31
I ch spüre, wie er sich neben mir bewegt. Erst langsam und dann hektischer. Fluchend springt er aus dem Bett und ich reiße die Augen auf. Ich muss mehrmals blinzeln, kämpfe gegen die Sonnenstrahlen an, die mir die Sicht vernebeln. Tastend suche ich mein Handy, bis mir einfällt, dass es gar nicht neben mir liegen kann.
»Wir sind eingeschlafen«, rufen wir beide aus. Lachend greife ich nach seiner Hand, die mich sogleich hochzieht. Eigentlich will ich noch etwas erwidern, aber mein Blick ist festgekettet an dem Panorama, was sich vor mir erstreckt. Bei Nacht hatte es etwas Mystisches und jetzt löst es ein Gefühl der Stärke und Unbesiegbarkeit in mir aus, weil wir hier oben allem erhaben sind. Tief atme ich die Waldluft ein, gähne und strecke mich.
»Meine Mama bringt mich um.« Er rauft sich die Haare und ich schaue ihn sprachlos an.
»Okay, also du, der schon mit zahlreichen Frauen etwas an zahlreichen Orten hatte, macht sich Sorgen … wegen seiner Mama?« Dabei haben wir gar nichts angestellt. Die Decken liegen nebeneinander, wirken einfach nur brav. In seinem Arm zu liegen und Geschichten aus seiner Kindheit zu lauschen, hat dafür gesorgt, dass ich mich ihm noch verbundener fühle. Zu hören, dass er seine erste große Zahnlücke vom Fußballspielen hatte und dass er verzweifelt versucht hat, mit Freunden einen Staudamm zu bauen, der jedoch immer wieder vom Wasser eingerissen worden ist … Wie er in den Sommerferien jeden Tag mit seinen Freunden an einem Bach verbracht hat. Dass sie genau dort auch später hingegangen sind, um zu campen oder einfach noch mal die alten Zeiten aufleben zu lassen. Und schließlich, wie jeder von ihnen auf einer anderen Uni angenommen wurde und sich ihre Wege erst mal getrennt haben. Doch sie schworen, sich jedes Jahr zu Beginn des Sommers zu treffen.
»Kommst du, Sol?«
»Wird das jetzt mein Spitzname? Kannst du dir nicht was anderes überlegen?«, erfrage ich, als ich seine Hand ergreife und ihm folge.
»So etwas wie Häschen oder Knuddelschnuffel?«
Seine Stimme vermischt sich mit dem Knistern des Laubes unter unseren Schuhsohlen und den zarten Stimmen der Vögel, die ihr Lied zum Besten geben.
»Untersteh dich, mein Sahnehäubchen«, warne ich ihn und lasse lachend seine Hand los. Ohne abzuwarten, laufe ich los und fühle mich frei. Seine Rufe höre ich noch bis zu mir und insgeheim hoffe ich, dass er schon bald wieder bei mir ist.
»Du willst ein Sportstudent sein? Dabei kriegst du mich noch nicht mal eingeholt?«
Lachend drehe ich mich im Kreis, während die Sonnenstrahlen auf meinem Gesicht tanzen. In diesem Moment spüre ich es wieder. Eine Freude, von der ich dachte, sie verloren zu haben. Von der ich gedacht habe, dass ich sie nie wieder finde. Die ich durch Jules gefühlt habe, aber nie durch mich. Die mir genau in diesem Augenblick real vorkommt und mich vor Glück schreien lässt. Vergnügt kreische ich. Damian sieht mir kopfschüttelnd zu, lächelt aber herzlich. Plötzlich wirft er mich über seine Schulter und trägt mich weiter. Wir sind nur wenige Meter durch den Wald gelaufen, als ich weitere Stimmen höre. Unter anderem die Stimme eines kleinen Jungen. Beherzt setzt Damian mich ab und hebt seinen Bruder an, nur um ihn in der Luft herumzuwirbeln.
»Du bist sicherlich Solea, oder?«, erkundigt sich eine Frau, die sich neben mich gestellt hat. In ihren Augen liegt ein Leuchten, als ihr Blick über die Jungs wandert. Sie scheint den Moment voll zu genießen, bis sie sich umdreht. Auch jetzt strahlt sie pure Freude aus.
