»
H
ier sind die Schlüssel für Ihr Zimmer. Frühstück gibt es immer von 7 bis 11 Uhr und mittags gibt es ein täglich wechselndes Angebot an Kuchen, Muffins und weiteren Snacks. Für das Abendessen können Sie sich hier einen Tisch reservieren oder Sie schauen spontan vorbei.«
»Danke«, erwidert der Mann, dem ich den Schlüssel hinhalte. Er scheint mich gar nicht richtig wahrzunehmen, weil er die ganze Zeit seine Frau betrachtet, die völlig fasziniert von der Kombination aus alten, verrauchten, hölzernen Elementen und modernster Dekoration ist. Wenn ich diesen Anblick nicht nahezu täglich hätte, wäre ich vermutlich auch noch beeindruckt.
»Also, falls Sie Fragen haben, ist die Rezeption 24 Stunden für Sie da. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt!«
Ich bin erleichtert, als die beiden sich auf den Weg Richtung
Aufzug machen. Tim schleppt ihnen auch schon das Gepäck hinterher. In meinen ersten Wochen habe ich das auch noch gemacht. Immer schön gelächelt, den Leuten die Tür aufgehalten und deren Koffer und Taschen bis zu den Zimmern gebracht. Doch relativ schnell war klar, dass meine Ausdauer nicht die Beste ist und dass ich erst recht kein gutes Bild dabei abgebe. Also hat mich die Hotel- und Restaurantbesitzerin hinter den Tresen gestellt. Dank Judy kann ich nun das tun, was mir wirklich Spaß macht: den Leuten helfen, Fragen beantworten und alles schön durchorganisieren. Wenn ich nicht hier am Empfang bin, teilt sie mich schon mal im Restaurant als Kellner ein. Das war auch eigentlich die Aushilfsstelle, für die ich mich beworben hatte.
»Na, Jules, wie geht es dir?«, erkundigt sich eine klare und helle Stimme. Ich würde sie sofort erkennen, vermutlich selbst im Schlaf, weshalb ich mich nicht direkt umdrehe.
»Soll ich dir jetzt wie immer sagen, dass ich es liebe, hier zu sein?«, gebe ich zurück.
»Genau das wollte ich hören«, reagiert sie. Im nächsten Moment stehe ich ihr gegenüber. Sie hat sich vor mir aufgebaut und betrachtet mich durch ihre glasigen Augen. Die nicht mehr ganz so junge Dame wirkt gerade fast schon freundlich, aber wenn man ihren Zorn geweckt hat, kann sie toben bis zum Gehtnichtmehr. Ich habe sie bisher nur einmal so erlebt und hoffe, dass das nie wieder vorkommt.
»Ach, Judy«, beginne ich wieder. Auch wenn es sich komisch anfühlt, seine Chefin zu duzen und mit Vornamen anzusprechen, ist es mir gleichzeitig so vertraut. Sie hat sich mir direkt als Judy vorgestellt und nie als Frau von Rotenfeldt. Ihr wahrer Name hat mir damals eine Gänsehaut beschert und ich war mehr als aufgeregt gewesen.
»Ach, Junge, ich sehe dich nur noch hier. Wirklich, die Gäste lieben dich und auch das restliche Personal. Aber was ist mit deinem Leben?« Ihr Blick ist standhaft und ich bin mir sicher,
dass ich nicht drumherum komme, mir einen Tag freizunehmen. Immer mal wieder erinnert sie mich daran, dass ich nicht so viel arbeiten soll.
»Ich will, dass du dich hier nicht zu sehr verausgabst neben der Uni«, erklärt sie und legt mir eine Hand auf die Schulter. Anfangs war das für mich echt befremdlich gewesen, dass diese Frau kein Problem damit hat, ihre Angestellten wie ihre Kinder zu behandeln. Die Wärme, die sie ausstrahlt, erreicht mein Herz und ich fühle mich ummantelt von ihr. Ich vermisse einfach meine Eltern, gestehe ich mir kurz ein. Es ist womöglich eine Schwäche von mir, dass ich sie nach allem, was passiert ist, noch vermisse, aber ich kann es auch nicht leugnen. Trotzdem will ich nicht zugeben, dass sie recht hat. Ich habe Solea seit einer Woche nicht mehr gesehen und wir haben uns immer mal wieder nur kurz geschrieben. Meist war ich zu eingespannt im Wochenenddienst und der Abend- bzw. Nachtschicht. Mir fehlen unsere vielen Treffen insgeheim und auch einfach, dass wir über alles reden können. Also über fast alles.
