»
J
ules, jetzt geh doch endlich dran«, fluche ich, während ich den Platz vor der Fakultät für Rechtswissenschaften überquere. Dienstag haben wir noch miteinander geredet und jetzt meldet er sich nicht mehr. Ich weiß ja, dass er ziemlich eingespannt ist mit seiner Arbeit und den Klausuren. Aber etwas stimmt nicht. Er war nie der Junge, der abgetaucht ist. Zwar haben wir uns nicht so häufig gesehen, wie wir es uns gewünscht hätten, aber das kommt schon mal vor. Zumindest schreiben wir uns dann und telefonieren tagsüber mal miteinander. Außerdem ist er nicht zu unserem wöchentlichen Frühstück donnerstags zum Bäcker gekommen.
Ein ungutes Gefühl macht sich in mir breit, gemeinsam mit der Sorge, dass ihm etwas passiert ist. Aber würde ich es nicht erfahren, wenn ihm etwas passiert wäre?
»Solea?«, reißt mich eine Stimme aus meinen Gedanken. Überrascht fahre ich zusammen, bevor ich mich umdrehe. Hinter mir steht Casper mit geröteten Wangen. So wie er aussieht, ist er zu mir gerannt, und ich ziehe die Augenbrauen zusammen.
»Casper, ich habe gar nicht damit gerechnet, dich hier zu sehen.« Normalerweise laufe ich ihm nie über den Weg, weil sich alles, was mit Technik zusammenhängt, in dem anderen Gebäudekomplex befindet. Außerdem isst er auch meistens mit seinen Technik-Freunden und nicht mit Damian, Jules oder mir außerhalb des Campus.
»Ich«, stockt er und ich meine zu erkennen, wie er rot anläuft, »… soll ich heute Abend wieder kochen?«
Ich nicke, bevor ich den Kopf schüttle.
»Ich wollte heute zu Jules und esse vermutlich mit ihm.« Ich muss unbedingt nachhören, was mit ihm los ist. Selbst, wenn er nur im Prüfungsstress ist.
»Oh, okay. Und Damian?«, erkundigt sich Casper jetzt.
»Puh, da bin ich überfragt. Am besten schreibst du ihm noch mal. Ich meine, dass er heute eine Vorlesung schwänzen wollte. Heute Morgen war er nicht da«, erzähle ich schnell und will schon weitergehen.
»Ach so«, seufzt Casper, was mich innehalten lässt. Jede Wohngemeinschaft hat eine gute Seele und in unserem Falle ist das eindeutig Casper. Immerhin hat er die wöchentlichen WG-Essen aufgestellt, die uns mit der Zeit immer weiter zusammengeschweißt haben.
»Danke. Für alles.« Ich ziehe ihn lächelnd in eine herzige Umarmung. Normalerweise bin ich nicht so gefühlsduselig, aber die Sorge, dass etwas mit Jules ist, sitzt mir immer noch im Nacken.
Ohne noch etwas zu sagen, wendet er sich ab und verlässt die Grünfläche.
Ich klopfe noch mal fest an die Tür, in der Hoffnung, dass er kommt und sie öffnet. Als das immer noch nicht der Fall ist, krame ich in meiner Tasche, um ihn kurz anzurufen. Mir ist unheimlich kalt, weshalb ich zittere und auf der Stelle trete. Meine roten Chucks sind durchweicht, weil es auf dem Weg zu ihm angefangen hat zu regnen.
»Geh ran«, zische ich, als er sich nach wiederholtem Male nicht meldet. Ich habe extra eine Vorlesung geschwänzt, um ihn zu besuchen und dann so etwas. Vielleicht hätte ich ihm wirklich vorher schreiben sollen, aber das haben wir sonst nie gemacht. Meist sind wir einfach so beim jeweils anderen aufgetaucht. Ich schlage fester gegen die Tür und rufe gleichzeitig seinen Namen. In der Uni hat ihn keiner gesehen und wenn er sich verkriecht, ist er immer in seiner Wohnung. Immer.