»Ja, genau!« Meine Gedanken rasen und ich wische meine schwitzigen Handflächen an meiner Hose ab. Ich habe keine Ahnung, wie Damian mit Nachnamen heißt, wird mir jetzt klar. Zumindest habe ich es vergessen. Auch jegliche andere Smalltalk-Floskel scheint mir entglitten zu sein. Ich lächele sie an und schaue zu Damian. Wie er mit seinem Bruder herumalbert und alles andere ausblendet. Es ist schön, ihn so zu sehen.
»Ach, vergessen wir dieses Formelle. Ich bin Sonja und freue mich darauf, dich kennenzulernen. Er hatte eigentlich gesagt, dass ihr schon in der Nacht kommt«, verschwörerisch zwinkert sie mir zu und ruft dann ihre Jungs. Als sie die beiden stürmisch an sich zieht, wird mir klar, dass ich Sonja jetzt schon mag. Sie scheint jemand zu sein, der es einem einfach macht, ihn zu mögen. Doch als ich die drei so vereint stehen sehe, so vertraut, spüre ich einen Schmerz. Ich ziehe die Luft ein und versuche, mir klarzumachen, dass ich mich für sie freuen sollte.
»Möchtest du noch einen Tee?«, erkundigt sich Sonja, nachdem ich meine Tasse vorsichtig abgesetzt habe. Unverzüglich hat Damians Mama ein Frühstück auf den Tisch gezaubert und selbst der kleine Liban, der eigentlich schon etwas gegessen hatte, hat sich noch mal zu uns gesellt. Er sitzt mir gegenüber und pickt stumm mit der Gabel in seinem Rührei. Schnell habe ich gemerkt, dass hinter seiner spielerischen, wilden Seite eine viel stillere steckt.
»Gerne«, sage ich – in dem Wissen, dass es schon meine dritte Tasse ist und definitiv nicht die letzte.
Kurz breitet sich eine entspannte Ruhe in dem kleinen Esszimmer aus. Nur das Ticken einer Uhr ist zu hören. Überall hängen Bilder von Damian, seinem Bruder, seiner Mama und seiner Oma. Vereinzelt sind auch Schwarz-Weiß-Aufnahmen dabei, die sich schon leicht wellen und vergilben.
»Solea, ich habe dir übrigens das Gästezimmer fertig gemacht.« Lächelnd stellt Sonja die Tasse vor mir ab, bevor sie Damian einen strengen Blick zuwirft.
»Ach, Mama. Sie ist doch meine Freundin.«
In genau diesem Moment kribbelt es in meinem Bauch. Seine Freundin. Es ist noch neu und ungewohnt, aber gleichzeitig macht es mich glücklich. Grinsend drücke ich unter dem Tisch sein Knie, bis ich hochgerissen werde.
»Damian! Sag mir so etwas doch. Das letzte Mal, als du hier warst, hast du sie nur als eine gute Freundin beschrieben.«
Tadelnd sieht sie ihn an, woraufhin er nur mit den Schultern zuckt. Es soll wohl so etwas aussagen, wie: »Dinge ändern sich.« Doch das stimmt nicht, weil es sich schon immer richtig angefühlt hat, mit ihm Zeit zu verbringen. Egal, wie oft mein Herz gebrochen wurde, er hat es geschafft, es zusammenzuflicken. Okay, zugegeben … bestimmt hat er mir auch mehr als einmal Tränen in die Augen getrieben, aber darüber sind wir hinweg. Wir sind keine kleinen Kinder mehr. Denke ich.
»Stell dich neben sie. Ich muss direkt ein Foto für das Fotoalbum machen.«
Aufgeregt läuft sie die kleine Treppe hoch, wobei jede Stufe knarrt.
»Tut mir leid, sie ist …«, beginnt er und schaut mich durch seine dichten Wimpern an.
»Süß und echt liebenswert?«, beende ich seinen Satz.
Ich will ihn auf den Scheitel küssen, doch da dreht er sich um und zieht mich an sich. Seine Lippen streichen sanft über meine, als er flüstert: »Davon werde ich nie genug bekommen.«
Nachdem wir unzählige Polaroid-Bilder mit der Kamera seiner Mama gemacht haben, hat sie die beiden nach draußen geschickt, um Holz zu machen. Eilig hat Liban seinen großen Bruder mit sich gezogen. Zurückgeblieben bin ich mit Sonja und wir haben erst mal für Ordnung in der Küche gesorgt.
