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B lumen. Nach meiner Prüfung wollte ich welche kaufen, aber ich habe es vergessen. Jetzt bin ich schon auf dem Weg und weiß, dass mich der Mut verlassen wird, wenn ich anhalte und noch einmal umdrehe, um sie zu besorgen. Dann werde ich niemals das Grab meiner Eltern besuchen. Das Navi sagt mir, dass es nur noch eine halbe Stunde dauert und irgendwie bin ich innerlich leer. Es verunsichert mich, aber ich kann besser damit leben als mit diesem Orkan an Gefühlen. Dabei frage ich mich immer wieder, warum ich Jules nichts erzählt und Damian angelogen habe. Sicher würde mich keiner von ihnen verurteilen. Jules hat mir immer zugehört, wenn ich mal wieder geklagt habe oder etwas zu erzählen hatte. Allmählich kommt es mir sogar schon so vor, als würde er mich besser kennen als ich ihn. Bei Damian geht es mir ganz anders. Ich will und kann sie nicht vergleichen, aber im Moment fühle ich mich von Damien entfremdet. Manchmal wache ich auf und frage mich, ob das nur ein Traum war und ich seinen Bruder Liban, seine Mutter und seine Großmutter in Wirklichkeit gar nicht kennengelernt habe. Er hat mich auch nicht mehr gefragt, ob ich ihn begleiten will. Jules' Anziehsachen musste ich zudem tief in meinem Kleiderschrank verstecken, weil er sicher nicht froh gewesen wäre, wenn er die gefunden hätte.
Es hat etwas Seltsames, dass es genauso aussieht wie noch vor einem Jahr und doch ganz anders. Damals habe ich kaum etwas wahrgenommen, weil es mein einziges Ziel war, die Messe zu überstehen. Jetzt nehme ich mir betont viel Zeit. Immer wieder lese ich unterschiedliche Namen und frage mich, ob die Menschen glücklich mit ihrem Leben waren. Meine Eltern waren es. Währenddessen frage ich mich, wie glücklich ich selbst bin. Lieber beantworte ich mir die Frage nicht, da es unbefriedigend wäre. Es würde alte Wunden aufreißen und neue bilden. Abrupt bleibe ich vor einem Baum stehen, den wir damals ausgesucht haben. Die anderen sind umrandet von Bildern, Kerzen und Blumen, nur dieser nicht. Erst wenn man direkt vor ihm steht, sieht man das Armband mit dem Schutzengel, was ich hiergelassen habe. Ich schaue zur Baumkrone herauf und mir wird bewusst, dass ich nicht mehr an sie denke als an jedem anderen Tag auch. Immerhin sind sie immer in meinen Gedanken präsent und falls nicht, macht sich direkt das schlechte Gewissen in mir breit.
»Mama? Papa? Erkennt ihr mich noch?« Meine Stimme ist kratzig und es fühlt sich komisch an. Dieser Ort ist für mich nicht mit Erinnerungen an sie verbunden. Dabei muss ich immer an unser Haus denken, was verkauft wurde. Dort liegt alles begraben, was ich mit ihnen erlebt habe.
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Irgendwie hatte ich nicht gedacht, dass ich wirklich komme«, beginne ich unsicher, weil es sich surreal anfühlt. Meine Eltern können nicht hier als Asche verstreut liegen. Immerhin waren sie nicht so alt, dass man meinen könnte, dass sie ihr Leben schon gelebt haben. Sie waren gerade erst dabei, es zu leben. Blinde Wut mischt sich in meine Trauer und ich gebe mich lieber dem lodernden Feuer hin als dem stillen Gewässer aus Kummer. Ehe ich es mir anders überlegen kann, umarme ich den Baum einmal fest und stapfe dann wieder zum Eingang. Auf einmal habe ich das Gefühl, dass ich dieses eine Jahr lang kaum etwas richtig gemacht habe.