»Ich zähle jetzt bis drei und wenn du dann immer noch nicht geöffnet hast, hole ich Damian, damit er die Tür eintritt. Und du weißt genau, wie gerne er das mal machen würde«, füge ich hinzu und fange an, laut zu zählen.
»Eins«, rufe ich und klopfe erneut gegen das Holz, bevor ich weiterzähle. Bei 'zwei' angekommen reißt er die Tür auf und verschwindet hastig wieder im Inneren. Durch den schmalen Spalt erkenne ich kaum etwas, weil er kein Licht anzuhaben scheint. Hat er sich vielleicht einen Film angeschaut? Oder ist er nicht allein? Ich habe ihn ja noch nie gefragt, ob er auch so viele Bettgeschichten zu erzählen hat wie Damian. Irgendwie habe ich das aber auch nie von ihm geglaubt. Er ist wie Casper – immer eine gute, treue Seele.
»Jules«, beginne ich, als er mir die Tür öffnet, und gerate ins Stocken. Schon im nächsten Moment spüre ich, wie es mir den Boden unter den Füßen wegreißt und ich auf dem Teppich liege. Ich muss wohl über etwas gestolpert sein, als ich ihm
folgen wollte. Ächzend drücke ich mich ein Stück hoch und höre ihn fluchen. Dann macht er die Deckenlampe an. Von der plötzlichen Helligkeit überrascht kneife ich die Augen zusammen. Ich habe das Gefühl, dass sich alles dreht, und zähle innerlich bis zehn, bevor ich die Augen wieder öffne.
»Shit, das wollte ich nicht. Ich habe nur nicht mit Besuch gerechnet und nicht aufgeräumt«, erklärt er und kniet sich neben mich. Ich erkenne dunkle Schatten unter seinen angeschwollenen Augen. Schlaf scheint er in letzter Zeit nicht bekommen zu haben. Sein Gesicht ist blass und eingefallen, was mir gar nicht gefällt.
»Geht es dir gut? Ich habe mir Sorgen gemacht …« Langsam richte ich mich auf und unsere Blicke kreuzen sich. Zuvor hat er noch die ganze Zeit weggeschaut, aber jetzt fixiere ich ihn.
»Du hast gerade einen dreifachen Looping gemacht und bist hingefallen und fragst mich, wie es mir geht?«, versucht er, die Stimmung etwas zu erhellen. Ich boxe ihm leicht gegen die Schulter, was ihn zusammenzucken lässt. Mein Kopf brummt noch ein wenig und ich stehe mit seiner Hilfe auf. Sofort nimmt er mir auch meinen Rucksack ab.
»Du bist ja total kalt und nass«, ruft er aus, als seine Hand auf den feuchten Stoff meines Pullis trifft. Heute Morgen hatte ich in all der Eile und Sorge vergessen, meine Regenjacke mitzunehmen.
»Du erkältest dich noch. Ich bring dir Sachen von mir.«
Ich nicke und die Kälte bahnt sich einen Weg durch den Saum und die Ärmel, was mich erschaudern lässt.
»Kann ich vielleicht kurz unter die Dusche springen und dann reden wir?« Ich lehne mich an ihn und merke erst jetzt, wie sehr ich es vermisst habe. Er ist wirklich mein Anker, weil ich immer auf ihn zählen kann und er immer auf mich.
»Klar, ich hol gerade die Sachen.«
Kurze Zeit später steht er mit diversen Kleidungsstücken bewaffnet wieder vor mir.
»Du hast dich nicht gemeldet. Das ist gegen unsere Freundschaftsregeln«, schnaube ich und weiß im nächsten Moment, wie kindisch es klingt. Aber er kontert nicht, drückt mir einfach die Klamotten in die Hand und hebt mich hoch. Ich fühle mich zurückversetzt in die Situation mit Damian und doch ist es ganz anders. Bei ihm ist es nicht wild, sondern vertraut und sicher. Er hält mich entspannt in seinen Armen und ich spüre sein schnell schlagendes Herz. Mit einer Hand fahre ich über die Stelle seines Shirts, an der ich es vermute.