Ich will ihr gerade meine Hilfe bei den Muffins anbieten, als sie auf den Stuhl zeigt.
»Setz dich ruhig. Immerhin kann ich mir vorstellen, dass die letzte Nacht ziemlich anstrengend war.«
Zwinkernd weist sie auf meine Haare, die vermutlich in alle Richtungen abstehen. Ertappt werde ich rot, was sie nur noch mehr zum Lachen bringt.
»Solea, was studierst du eigentlich?«, erkundigt sie sich und versetzt mir damit ungewollt einen Stich. Ich wünsche mir auch eine Mutter, die sich für mein Studium interessiert und mich über mein Liebesleben ausquetscht. Egal, wie peinlich es sein sollte – das ist nichts im Vergleich zu der Leere.
»Ich studiere Jura«, erwidere ich kurz angebunden. »Meine Eltern haben das ebenfalls studiert.«
Ich spreche es aus, ohne dass ich es wollte. Ich habe nur das Gefühl, dass es mich erdrückt, nicht darüber zu reden.
»Dann sind sie vermutlich echt stolz auf dich.«
Sie meint es nett und doch bohrt sie damit ein Messer direkt durch mein Herz. Tränen steigen mir in die Augen, aber ich verdränge sie, weil ich mir diesen Moment nicht versauen will.
»Und was machst du beruflich?«, versuche ich, die Aufmerksamkeit von mir abzuwenden. Sie stockt kurz, scheint zu bemerken, dass mehr dahintersteckt, aber fragt nicht nach. Stattdessen beginnt sie zu erzählen. Die Minuten verstreichen und werden zu Stunden. Gerade erzählt Sonja, wie sie mit ihrer Kollegin neue Farben ausprobiert und am Ende ihre Haare versaut hat. Das Ergebnis war eine Mischung aus Lila und Pink und hat dafür gesorgt, dass sie nur noch mit Mütze vor die Tür gegangen ist.
»Damian hätte mir dafür vermutlich am liebsten den Preis für die peinlichste Mutter auf der Welt gegeben.«
Lachend greife ich nach einem der fertigen Muffins, als ich wieder an ihn denke.
»Ich finde, du solltest die beiden mal hereinrufen. Es wird doch schon dunkel draußen«, reagiert Sonja auf meinen sehnsüchtigen Blick. Ohne zu zögern, springe ich auf und nicke.
»Danke für diesen schönen Nachmittag«, meine ich und mache mich auf den Weg. Sie hat mir gesagt, dass ich ums Haus gehen muss und dann nur noch dem Lärm folgen soll.
Der Garten ist schon von der Dämmerung umhüllt. Dennoch nehme ich alles wahr. Die Schaukeln, der kleine Sandkasten, das süße Beet, der alte Schuppen, die Gartenstühle. Und dann höre ich ihn, wie er seinem Bruder etwas erzählt. Ich nähere mich ihnen und bin gebannt von seiner Stimme.
»Kriegt man nicht die Mädchen-Grippe?«, fragt Liban neugierig und lässt mein Herz erweichen.
»Wenn ich bei ihr bin, komme ich mir tatsächlich ein bisschen so vor, als wäre ich krank. Ich bin aufgeregt und immer so gespannt, weil ich nie weiß, was für eine Überraschung sie für mich hat. Mädchen sind nämlich genauso besonders wie kleine, neugierige Jungs. Und Solea fühlt sich für mich an, als würde ich nach einer langen Reise nach Hause kommen und hätte immer nach ihr gesucht.«
Mein Herz pocht schneller und ich wage mich noch ein wenig näher. Plötzlich knackt ein Stock unter meinem Schuh. Schnell gehe ich auf sie zu, damit es nicht wirkt, als ob ich gelauscht hätte. Eilig kommt mir Liban entgegen und zieht mich an meiner Hand herunter, bis mein Kopf auf seiner Höhe ist.
»Mein Bruder mag dich«, flüstert er voller Entsetzen.
»Dann verrate ich dir mal was: Ich mag ihn auch.«
Mit großen Augen sieht er mich an und drängt mich dazu, aufzustehen.
»Komm, ich zeig dir meine Playmobil-Sammlung!«