30
» C asper«, flüstere ich und weiß im selben Augenblick, dass es nicht fair ist. Er hat viel zu viel für mich getan, obwohl er gar nicht auf meinen Anruf hätte reagieren müssen. Erst jetzt, als ich auf dem Sofa liege und an die Decke starre, wird es mir bewusst. Er hat nicht mal gezögert. Keine Sekunde hat er gewartet, bevor er ins Auto gesprungen ist, und das, obwohl ich nicht eng mit ihm befreundet bin. Ich kenne ihn nur durch Solea und die WG, aber das hat ihn nicht abgehalten.
»Alles gut, Julius?«, höre ich seine Stimme, als wäre sie kilometerweit entfernt und doch jagt es mir einen Schauer über den Rücken. Unbeholfen richte ich mich auf und versuche, mehr zu erkennen als nur vereinzelte Schemen, als er auch schon eine Kerze anzündet. Flackernd breitet sich ihr Licht im Raum aus und taucht all die Schatten in einen goldigen Schimmer.
»Ich«, unterbreche ich mich dann selbst und schüttele den Kopf. »Danke.«
Am liebsten würde ich noch so viel mehr sagen. Doch was? Casper hat kein einziges Mal gefragt, warum ich es gemacht habe. Keine Vorwürfe, Moralpredigten oder Verurteilungen.
Ich höre seine Schritte auf dem knarzenden Holzboden, aber so richtig spüre ich seine Anwesenheit erst, als er sich neben mich setzt. »Immer wieder gerne.«
Nur drei Worte. Und trotzdem regen sie etwas in mir. Etwas, das mein Herz höherschlagen lässt.
»Warum? Du hättest das nicht machen müssen«, suche ich nach Erklärungen. In meiner Schulzeit, als alle anfingen, mich auszugrenzen, wurde mir bewusst, dass man den Wenigsten trauen darf. Die, die viel über dich wissen, haben die Macht, dich zerstören.
»Lass uns ein Spiel daraus machen. Wenn du eine Frage stellst, beantworte ich sie ehrlich, und dann bist du dran mit dem Beantworten einer meiner Fragen.«
Ich nicke sachte, als er auch schon beginnt.
»Ich hätte es nicht machen müssen, weil niemand etwas machen muss, oder? Kein Mensch muss das«, lächelnd lehnt er sich zurück und grinst mich an. Ich mustere ihn genau, als er leise gluckst und entschuldigend die Hand hebt. »O Mann, das klang jetzt wirklich nach einem abgedroschenen Philosophen, aber was ich eigentlich sagen wollte … Ich wollte dir helfen, weil du verzweifelt klangst und Freunde das nun mal füreinander machen. Wir helfen und unterstützen uns, oder nicht? Wir sind füreinander da, eben nicht nur auf den tollen, wilden Partys, sondern auch dann, wenn wir mal nicht mehr können. Wenn uns der Alltag droht, zu zerreißen, und wir eine Flucht brauchen.«
Während ich ihn weiterhin betrachte, obwohl er längst aufgehört hat, zu reden, fällt es mir endgültig auf. Dass er ein Technik-Freak ist, ist nur eine einzelne Facette von ihm. Doch dahinter steckt viel mehr. Irgendwie habe ich das Bedürfnis, all seine Seiten kennenlernen zu wollen. Als Freunde, die einander vertrauen. Aber bin ich selbst dazu bereit, ihm mehr über mich preiszugeben? Kann ich mich ihm wirklich anvertrauen, mich verletzlich machen?
»Also …« Er räuspert sich und schaut mich leicht verunsichert an – denn jetzt bin ich am Zug. Bevor ich weiter nachdenken und den Schwanz einkneifen kann, nicke ihm aufmunternd zu. Noch hängen mir all die unausgesprochenen Worte im Hals fest und erdrücken mich. Ich will sie loswerden und gleichzeitig will ich, dass niemand sie jemals erfährt.
»Wieso warst du auf dieser Feier? Bisher schien dich das doch nie zu interessieren.«
Ich rechne mit Vorwürfen, weil es eine schlechte Idee war, aber ich sehe nur unverhohlene Neugier in seinen Augen blitzen.
»Ich musste mal den Kopf freibekommen und Solea war nicht da«, versuche ich, es mit einem Achselzucken herunterzuspielen. In mir herrscht nach wie vor ein Kampf, ob ich ihm vertrauen kann oder schweigen soll. Gleichzeitig liegt es mir praktisch auf der Zunge, als müsste ich es endlich sagen. Als würde ich gleich platzen.
»Julius Collister, wovon wolltest du den Kopf freibekommen?«
Casper wird sich nicht mit einer kurzen Antwort abspeisen lassen, weil er dahinter geblickt hat. Stille. Die Minuten vergehen und keiner bewegt sich. Kurzzeitig habe ich auch vergessen, zu atmen, weil ich nicht weiß, was ich machen soll. Bin ich bereit dafür?
»Meine Familie hat mich damals ausgeschlossen und in der Schule wurde ich auch gemobbt. Letztens hat sich meine Mama dann gemeldet und … ich weiß auch nicht. Es klingt total kindisch, aber ich will sie nicht hören. Und gleichzeitig vermisse ich meine Familie.«
Abrupt stoppe ich, als ich seinen forschenden Blick sehe. Eben noch war sein Mund zu einem Grinsen verzogen, doch jetzt scheint er nachdenklich. Kurz schaut er zu Boden und ich frage mich, ob er jetzt selbst Schlüsse daraus zieht.
»Es ist nicht so, dass ich jemanden umgebracht habe, aber …«, kurz bricht meine Stimme. In mir lodern wieder die gegensätzlichsten Emotionen auf, doch irgendwie habe ich das Gefühl, dass er mich verstehen würde. Dass er mich als Mensch sieht und nicht als jemand, der sich durch etwas anderes definieren muss.
»In der achten Klasse war ich verliebt in einen Jungen aus meinem Jahrgang.«