26
I ch öffne meine Augen zögerlich. Das Licht ist viel zu grell und ich spüre einen Schmerz, der sich von meinem Rücken ausbreitet und meinen Brustkorb einengt. Ich atme tief ein und aus und halte mir vor Augen, dass alles wieder gut wird. Solea hat das gesagt, kurz bevor sie eingeschlafen ist. Ein schrilles Klingeln durchstößt die Watte, die mich umgibt. Ich fühle mich wie in einem undurchdringbaren Nebel. Es gibt weder ein Vor noch ein Zurück und ich habe das Gefühl, alles ist verschwommen. Blinzelnd spüre ich jemanden an mir liegen. Der vertraute Duft von Lavendel mischt sich in den Nebel, der mich umgibt. Mein Blick wird klarer und ich bemerke, dass es an der Haustür geklingelt hat. Wackelig stehe ich auf und fühle mich von der Schwerkraft erschlagen. Jeder Luftzug, der durch das gekippte Fenster weht, scheint an mir zu reißen. Seit ich nicht mehr mit meiner Familie geredet habe, komme ich mir nicht mehr vollständig vor. Aber ich habe mir mein Leben aufgebaut. Mein eigenes, was ich unabhängig von ihnen lebe. Zumindest größtenteils. Ich bin stolz auf mich, auch wenn sie es nicht sind.
»Mach auf!«, höre ich eine aufgebrachte Stimme vor der Tür rufen. Instinktiv stellen sich meine Nackenhaare auf und eine Gänsehaut überkommt mich. Diese Stimme kenne ich und sie verheißt nie etwas Gutes. Bisher hat er nur Ärger mit sich gebracht und ich frage mich wirklich, was Solea von dem will.
So leise wie möglich öffne ich die Tür einen Spaltbreit und merke erst, wie ich aussehen muss, als ich in sein entsetztes Gesicht blicke. Ruckartig schaue ich in den Spiegel im Flur und erkenne noch den Abdruck vom Kissen auf meiner Wange. Meine blonden Haare, die nie zu bändigen sind, sind heute noch ungezähmter als sonst und auch mein Outfit wirkt ziemlich unordentlich.
»Hey, Damian, alles in Ordnung bei dir?«, frage ich. Die Sekunden verstreichen, während sich die Stille zwischen uns ausbreitet. Mein Herz überschlägt sich und ich weiß nicht, warum. Diesem Jungen kann man es eh nie recht machen, also, was soll's?
»Solea … ich wollte sie eigentlich abholen. Sie …«, lässt er den Satz unvollständig und blickt hinter mich, wo sich ein Schatten langsam anschleicht. Schon wieder baut sich eine greifbare Spannung in der Luft auf. Ich spüre das Prickeln auf meiner Haut, als die beiden sich anstarren. Demzufolge, was ich mitbekommen habe, stecken sie in einer Zwischenphase. Etwas nicht Realisierbarem. Und er scheint eine andere gedatet zu haben. Gestern hat sie mir davon erzählt. Dieser Kerl macht sie nicht mal ansatzweise glücklich, vielmehr schadet er ihr.
»Damian«, sie streckt zaghaft eine Hand aus und streicht ihm über den Arm. Auch wenn ich nicht so hinstarren will, sehe ich, dass sich seine Härchen aufstellen. Sie scheint es auch zu bemerken, woraufhin sie sich ein bisschen entspannt. Als würde eine kleine Last von ihrer Schulter fallen. Nur eine kleine, aber immerhin etwas.