»Ich habe mir Sorgen um dich gemacht. Ich hatte Angst, dass dir etwas passiert ist und ich hatte so ein schlechtes Gefühl«, sprudelt es aus mir heraus.
»Es tut mir leid, dass ich mich nicht gemeldet habe. Ich habe die Freundschaftsregeln«, er setzt mich ab und malt Anführungszeichen in die Luft, »gebrochen und werde mich mit einer großen Tasse Kaffee mit viel Milch und einem Hauch Zucker revanchieren.«
Kurz weicht mein besorgter Ausdruck einem Lächeln und ich nicke. Ohne noch etwas zu erwidern, gehe ich ins Bad.
Noch nicht mal zehn Minuten später schlüpfe ich in den dicken Pulli. Auf der Vorderseite prangt das Logo von der Uni und ich verziehe den Mund. Ich kenne niemanden, der den Uni-Pulli kaufen würde. Niemanden. Außer Jules und vielleicht Casper. Schnell schlüpfe ich noch in die viel zu große Jogginghose und hänge meine Sachen über der Heizung auf. Mittlerweile sind sie nicht mehr unbedingt nass, eher klamm. Als ich die Tür öffne, folge ich dem Duft von frisch zubereitetem Kaffee. Wie ich vermutet habe, sitzt Jules an dem kleinen Tresen und starrt in seine Tasse.
»Liest du jetzt in deinem Kaffeesatz?«, ziehe ich ihn auf. Er weiß genau, dass ich auf die Situation anspiele, als wir einen Film geschaut haben. Es ging unter anderem um Wahrsager und er war so begeistert von Tarot-Karten, dass er sich beinahe ein Set gekauft hätte, während sie mir nur ein müdes
Lächeln abgewinnen konnten. Bemüht fröhlich greife ich nach meinem Kaffeebecher und verflechte mit meiner freien Hand unsere Finger. So oft haben wir das schon gemacht, immer, wenn es um etwas Wichtiges ging. Sei es um zukünftige Entscheidungen oder um gegenwärtige Probleme. Gemeinsam wandern wir ins Wohnzimmer. Die Vorhänge sind einen Spaltbreit geöffnet. Nun ist der Raum in das warme Licht der Sonne getaucht, die – jetzt in der Winterzeit – bereits kurz davor ist, am Horizont abzutauchen.
»Ich habe heute Morgen den Rekord gebrochen. Ganze 8 Minuten und 34 Sekunden habe ich gebraucht, um mich für die Uni fertig zu machen«, versuche ich, die Stimmung aufzulockern. Ich will ihn nicht zu etwas drängen, aber er kann mir auch nicht weismachen, dass er eine Erkältung hat. Er soll einfach wissen, dass er mit mir über alles reden kann. Ohne Ausnahmen, weil ich ihn so als besten Freund liebe, wie er ist.
Ich nehme einen Schluck Kaffee, der mir fast die Zunge verbrennt. Schnell schlucke ich ihn herunter und hüstele leicht. Casper hat mir schon so oft gesagt, dass ich die Finger von dem Zeug lassen soll. Stattdessen ist mein Kaffeebedarf kontinuierlich gestiegen. Allerdings kann er auch nicht von sich behaupten, dass er Koffein meidet.
»Ich habe außerdem ein paar Tütensuppen mitgebracht. Auf dem Weg liegt ja dieser kleine, alte Supermarkt«, durchbreche ich die entstandene Ruhe. Würde er doch nur endlich reagieren …
Stille.
»Und ich habe noch ein paar Donuts besorgt. Die müssen wir unbedingt bald essen, sonst werden sie trocken.«
Als er weiter schweigt, bricht mir der kalte Schweiß aus. Es mag zwar sein, dass wir uns erst einige Monate kennen, aber etwas stimmt nicht. Etwas Gewaltiges. Ich packe seine Hand und drücke mich neben ihn in das Sofapolster. Zwar haben wir beide ruhigere Phasen, aber diese Stille ist mir unheimlich.
