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M eine Hände zittern vor Aufregung und mein Körper ist von einer seltsamen Spannung durchzogen. Noch hat mein Gehirn nicht verstanden, dass es wirklich wahr ist. Dass Caspers Nachricht wahr ist.
»Hallo, Jules! Wie wäre es, wenn ich heute Abend bei dir vorbeikomme? Solea ist ja eh weg, Damian auch. Dann hätten wir Zeit …
LG Casper«
Eine Nachricht von ihm reicht aus, um mein Herz explodieren zu lassen. Gleichzeitig werden meine Knie weich.
Er ist so witzig, umsichtig und manchmal ein bisschen altmodisch – und das, obwohl er so ein Technik-Freak ist. Niemand anderes würde seine Nachricht mehr mit LG beenden, aber das macht ihn so liebenswert. Gefühlte Stunden bin ich vor dem Schrank auf und ab gegangen, nur um schlussendlich meine Standard-Klamotten anzuziehen. Ein T-Shirt von der Serie »Friends«, die sowohl Casper als auch ich lieben, und dazu eine schwarze Jeans. Schnell schaue ich zum Gefühl tausendsten Mal in den Spiegel. Meine Haare liegen genauso wie vor 5 Minuten und trotzdem zupfe ich abermals an ihnen herum. Währenddessen frage ich mich, was mit Solea los war. Sie hat sich distanziert und meinte heute nur, dass sie ihre Familie besucht. Die Verwandten ihrer Eltern, mit denen sie länger keinen Kontakt hatte. Eigentlich nichts Ungewöhnliches. Obwohl unsere beiden Familienverhältnisse nicht so gewöhnlich sind. Wenigstens in dem Punkt haben wir eine Gemeinsamkeit.
Mein sehnlichster Wunsch wäre es, ihr endlich zu erzählen, dass ich anders bin. Dass ich in keine Schublade passe. Jedenfalls in keine vorgefertigte und passgenaue, höchstens in eine selbst gezimmerte mit Ecken und Kanten.
Solange man hetero ist, muss man sich nicht outen, aber jeder andere schon. Wo bleibt dabei die Fairness? Ich weiß es nicht. Ich stehe auf Männer und manchmal erwische ich mich auch dabei, wie ich Frauen hinterherschaue. Warum sollte ich mir dann das Etikett einer Ausrichtung auf die Stirn kleben? Casper teilt diese Geschichte mit mir – als nicht ganz in die 'Rahmenbedingungen-der-sozialen-Elite-Passender'. Bei diesem Begriff muss ich immer wieder schnauben und es dreht sich mir der Magen um. Die Welt ist nicht nur schwarz-weiß. Überall finden sich Farbkleckse und irgendwie ist jeder doch bunt.
Solea würde diese ganzen Gedanken vermutlich auch teilen, aber dennoch ist es in ihrem Fall anders. Sie ist nicht so darin involviert wie Casper und ich. Sie spürt nicht die Abneigung, den Hass, das Unverständnis und die Ausgrenzung. Ich kann ihr keine Vorwürfe machen, aber sie hat ein Privileg, was eigentlich zu den Grundrechten gehört.
Ich erwache aus meinen Tagträumen, als es an der Tür klingelt.
Hastig gehe ich auf sie zu und werde dann wieder langsamer. Es gibt kein Zurück mehr, aber ich will auch nicht zurück! Morgen werde ich Solea alles erzählen, nicht unbedingt das mit Casper, aber alles andere.
Ich reiße die Tür auf und werde mit einem Lächeln begrüßt.
»Hallo, Hübscher«, sagt er und zieht mich in eine Umarmung. An ihn gelehnt muss ich grinsen. Wie kann etwas so schwer und so leicht zugleich sein? Liebe ist Liebe und Mensch ist Mensch, oder?
Die Tür schwingt hinter uns zu und Casper schaut mich an. Dabei treten seine Grübchen besonders hervor. Ich betrachte sie eingehend. Genau wie seine krausen Locken, die in alle Richtungen abstehen. Am liebsten würde ich mit meiner Hand einmal durch sie fahren und ihn dann fest an mich drücken, um ihn zu küssen. Seine kurzen und dennoch natürlich geschwungenen Wimpern, die seine Augen zur Geltung bringen … Die weichen Züge in seinem Gesicht …
Doch meine Unsicherheit überwiegt.
Da wird mir ganz klar bewusst, dass ich mich verliebt habe. Nicht wie in Filmen, wo es langsam passiert, sondern ganz abrupt und ohne die Chance, es vorher zu erkennen. Ein schönes Gefühl, nicht wie Schmetterlinge im Bauch, sondern eher, als würde ich auf einer Wolke treiben, die einen schlussendlich dahin führt, wo man hingehört. Ob Casper meine Heimat werden könnte?