»Komm mit«, erwidert er grober und packt sie am Handgelenk. Ohne weiter auf sie zu achten, zieht er sie hinter sich her. Sie hat nicht mal die Chance, ihre Schuhe anzuziehen, und ich stehe verdattert im Türrahmen. Was ist da gerade passiert? Gestern war sie noch unglücklich über ihr Verhältnis mit ihm und heute führt er sich auf, als wäre er ihr Freund. Aber schlimmer finde ich, dass sie es so mit sich machen lässt. Das Mädchen, die junge Frau, die ich kennengelernt habe, hat sich nicht unterbuttern lassen. Sie stand fest für ihre Meinung ein und hat diese auch immer geäußert. Immer noch in einer Art Schockstarre gefangen finde ich langsam zu mir. Meine Arme und Beine gehorchen mir wieder und ich bewege mich zögerlich zu meiner Musikanlage. Durch das offene Fenster sehe ich die Sonne, die schon hoch am Himmel steht. Trotzdem fühle ich mich wieder müde und würde mich am liebsten auf das Sofa kuscheln, mein Gehirn und damit die vielen Gedanken ausschalten und nur noch in einer Seifenblase leben. In einer Blase, in der es keine hasserfüllte Familie gibt, die einen nicht akzeptiert. Eine heile Welt, in der ich mir keine Sorgen machen muss, dass mich jemand schräg ansieht. Meine Hand findet wie von selbst die CD von Queen. Dabei muss ich immer an Soleas Gesicht denken, als sie meine Sammlung an CDs und DVDs entdeckt hat.
»Was denkst du eigentlich, wer DU bist?«
Ich werde aus meinen Gedanken herausgerissen und mein Blick zuckt durch das Fenster. Ich kann mich nicht von der Szene, die sich mir dort bietet, abwenden. Entsetzt sehe ich, wie sich die beiden in voller Lautstärke anschreien.
»Was das soll?«, faucht Damian und ich entdecke einen harten Zug in seinem Gesicht. »Erklär du mir doch mal, was da zwischen euch läuft und …«
»Moment mal«, unterbricht sie ihn und richtet sich auf. Mit ihren Füßen steht sie auf dem nassen Grund und auch ihre Körperhaltung zeigt, dass sie friert.
»Ich soll dir WAS erklären? Kannst du nicht einfach mal aufhören, so ein Blödmann zu sein? Akzeptiere mich und meine Freundschaft zu Jules!«
»Blödmann? Mehr fällt dir nicht ein, Tanner?«
Ihr Gesicht erbleicht und ich spüre, wie mir flau wird. Ein dicker Kloß bildet sich in meinem Hals und macht es mir schwer, überhaupt zu atmen.
»Nenn mich nie wieder so. Du weißt nichts, rein gar nichts über mich und meine Familie. Also nimm nicht meinen … ihren Namen in deinen Mund und verschwinde. Ich will dich nicht sehen. Verstehst du das nicht?«
Sie klingt erschöpft. Ich sollte hier nicht stehen und lauschen. Gleichzeitig will ich nicht nach unten stürmen, weil die beiden dies selbst austragen müssen. Ich könnte mich vielleicht einmischen, aber das würde keinen weiterbringen. Meine Gedanken rasen und ich schalte die Musik an. Allerdings gerade so laut, dass ich die Klingel immer noch gut hören kann. Sicherlich kommt sie gleich. Tief durchatmend setze ich frischen Kaffee an. Die Last der letzten Tage scheint mich unter sich zu begraben, aber ich muss mich wehren. Für sie. Wenn sie mich jetzt braucht, will ich für sie da sein.
Minuten werden zu Stunden. Die Lieder scheinen in Endlosschleife zu laufen, weil ich immer wieder die gleiche CD anmache.
Warum ist sie bei ihrem Familiennamen so ausgerastet? Ich wusste nicht einmal, dass sie so heißt. Tanner – das klingt irgendwie nicht so, als wäre es aus der direkten Umgebung.
Ich sehe mein Handy aufleuchten und fische es schnell vom Tisch. Allerdings finde ich keine neue Nachricht von Solea vor, sondern eine Erinnerung an die Party heute Abend, zu der mich Valerian eingeladen hat. Allein der Gedanke an die vielen Menschen, den Alkohol, die laute Musik und die dröhnenden Bässe macht mir zu schaffen. Es ist nicht so, dass ich es verteufeln würde. Ich habe bloß Angst davor, auch wenn ich es mir eigentlich wünsche.