Verunsichert atme ich tief ein und aus und mustere ihn besorgt. Wie weggeblasen scheint der Junge, der sich mit mir ein Donut-Wettessen liefert und der immer irgendeinen Spruch auf Lager hat. Mich macht es wahnsinnig, dass ich nicht weiß, was los ist. Klar, er kennt auch meine Vergangenheit nicht so richtig, aber etwas scheint ihn gerade unheimlich zu belasten.
»Jules«, fange ich an und stoppe gleichzeitig. Ich habe mir damals geschworen, niemanden zum Reden zu zwingen. Es ist schrecklich, wenn man etwas erzählen muss, wofür man noch nicht bereit ist. Es zu erzählen, macht es real. Real und nicht gerade schmerzloser.
»Ich«, beginnt er ebenfalls und ich höre das Kratzen in seiner Stimme. Er versucht, sich wegzudrehen, damit ich die Tränen in seinen Augen nicht sehe. An der Schulter drehe ich ihn vorsichtig zu mir, sodass wir uns anschauen. Seine Augen glitzern und ich spüre einen Schmerz, der ihn ergreift. Mehr, als jemals zuvor. Ihn hier jetzt so verletzlich zu sehen, bricht mir schier das Herz und verstärkt den Knoten in meiner Brust.
»Es ist schwachsinnig von mir, so zu fühlen«, meint er und betrachtet ausgiebig seine Hände. Immer wieder schluckt er, so, als müsse er die Tränen zurückhalten.
»Gefühle sind nie schwachsinnig, Jules. Sie machen uns zu den Menschen, die wir sind. Du darfst das fühlen, was auch immer du fühlen willst. Es gibt dabei kein Richtig oder Falsch«, bestärke ich ihn und bin überrascht, als er mich zu sich zieht. Dadurch sehe ich ihm zwar nicht mehr in die Augen, aber ich spüre sein schnell schlagendes Herz.
»Meine Familie«, beginnt er und hört auf. Allein schon dieses Wort lässt einen ungeahnten Schmerz durch mich zucken. Schlagartig entweicht die Kraft aus mir. Ich werde eingehüllt von einer absoluten Dunkelheit und doch stoppe ich mich. Ich bin nicht hier, um über meine Vergangenheit nachzugrübeln. Es geht mir nur um Jules.
»Sie haben mich verstoßen. Ich habe etwas gemacht und
anschließend konnte mir keiner von ihnen mehr in die Augen schauen«, vertraut er sich mir Stück für Stück an. Ich bemerke, dass er mir die Tür zu seiner Vergangenheit ein Stückchen öffnet.
»Meine Eltern waren so enttäuscht und wir haben gestritten. Schreckliche Dinge haben wir uns an den Kopf geworfen und ich bin überstürzt hierhin geflohen, um mein neues Leben anzufangen. Seitdem hatte ich keinen Kontakt mehr zu ihnen.« Die letzten Worte haucht er nur noch. Während er von seinem Leid erzählt, wächst der Kloß in meinem Hals. Seine Eltern haben ihn verstoßen? Mir fällt kein Grund ein, warum sie das tun sollten.
»Ich habe alle Brücken zu meinem alten Leben eingerissen, nachdem ich jahrelang ihren Spott und Hohn abbekommen habe. Verdammt, ich kann sie aber nicht hassen. Sie sind meine Eltern, auch wenn ich nicht mehr ihr Sohn bin.«
Jetzt kann er die Tränen nicht mehr aufhalten. Ich richte mich auf und schlinge einen Arm um ihn.
»Ich hatte das Gefühl, dass ich damit abgeschlossen habe und jetzt …«, er holt tief Luft, »… jetzt meldet sich meine Mutter wieder und alles von damals bricht über mir zusammen. Ich will mich nicht der Vergangenheit stellen und gleichzeitig will ich wieder zu der Familie, die ich in meiner Kindheit hatte.«
Deshalb hat er mich nie nach meiner Familie gefragt: weil er nicht über seine reden wollte.
Eng an ihn geschmiegt flüstere ich: »Jules, ich …«, und er unterbricht mich mit einem Kopfschütteln. Ich verstehe ihn, er will jetzt nicht reden. Also trauern wir beide. Er um seine Familie, die er mal hatte, und ich mit ihm. Ein kleiner Teil von mir kann nicht anders, als an die Geschehnisse vor meinem Uni-Start zurückzudenken.