»Worüber philosophierst du wieder?«, fragt er mich spitzbübisch grinsend und ich habe die Antwort auf meine vorherige Frage gefunden: Ja!
Zwei Stunden später haben wir es endlich geschafft, unseren Hunger mit einer großen Pizza zu besänftigen. Nachdem wir ewig die Karten der Lieferdienste durchgegangen sind, haben wir uns schlussendlich doch für einen Klassiker entschieden. Die große Diskussion war dann erst recht eröffnet.
'Ich möchte Ananas – Ananas gehört nicht auf eine Pizza – Wie wäre es mit Spinat? – Das zerstört die Pizza-Aromen …'
Letztendlich haben wir uns dann dafür entschieden, jede Hälfte der Pizza mit unterschiedlichem Belag zu wählen. Gerade räume ich Karton und Besteck weg. Währenddessen wollte Casper nach einem Film schauen.
In der Küche angekommen kann ich mein Lächeln nicht mehr unterdrücken. Dieser Abend könnte meiner Meinung nach ewig andauern. Ich verstaue alles und schaue mich dann um. Casper hat sich nach Wolldecken erkundigt. Obwohl ich mich darüber wundere, habe ich mir nichts anmerken lassen. Wer weiß schon, was sein Plan ist. Bei dem Gedanken habe ich das Gefühl, zu glühen. Ich schicke ein Stoßgebet zum Himmel, dass meine Wangen halb so rot sind, wie es mir vorkommt.
Im Hintergrund nehme ich wahr, wie Musik abgespielt wird … schon die ersten Töne erkenne ich.
Bohemian Rhapsody von Queen
Als ich das Wohnzimmer betrete, weite ich die Augen. Ein strahlender Casper steht mitten im Raum und sieht mich grinsend an. Er wirkt unruhig, vielleicht sogar ein bisschen nervös. Ich merke, wie sich seine Ohren verfärben, als sich unsere Blicke treffen und ineinander verhaken. Auch ich laufe rot an. Noch rattern sämtliche Zahnräder und spinnen Ideen und eine fühlt sich unrealistischer an als die nächste. Was hat er vor? Der Junge, der immer ein wenig schüchtern wirkt, außer wenn wir unter uns sind. Dann scheint es, als wäre er ein anderer Mensch. Mit ihm bin ich aber auch ein anderer Mensch. Mit ihm kann ich ich sein. Ich muss mich nicht verstellen und bin keinen Vorurteilen ausgesetzt. Egal, um was es geht – er ist verständnisvoll und ein guter Zuhörer.
»Dachtest du, dass das schon unser ganzes erstes, richtiges Date war?«
Sein Lächeln wird noch ein Stück breiter und ich fühle mich wie ein Spiegelbild, als sich meine Mundwinkel ebenfalls nach oben ziehen. Das kann nicht das wahre Leben sein … ansonsten kann ich mich nun offiziell als den glücklichsten Menschen auf der Erde bezeichnen. Plötzlich hält er inne und kramt in seiner Jacke. Ungläubig starre ich die Autoschlüssel an, die er hochhält. Sein Lachen holt mich aus meinem verwirrten Zustand, obwohl die Fragezeichen über meinem Kopf jetzt größer sind als jemals zuvor. Was passiert hier?
Ohne etwas zu sagen, nimmt er mir die Decken ab, klemmt sie unter seinen einen Armen und wirft mir den anderen über die Schulter. Stumm laufen wir nebeneinander her, während er mich nach draußen führt. Wie auf Wolken setze ich einen Fuß vor den anderen und warte darauf, dass ich hinfalle und dass alles nur ein Traum war. Kurz schaue ich verstohlen von der Seite zu ihm. Es dämmert schon und eine leichte Gänsehaut macht sich auf meiner Haut breit. Dennoch spüre ich nur ihn, wie er dicht neben mir steht und mit mir über den Parkplatz wandert. Sein Arm auf meiner Schulter drückt mich scheinbar auf den Boden zurück, erdet mich und gibt mir gleichzeitig das Gefühl, fliegen zu können.
»Steig ein.« Meine ich das nur, oder ist seine Stimme bei diesen Worten höher als sonst gewesen? Er löst sich von mir und ich setze ein bedauerndes Lächeln auf, auch wenn ich weiß, dass das kindisch ist. Ich vermisse jetzt schon seine Nähe und Wärme.
Casper verstaut indes die Decken im Kofferraum und setzt sich auf den Fahrersitz. Ich lasse mich neben ihn fallen und bin nicht überrascht, dass, als er den Motor startet, Queen aus seinem Radio ertönt. Eine Liebe und Leidenschaft, die wir teilen.