»Dies ist der Anrufbeantworter von …«, ich lege auf, bevor mir die Maschine ihre Nummer nennt. Scheinbar möchte sie nicht reden und doch nagt ein ungutes Gefühl an mir. Sie sah so aufgebracht aus. Wo sind die beiden hin? Scheiße, Solea hatte nicht einmal Schuhe an!
Ich fühle mich schuldig. Hätte ich vielleicht doch eingreifen sollen? Gedankenverloren wandere ich durch meine kleine Wohnung und schaffe langsam mal wieder Ordnung. Ich schnappe mir ein paar Shirts, die ich zuvor noch achtlos auf dem Boden gelegen haben. In mir herrscht ein heilloses Durcheinander und Gefühlschaos, aber ich will es nicht zeigen. Noch nicht mal hier, in meinem eigenen ‘Zuhause‘. Doch diese Gefühle sind es nicht wert, gefühlt zu werden. Ich habe eine derartige Ablehnung nicht verdient und trotzdem komme ich mir schuldig vor. Als hätte ich mich in meiner Familie eingenistet und sie von innen heraus zerstört. Als wäre ich an allem schuld, was gesagt und getan wurde. Ein großer Teil von mir muss das glauben. Die Last auf sich nehmen und akzeptieren, dass ich nicht gut zu ihnen war. So ist es besser.
Unruhig gehe ich auf und ab. In meiner linken Hand halte ich den angebrochenen Joghurt. Schon nach wenigen Löffeln hatte ich das Gefühl, als würde sich mein Magen sträuben. Also stehe ich jetzt hier – zwischen Wohnzimmer und Küche – und weiß nichts mit mir anzufangen. Das klingt wirklich verzweifelt, aber so sieht es eben in mir drin aus. Mit meiner freien Hand taste ich die DVD-Hüllen ab. Einige sind schon verstaubt und wieder andere sind abgegriffen. Ich könnte Pitch Perfect schauen, auch wenn ich damit Soleas Hohn auf ewig ertragen müsste. Immerhin habe ich mich am Anfang regelrecht dagegen gewehrt. Aber mir ist nicht danach. Ich bin rastlos und will nichts machen, was ich immer mit ihr mache. Wenigstens hat sie sich heute kurz gemeldet:
»Mir geht's gut. Ich melde mich später wieder!«
Wann dieses ominöse Später ist, werde ich wohl nur durchs Abwarten herausfinden. Warten und nichts machen? Das kommt mir falsch vor. Immerhin bin ich Student, es ist Wochenende und für die Prüfungen kann ich auch noch die Nacht vorher mit ganz viel Koffein lernen. Ich erinnere mich an eine Einladung und bevor ich mir den Kopf über die Pros und Kontras zerbrechen kann, schnappe ich mir meine Jacke. Lass los und mach es einfach, wiederhole ich stumm, um mich zu motivieren. Kurz checke ich mein Handy wegen der Adresse. Anschließend landet es schon in der Hosentasche meiner verwaschenen Jeans.
Meine Haustürschlüssel mache ich von meinem Schlüsselbund ab und lege sie unter meine Fußmatte. Dort sind sie vermutlich sicherer als bei mir. Ohne einen Blick zurückzuwerfen, mache ich mich auf den Weg. Schon Minuten später muss ich nur der Musik und dem lauten Dröhnen der unterschiedlichsten Klänge folgen, um zur Party zu gelangen. Plötzlich kommt es mir falsch vor. Mein Gefühl will mich aufhalten und schreit nach meinem Verstand. Mich zurückziehen – das hätte ich damals gemacht. Den Kopf einziehen – wenn sie mich beleidigt und fertiggemacht haben. Aber jetzt nicht mehr. Ich muss nur zu mir selbst finden.