Wie kann seine Familie ihn wegstoßen? Niemand hat das verdient. Wut kocht in mir und ich würde am liebsten schreien,
etwas kleinschlagen. Es ist ungerecht. Das Leben ist ungerecht. Aber jetzt geht es nicht um mich. Er ist mein bester Freund und ihn so zu sehen, zerreißt mich. Gerne würde ich etwas tun, um ihm den Schmerz zu nehmen, doch ich weiß nicht, wie.
»Ich habe dich lieb. Auch wenn das nicht das Gleiche ist, will ich, dass du das weißt«, hauche ich und er drückt mich fester an sich. Ich wehre mich gegen die Tränen und wische mir vorsichtig mit meinem Ärmel über die Augen.
»Ich dich auch und du weißt nicht, wie viel mir das bedeutet«, erwidert er krächzend. Er wirkt so abgeschlagen und fertig. Wenn ich ihm nur helfen könnte. Ich blicke mich suchend um, als könnte ich die Antwort im Raum finden, aber mir fällt nichts ein. Nichts und niemand kann einem die Trauer nehmen. Das weiß ich schließlich genauso gut. Auch diese ganzen Versuche, so zu tun, als wäre alles in Ordnung, helfen nicht gegen den inneren Kampf. Während ich grüble, merke ich, wie er über mir zusammensackt und wie seine Atemzüge ruhiger und gleichmäßiger werden. Also halte ich ihn und weiß, dass ich gleichzeitig gehalten werde. Auch wenn die ganze Welt über meinem Kopf zusammenbrechen würde, wüsste ich, dass er jedes einzelne Hindernis mit mir überspringen würde. Seine blonden Haare fallen ihm ins Gesicht. So wie er aussieht, hat er die letzten 24 Stunden sicherlich nichts gegessen. Es dauert eine Weile, bis ich mich dazu durchringe, aufzustehen. Vorsichtig und bemüht leise schlüpfe ich aus seinem Arm und schleiche zu meinem Rucksack. Ich greife ihn am Träger und gehe in die Küche. Noch immer tauchen einzelne Sonnenstrahlen die Landschaft in ein goldenes Licht.
Aus meinem Rucksack schnappe ich die Tütchen mit der Suppe. Außerdem habe ich noch ein paar Fertig-Nudeln und weitere leicht zubereitbare Speisen geholt. Als ich mir einen Topf aus einem der zahlreichen Schränke schnappe, vibriert
mein Handy. Allerdings bin ich schon im nächsten Moment dabei, die Suppe aufzusetzen. Viele kleine essbare Buchstaben treiben in dem trüben Gemisch. Um dem Ganzen etwas mehr Geschmack zu verleihen, würze ich sie noch nach. Damit es gleich nicht so aussieht, als hätte ich die Küche auf den Kopf gestellt, packe ich meinen Einkauf weg. Die Joghurtbecher stelle ich noch schnell im Kühlschrank kalt, wobei sich meine Vermutung bestätigt: Er hatte wirklich nichts mehr da. Ich habe es mir fast gedacht, obwohl so etwas nicht zu ihm passt. In der Regel ist er immer gut vorbereitet und organisiert. Ihm würde es nicht passieren, dass er vergisst, welcher Wochentag ist, selbst nicht, nachdem er eine Nacht durchgefeiert hat. Besorgt runzele ich die Stirn und rühre die Suppe um.
»Was riecht denn hier so gut?«
Ich schrecke auf und springe ein Stück nach hinten. Dabei reiße ich den Löffel hoch. Ein paar kleine, im Licht schimmernde Spritzer verteilen sich rund um den Topf. Um ihm keine Sauerei zu bescheren, will ich nach einem Lappen greifen, aber er kommt mir zuvor.
»Ich dachte, dass wir etwas zu essen vertragen könnten«, sage ich und mein Magen knurrt zustimmend. Jetzt wird mir erst bewusst, wie wenig ich selbst gegessen habe.