»Ich vermute mal, dass du mir keine Antwort geben wirst, aber wohin fahren wir?«
Ein diabolisches Grinsen macht sich auf seinem Gesicht breit und ich kann nicht anders, als zu lachen. Alles ist so surreal. Werde ich gleich aufwachen? Ist Casper eigentlich ein Serienmörder? Ich weiß es nicht, aber in einem bin ich mir sicher. Egal, was passiert, ich kann nicht anders, als ihn zu bewundern. Leise singt er »Bohemian Rapsody« mit. Casper trifft keinen Ton und trotzdem habe ich noch nie etwas so Schönes gehört. Zögerlich steige ich mit ein und er schielt kurz mit erhobener Braue zu mir. Dabei fallen ihm kleine Locken in die Stirn und ich merke, wie er errötet und trotzdem weitersingt. Darauf vertrauend, dass ich das Richtige mache, lege ich seine Hand auf meine. Zusammen schalten wir den Wagen, bis er mir befiehlt, dass ich die Augen zumachen soll. Ohne Zweifel oder Sorgen schließe ich sie und summe weiter zu Queens Hits. Trotzdem merke ich, dass wir langsamer werden, anhalten und schließlich wieder schneller werden. Ich bin versucht, die Lider zu öffnen, aber ich will den Moment nicht zerstören. Es ist schön so. Über uns liegt eine angenehme Ruhe. Als das Auto zum Stehen kommt, ruft er: »Mach die Augen auf!«
Ich muss blinzeln und erkenne nur Schemen. Entfernt vernehme ich noch andere Stimmen und schon im nächsten Moment liegt eine Decke auf meinem Schoß.
»Was …?«, jetzt erkenne ich es. Die helle Fläche vor mir entpuppt sich als große Leinwand und die grellen Lichter kommen von verschiedenen Ständen, die Popcorn, Zuckerwatte, Getränke und ähnlichen Süßkram verkaufen. Um uns herum stehen noch weitere Fahrzeuge, aber die wirken alle etwas kleiner, weil wir oben auf einer Anhöhe stehen.
»Ein Autokino!«
Ich höre mich nur noch schreien vor Begeisterung und will ihm stürmisch um den Hals fallen. Von der Mittelkonsole gebremst lege ich nur beide Arme auf seine Schultern und frage mich, ob dies der Moment ist, in dem ich ihn küssen sollte. Noch bevor ich weiter überlegen kann, gehen die Lichter der Stände aus und die Anfangsmelodie eines mir sehr bekannten Liedes setzt ein. Fasziniert gucke ich nicht zur Leinwand, sondern zu meinem Date. Er hat sich an alles, was ich ihm gesagt habe, erinnert.
»Bohemian Rapsody … der Film über Freddie Mercury … über Queen«, mehr kriege ich nicht heraus, weil Casper im nächsten Moment nach hinten packt und eine Tüte nach vorne zieht.
»Der Nachtisch«, sagt er zwinkernd und der Unterton, der mitschwingt, ist nicht falsch zu deuten. Das wird vielleicht nicht das einzige Dessert bleiben, also lecke ich mir unbewusst über die Lippen, als ich erwidere: »Ich bin gespannt, was du vorbereitet hast.«
Wie sich herausstellt, hat er gefühlt den gesamten Supermarkt leergekauft. Unsicher erzählt er, dass er vor den Regalen stand und nicht wusste, was ich am liebsten mag. Also hat er von allem etwas gekauft. Ein paar Tüten Gummibärchen werden von Chipstüten verdeckt und die Schokoladentafeln liegen zerstreut über ihnen. Weiße, dunkle, Vollmilch, mit Nüssen und welche mit einem fruchtigen Kern. Alles, was das Herz begehrt.
Während des Films lachen wir miteinander, fiebern bei den hitzigen Diskussionen mit und liegen uns weinend in den Armen, als Freddie verurteilt wird. Verurteilt, weil er homosexuell ist. Einfach nur schrecklich! Casper zieht mich näher zu sich heran und ich blicke in seine dunklen Augen. In ihnen spiegelt sich das völlige Gegenteil von dem wider, was sich draußen abspielt. Er versteht mich, wie kein anderer mich versteht. Langsam und behutsam ziehe ich ihn näher zu mir herüber. Meine beiden Hände sind in seinen Locken vergraben. Sein heißer Atem trifft auf meinen und ich bemerke, wie sich sein Brustkorb schnell hebt und senkt. Trotzdem erkundige ich mich vorsichtig, bevor unsere Lippen aufeinandertreffen: »Bist du dir sicher?«
Als Bestätigung lässt er seine Lippen auf meine sinken. Es trifft mich wie ein Tsunami und ich habe das Gefühl, weggerissen zu werden. Wie ein Sturz in die Tiefe. Doch ich weiß, dass ich weich landen werde. Dank ihm.
Später bei mir zu Hause angekommen bitte ich ihn herein. Immer darauf bedacht, dass ich nichts bereuen werde, weil er der Richtige ist. Wir fühlen uns für mich richtig an.