Auf der Wiese liegen einige grelle, orangefarbene Plastikbecher und auch viele Bierflaschen. Anscheinend ist die Feier schon voll im Gange. Kurz zucke ich zurück. Zurück zu dem Leben, das mich festgehalten hat. In dem ich die Nebenrolle gespielt habe.
Als ich das Haus betrete, verstummen diese Erinnerungen jedoch. In der Luft liegt ein süßlicher, alkoholischer Geruch und ich habe das Gefühl, viel zu nüchtern zu sein. Ohne Umwege steuere ich einen Tisch an, auf dem die unterschiedlichsten Flaschen stehen. Alle in einer anderen Färbung und mit einem anderen Inhalt. Überfordert – so würde ich mich am ehesten beschreiben, aber es ist noch so viel mehr. Hier scheinen alle ihren Platz zu haben. In kleinen Gruppen stehen oder sitzen sie zusammen. Sie kennen sich scheinbar von vielen Feiern und lachen ausgelassen.
»Na, mit dir habe ich nicht gerechnet!« Eine schwere Hand legt sich auf meine Schulter. Schwungvoll werde ich umgedreht und blicke in die dunklen Augen von Valerian. Jetzt wird auch die kleine Narbe an seiner Augenbraue deutlich. Durch das strahlendweiße Shirt, was er trägt, sieht er blass aus. Seine Haare hängen in unordentlichen Strähnen und Wellen herab und verdecken damit einen Teil seines Gesichts. In der Hand hält er eine Bierflasche. Er scheint bereits länger hier zu sein und doch passt er zu keiner Gruppe.
»Kleiner Retter, richtig?«, neckt er mich und zieht eine Braue in die Höhe. Ich habe das Gefühl, als würde mir sein Blick unter die Haut gehen. Mein Magen grummelt und ich unterdrücke ein Schaudern.
»Glaub mir, ich zähle zu den Großen«, versuche ich, einzulenken, und zwinkere ihm zu. Bevor er reagieren kann, habe ich ihm seine Flasche abgenommen und leergetrunken. Ich warte darauf, dass das belebende und berauschende Gefühl des Alkohols einsetzt, aber ich spüre nichts. Ich fühle mich wie vorher und frage mich, warum es dann alle immer so verteufeln.
»Ey«, protestiert er und hat keine Minute später zwei neue Flaschen in der Hand.
»Danke.« Ich nehme eine der Flaschen entgegen und lache. Er guckt so überrumpelt, dass ich nicht anders kann. Es gibt einfach Situationen, die man nicht mit Worten füllen könnte, um sie nur annähernd zu beschreiben. Außerdem bin ich wirklich stolz auf mich. Vor mir steht der absolute Rockstar der Uni und ich habe ihn sprachlos gemacht. Bevor ich es mir anders überlegen kann, setze ich auch den Hals der zweiten Flasche an meine Lippen und bin im Begriff, sie zu leeren. Doch bevor ich dazu komme, greift er dazwischen.
»Okay, also ich bin wirklich überrascht, Kleiner.« Zwinkernd lehnt er sich zu mir und ich spüre, wie sein Atem mein Gesicht trifft. »Aber übertreib es nicht. Die Party hat gerade erst angefangen.«
Ohne ein weiteres Wort mit mir zu wechseln, gibt er mir nur mit Blicken zu verstehen, dass ich ihm folgen soll. Zu seinen Freunden, die mich begrüßen, als wären wir alte Bekannte. Die mich nicht – wie Damian – wie einen Ausgestoßenen behandeln, sondern wie jemanden, der dazugehört. Jemanden, der cool und angesehen ist. Eigentlich wundert es mich, dass ich Soleas Sportler hier nicht treffe. Für mich war er immer der Typ, der keine Party verpasst.