»Ich habe noch nicht alles ausgepackt, kannst du das gerade noch machen? Ich hole dann schon mal die Schalen«, rufe ich ihm zu und strecke mich, um an die Schüsseln zu kommen. Allerdings erwische ich sie nicht richtig, weshalb der Stapel bedrohlich ins Wanken gerät. Den Löffel werfe ich unachtsam in den Topf und versuche mit meiner zweiten Hand, die Schalen zu retten. Reflexartig schließe ich die Augen und zucke zusammen, als es im nächsten Moment lautstark klirrt. Um mich herum liegt ein Scherbenhaufen, der mich nur zu gut an meine eigene Seele erinnert. Entschuldigend sehe ich zu Jules und schiebe die Unterlippe vor. »Ups.«
»Pass auf«, warnt Jules mich, als ich meinen Fuß ein Stück zurücksetze und fast in eine Scherbe trete. Ich fluche, er reicht mir die Hand und hilft mir an den Scherben vorbei. Bei ihm angekommen lasse ich mich gegen ihn fallen und flüstere: »Jetzt hast du keine Schüsseln mehr, entschuldige.«
Zunächst prustet er nur, aber schon im nächsten Moment holt er Luft und lacht laut. Ohne genau zu wissen, warum wir so schallend lachen, steige ich mit ein und unterdrücke ein paar Tränen. Es fühlt sich gut an, einfach normal.
Schließlich greift er unter das Waschbecken, um einen Handbesen und ein quietschgrünes Kehrblech hervorzuholen.
Ein sprudelndes Geräusch und ein Zischen sorgen dafür, dass ich mich schnell umdrehe und mich der Suppe zuwende, die in diesem Moment überkocht.
»Also Talent hast du echt«, er hebt eine Braue, »… nicht.«
Wo er recht hat … Glucksend werfe ich ihm einen Löffel zu, hole einen weiteren und eine Suppenkelle aus der Schublade.
»Ich glaube, dass du der einzige Student bist, der eine Suppenkelle besitzt«, will ich ihn aufziehen, als er gleichzeitig aufjapst. Erschrocken drehe ich mich um und sehe sein angewidertes Grinsen. Er streckt mir seine Hand entgegen, an der eine weiße Creme klebt.
»O nein, mein Rucksack«, rufe ich, als ich verstehe, was passiert ist. Anscheinend ist einer von den Joghurtbechern nach unten gerutscht und geplatzt.
»Was … ist das?«, fragt er angeekelt.
»Joghurt, weil du den doch so gerne isst«, erwidere ich achselzuckend und reiche ihm die Küchenrolle, bevor ich mit dem Umfüllen der Suppe weitermache. Im Augenwinkel erkenne ich, wie er seinen Finger ableckt, vollkommen das Gesicht verzieht und sich über meinen Rucksack beugt. Pikiert und mit einem angriffslustigen Grinsen zieht er eine Flasche hervor.
»Mango mit einem Hauch Vanille«, liest er vor und ich zucke
zusammen. Hat er gerade wirklich mein Shampoo von seinem Finger geleckt? Lachend nehme ich die Tassen in die Hand, die als Ersatz für die Schalen dienen und bahne mir schnell den Weg ins Wohnzimmer.
»Ist das dein Ernst? Warum hast du Shampoo mit?«, ruft er mir hinterher. Ich höre auch seine Schritte, als er mir folgt.
