bin ich dazu übergegangen, mich von ihm wegzudrücken, was nicht wirklich klappt. Mein Rucksack rutscht außerdem immer weiter und ich möchte ihn nicht ein weiteres Mal verlieren. Verzweifelt kralle ich mich in sein Shirt und sofort hüllt mich sein vertrauter Duft ein.
»An deiner Stelle würde ich mir keine Kratzspuren
bescheren«, wispert er. Ich frage mich, warum er so leise geworden ist. Zum ersten Mal schaue ich mich so richtig um und bemerke die kühlere Luft, die mir durchs Gesicht weht. Wir sind draußen und er trägt mich immer noch. Was denkt der sich denn?
»Setz mich ab oder ich hetze Joker auf dich los«, fange ich an und entlocke ihm nur ein kurzes Schnauben. »Wenn du mich nicht absetzt, schreie ich, so laut ich kann. Und glaub mir, das willst du nicht.«
Doch auch dieser Einwand lässt ihn kalt und ich trommele härter auf seinen Rücken ein.
»Warum trägst du mich jetzt durch die Stadt? Wartet nicht dieses Mädchen in der Bibliothek auf dich?«, erkundige ich mich. Auch wenn ich es nicht beabsichtigt habe, klingt aus meiner Frage ein schriller Ton heraus.
»Weil ich keine Zeit mit ihr, sondern mit dir verbringen wollte«, antwortet er und wird still. Mein Herz pocht laut und ich höre auf mit meinen verzweifelten Versuchen, mich zu wehren.
»Hier sind wir«, höre ich und stehe im nächsten Moment wieder auf meinen eigenen Beinen. Mir ist gar nicht aufgefallen, was für eine Wärme er ausstrahlt, bis sie jetzt weg ist. Ich reibe mir über die Arme und richte dabei auch noch schnell meinen Rucksack. Erst jetzt lasse ich meinen Blick über das Gebäude vor mir wandern. Ich stutze.
»Der Supermarkt?«, verwirrt betrachte ich ihn. Durch seine Wimpern sehe ich seine leuchtenden Augen herausstechen. Zu der Verwunderung mischt sich ein ungutes Gefühl. Das ist definitiv nicht das, was ich erwartet habe. Auch wenn ich nicht benennen könnte, was ich mir genau vorgestellt habe.
»Was denn sonst? Wir müssen noch etwas für heute Abend einkaufen. Casper hat mich beauftragt und hat mir das Rezept geschickt.«
Er dreht mich so, dass er einen Arm um meine Schultern
legen kann und zieht mich mit. Ehe ich mich versehe, stehe ich auch schon im warmen Laden und kremple meine Ärmel hoch.
»Was gibt es denn?«, überspiele ich meine Sprachlosigkeit. Noch immer begreife ich nicht so richtig, was passiert ist.
»Lasagne«, erwidert er kurz angebunden und meidet meinen Blick. Stattdessen prüft er das Angebot an Obst und Gemüse.
»Wir brauchen aber sicherlich auch noch ein paar Zutaten für den Salat«, ruft er mir zu und wir trennen uns in verschiedene Richtungen auf. Wir waren schon so oft zusammen einkaufen, dass wir mittlerweile schon festgelegte Aufgaben verteilt haben und ein eingespieltes Team sind. Ohne wirklich zu merken, was ich greife, schnappe ich mir ein paar Gemüsesorten und lege sie in den Korb, den Damian mir prompt hinhält.
Still schlendern wir durch die Gänge und füllen langsam den Korb. Ab und zu verschwindet einer von uns kurz, doch letztendlich finden wir immer wieder zueinander. Dabei kommt mir die Ruhe gar nicht erdrückend oder schwer vor. Eher so, als wären wir beide in Gedanken versunken, was auch mal gut ist.
Käse, hake ich die Liste der Zutaten innerlich ab und lege ein großes Goudastück in den Korb.
»Da standen aber nur 80 Gramm im Rezept«, beschwert sich Damian und durchbricht damit vollkommen meine Gedanken. Fassungslos starre ich ihn an und beiße mir auf die Lippe.
»Wenn du wirklich eine Lasagne mit 80 Gramm Käse machen willst, dann kündige ich jetzt und ohne Frist deinen Vertrag als Mitbewohner.« Kopfschüttelnd gehe ich weiter und lasse ihn im Gang stehen. Ohne dass ich es verhindern kann, huscht ein wohliges Gefühl durch meinen Körper und ich lache leise. 80 Gramm für eine Lasagne? Also echt …
Nachdem wir uns noch weitere quälend langsam
vergehende Minuten an der Kasse platziert hatten, bis wir endlich drankamen, sind wir jetzt endlich raus. Er trägt die Tüte mit den Einkäufen, während ich neben ihm herspaziere. Nur noch wenige Häuser und dann müssten wir schon auf unserer Straße sein. Leise einen Song von Linkin Park nach dem anderen summend gehe ich neben ihm her. Mein Kopf wippt leicht im Takt mit und ich kann nichts gegen das Gefühl machen, was sich in mir ausbreitet. Wir waren schon so oft zusammen einkaufen, weshalb ich mich frage, warum ich es als so anders empfinde. Ich will es nicht zugeben, aber ich genieße die Zeit mit ihm.
»Freunde? Ich weiß, dass wir schon mal auf unsere Freundschaft geprostet haben und dann kam wieder ein Streich, aber jetzt …«, lasse ich den Satz unvollendet.
»Freunde. Ich kann nur nicht dafür garantieren, dass sich nicht wieder jemand in deine Musikbox einklinkt, während du duschst.«
Lächelnd packt er meine Hand und beschleunigt damit meinen Herzschlag. Ich hole tief Luft und schaue zu meinen Füßen. Als wäre es nichts Besonderes und als wären wir ganz normale Freunde und Mitbewohner.
Dabei bin ich mir nur allzu bewusst, dass wir diese Grenze schon oft überschritten haben.