»Bei mir ist alles in Ordnung«, besänftige ich sie. Ihr Handdruck um meine Schulter verstärkt sich und ich zucke zusammen. Bei ihr fühle ich mich wie bei einer Ersatzfamilie. Das ist einer der Gründe, warum ich es hier liebe. Dieser Nebenjob ist mein Anker. Wenn ich nicht in der Uni oder bei Solea bin, bin ich hier. Viele Abende habe ich schon mit Judy geredet, ohne ihr von meiner Vergangenheit zu erzählen. Für sie zählt das Jetzige und das Zukünftige, glaube ich zumindest.
»Meinst du, mir fällt nicht auf, dass du dich jeden Tag zum Dienst eingetragen hast?«, fängt sie erneut an. »Das soll jetzt nicht heißen, dass ich dich nicht gerne hier habe, aber du brauchst auch eine Pause. Die Ringe unter deinen Augen sind gigantisch und deinem Trinkverhalten nach zu urteilen, bestehst du nur aus Kaffee.« Lächelnd deutet sie auf die Jumbo-Kaffeetasse, die ich mir heute bereits zum vierten Mal
gefüllt habe.
»Es wird dir nicht schaden, wenn du die restlichen Tage der Woche nicht kommst. Dieses Wochenende haben sich auch genug eingetragen, sodass du dir keine Sorgen machen musst.«
Egal, wie lieb es von ihr gemeint ist, sie stößt mir damit vor den Kopf. Wir haben doch erst Mittwoch. Ich habe das Gefühl, versagt zu haben, was mich schrumpfen lässt. Abgeschlagenheit macht sich in mir breit und auch der Kaffee scheint seine Wirkung zu verlieren. Müdigkeit rinnt anstatt des versprochenen Koffeins durch meine Adern. Die letzten Nächte bestanden nur aus Arbeiten und Lernen. Vielleicht hat sie ja Recht, aber das kann nicht sein. Ich habe es bisher immer geschafft.
»Bist du glücklich?«, fragt sie mich direkt und ich merke, dass ich diesmal nicht nur nicken kann. Sie will eine Bestätigung und würde es vermutlich sofort merken, wenn ich lüge. Aber mein Zögern scheint ihr schon zu reichen.
»Darf ich dich was fragen?«
Ein unangenehmes Gefühl breitet sich in mir aus. Judy hat noch nie gefragt, ob sie etwas erfahren darf. Sie bringt es immer direkt auf den Punkt. Doch jetzt schaut mich die ältere Dame, die immer nach einer Blumenwiese im Sommer riecht, traurig an.
»Ja, klar«, antworte ich angespannt. Ich balle meine Hände immer wieder zu Fäusten und bin nervös. Dazu kommt jetzt noch, dass sie mich mit in ihr Büro zieht. Im Augenwinkel erkenne ich Tims neugierigen und auch mitleidigen Blick. Er weiß auch, dass Judy sich selten in ihrem Büro aufhält und dass das immer ein schlechtes Zeichen ist.
Sie schließt die Tür hinter sich nahezu geräuschlos und ich setze mich wie ein Roboter auf den Stuhl.
»Ich mache diesen Beruf schon so lange und ich erkenne gebrochene Menschen, wenn ich sie sehe. Du wirkst in letzter Zeit nur noch traurig und abgeschlagen. Als würdest du einen
inneren Kampf kämpfen, der nichts mit der Uni oder der Arbeit zu tun hat. Dazu kommt, dass du zu dem Familienbrunch, den ich für alle Mitarbeiter und deren Familien veranstaltet habe, allein gekommen bist.«
Schmerz durchfährt mich und ich kneife die Augen zusammen. Muss sie mich darauf ansprechen, dass ich vollkommen allein dastand, während alle anderen ihren Eltern und Geschwistern das Anwesen gezeigt haben? Dass ich beim Essen genauso allein saß, umrundet von fremden Menschen, mit denen ich kein Wort gewechselt habe?
»Du hast dich unwohl gefühlt und ich frage mich, warum? Die Frage steht mir als Chefin nicht zu, aber als Mensch mit Gefühlen schon.«
Ich bin einen Moment mehr als überrascht. Bin ich so leicht zu durchschauen, dass selbst Judy, meine Chefin, es merkt?
»Ich habe nicht den besten Draht zu meiner Familie.« Zögerlich streiche ich mit einer Hand über meinen Arm. Das ist vermutlich die Untertreibung des Jahrtausends, aber was soll ich ihr sagen? Fordert sie jetzt meine Lebensgeschichte?
»Jules, mich hat eine Frau Collister angerufen.«
In diesem Moment zerreißt etwas in mir. Als hätte ich meine Vergangenheit in einem Glas gefangen gehalten. Jetzt, bei diesem Namen, hat das Glas Risse bekommen und meine Vergangenheit drängt sich immer weiter in den Vordergrund. Wie ein Dämon ergreift sie Besitz von mir und ich schnappe nach Luft. Es fühlt sich falsch an, über diese Frau nachzudenken.
»Meine Mutter?«, frage ich laut, aber die Antwort ist klar.