»Na ja, ich dachte, wenn ich schon mal für dich einkaufe, kann ich auch direkt für mich noch etwas holen. Aber wenn du es so lecker findest, leih ich dir gerne mein Shampoo!« Ich zwinkere ihm zu, bevor ich die Suppe abstelle. Währenddessen taucht er mit Gläsern und der Rhabarber-Limonade hinter mir auf, die wir so gerne trinken. Aus einer Schublade zaubert er noch bunte Strohhalme. Natürlich aus Glas, weil er nichts bewusst tun würde, was der Umwelt schadet. Generell würde er nichts machen, was anderen schadet. Also, warum hat seine Familie ihn verstoßen? Diese Frage geistert die ganze Zeit in meinem Kopf herum. Immer wieder taucht sie auf und widerspricht dem Bild, was ich von ihm habe. Er ist hilfsbereit, witzig, Medizin-Student, loyal und noch so viel mehr. Sobald es ein Problem gibt, ist er so aufopfernd und bemüht sich immer darum, es allen recht zu machen. Jeden Tag arbeitet er hart. Wirklich, ich kann ihn nur bewundern, denke ich mir. Ich schaffe es gerade so, mein Uni-Leben zu organisieren, und muss nichts nebenher machen. Beim Stichwort Uni muss ich direkt an meine vielen Hausarbeiten und Lernzettel denken. Ich sollte mich wirklich noch einmal hinter den Schreibtisch klemmen, doch schon jetzt graut es mir bei dem Gedanken an die vielen Rechtsbegriffe. Aber meine Eltern wären stolz und das ist das, was zählt. Vielleicht gewinne ich ja mit der Zeit etwas mehr Begeisterung für mein Studium, muntere ich mich auf.
Frustriert werfe ich mich neben Jules auf die Couch. Die Gläser hat er längst mit der köstlichen Mischung gefüllt. Als das leichte Prickeln auf die fruchtige Note trifft, seufze ich
verträumt auf. Egal, wie schlecht ein Tag ist, diese Limo hilft irgendwie immer. Na ja, fast immer.
»Also … ich würde dich ja fragen, ob wir zusammen lernen sollen, aber das hat noch Zeit bis morgen. Wie wäre es mit einem Film?«
Sein Vorschlag lässt mich sofort eifrig nicken und ein paar Strähnen fallen mir ins Gesicht.
»Ich bin mit der Auswahl dran«, schreie ich vergnügt und schnappe mir die Fernbedienung. Theatralisch stöhnt er auf und fährt sich durch die blonden Haare. Wir haben die Regel, dass wir immer abwechselnd entscheiden, welchen Film wir schauen. Durch ihn habe ich Hogwarts kennengelernt und bin mit Bastian und Fuchur durch die unendliche Welt der Geschichten gereist. Aber nach so einem Film steht mir gerade nicht der Kopf, weshalb ich einen Klassiker auswähle. Sicherlich haben wir den schon etwa zehnmal zusammen geschaut. Anfangs hat er sich gesträubt und war unmotiviert, aber schnell habe ich gemerkt, wie sein Fuß bei den einzelnen Liedern mit wippte. Und schließlich ist doch noch ein kleiner Fan aus ihm geworden.
»Pitch Perfect?«, ruft er aus, als ich den Film in der Mediathek auswähle. Ohne dass er etwas dagegen machen kann, stiehlt sich ein kleines Lächeln auf sein Gesicht. Als er sich seiner Mimik bewusstwird, verzieht er seinen Mund und lehnt sich mit verschränkten Armen nach hinten.
»Du kannst ruhig zugeben, dass du ihn liebst«, necke ich Jules und sehe das Glitzern in seinen Augen, als der Film anfängt. Wie immer hole ich mir die Decke und setze mich so, dass ich mit dem Rücken in den weichen Kissen versinke und meine Beine über seinen liegen. Die vertraute Anfangsmelodie schwirrt noch in meinem Kopf herum, ebenso wie die Frage, was in seiner Vergangenheit passiert ist.
Die Stunden scheinen wie im Minutentakt zu verfliegen. Draußen ist es schon düster, aber im Wohnzimmer von Jules
haben wir es uns gemütlich gemacht. Überall stehen angezündete Teelichter und Kerzen. Ihr flackerndes Licht erhellt neben dem Leuchten des Fernsehbildes den großen Raum. Ich spüre Jules' Herzschlag an meinem Ohr, weil ich während des Schauens zu ihm gerutscht bin. Er hält die Luft an, als ich seine Hand nehme und drücke. Also ist er doch noch wach, überlege ich und flüstere: »Du wirst es mir vermutlich nicht glauben, aber du bist ein guter Mensch. Mehr noch: ein perfekter Mensch und der beste Freund überhaupt.«