1. Thomas
»Das Haus sieht scheiße aus!«
»Danke, Vater. Deine Worte sind immer so aufbauend.«
Ich weiß, dass es hier schrecklich aussieht, seitdem Elsa ausgezogen ist. Sie hat die meisten Möbel mitgenommen und ich hatte noch nicht den Elan, eine neue Einrichtung zu kaufen.
»Ich habe Bier mitgebracht«, sagt er und deutet auf den Jutebeutel, in dem es leise klimpert.
»Ist es dafür nicht ein bisschen zu früh?«, frage ich und schaue demonstrativ auf die Uhr. »Wie wäre es mit einem Kaffee?«
»Die Kaffeemaschine hat sie dir wohl gelassen?«, erkundigt er sich und bemüht sich nicht, den sarkastischen Unterton in seiner Stimme zu verstecken.
»Sogar die komplette Küche«, knurre ich, drehe mich um und begebe mich in jene.
»Erstaunlich«, meint er und nimmt auf einen der Stühle Platz.
»Eigentlich nicht. Ihr neuer Lover hat selbst eine Einbauküche.«
»Ach, aber Wohnzimmermöbel und ein Bett hatte er nicht?«
Auch wenn die Frage berechtigt ist, verdrehe ich innerlich die Augen. Ich hatte gehofft, dass mein Vater mich mit seinem Besuch ablenken würde, stattdessen bohrt er noch tiefer in der Wunde.
»Vermutlich haben ihr die Sachen nicht gefallen«, antworte ich seufzend und schalte den Kaffeeautomaten ein.
»Vermutlich«, wiederholt er ironisch.
Ich setze mich neben ihn. Er grinst mich schief an und klopft mir auf die Schulter.
»Du solltest dir dringend neue Möbel kaufen. Deine Mutter will, dass ich die alte Anbauwand, die im Bungalow steht, ausräume und zu dir bringe. Ich denke, das wollen wir beide nicht.«
»Auf keinen Fall«, sage ich eilig und kann ein frustriertes Stöhnen nicht unterdrücken. »Das Ding sieht schrecklich aus.«
»Retrocharme ist total angesagt. Aber trotzdem … geh einkaufen und hör auf, dich in deinem Elend zu suhlen.«
»Deine mitfühlende Art ist herzerweichend«, säusele ich theatralisch.
»Ich hätte deine Mutter mitbringen können …« Mein Vater wackelt mit den Augenbrauen und bringt mich damit zum Lachen.
»Danke, dass du es mir erspart hast.«
»Rede nicht so über deine Mutter, Junge«, sagt er streng und zwinkert mir gleichzeitig zu.
»Ich liebe sie«, erwidere ich eilig. Trotzdem bin ich froh, dass er allein aufgetaucht ist. Ich will nicht bemitleidet werden, aber ich möchte vor allem nicht, dass sie Pläne für die leeren Zimmer macht und Sachen anschleppt, die mir nicht gefallen; denn ich bin ein guter Sohn und könnte ihr das niemals ins Gesicht sagen.
»Das tun wir beide. Trotzdem gibt es Dinge, die wir besser schnell und ohne großes Aufheben selbst erledigen sollten.«
»Schon gut, ich kümmere mich um Möbel.«
Die Kaffeemaschine gibt ein zischendes Geräusch von sich. Ich stehe auf, hole zwei Tassen und gieße das tiefschwarze Gebräu ein. Wundervoller Duft steigt in meine Nase und beruhigt die angespannten Nerven.
Manchmal kommt es mir vor, als wäre es nur ein schrecklicher Alptraum, aus dem ich hoffentlich bald erwache. Oder ein Missverständnis … Aber auf ein: »Tut mir leid, das war ein Fehler. Unsere Ehe war toll und alles wird wieder gut « werde ich wohl vergebens warten. Letztendlich stimmt es nicht. Vielleicht habe ich mich vor der Wahrheit lange gedrückt, aber ich kannte sie. Elsa und ich … wir waren kaum mehr als eine Zweckgemeinschaft, Bekannte, die zufällig im gleichen Haus lebten, aber getrennten Interessen nachgingen.
Mein Verstand will nicht, dass sie zurückkommt, selbst mein Herz ist nicht mehr daran interessiert. Nur das Alleinsein zermürbt mich. Ich habe mich noch nicht an die leere Wohnung gewöhnt und muss erst verdauen, dass die meisten Freunde mit Elsa gegangen sind. Offensichtlich war ich immer eher ein Anhängsel, eine Bekanntschaft, die man gezwungenermaßen akzeptiert. Es ist nicht so, als wäre es mir nie aufgefallen, aber ich habe offenbar perfekt verdrängt, dass wir kaum Gemeinsamkeiten hatten.
»Nicht mal ein Enkelkind habt ihr uns in 15 Jahren Ehe gegönnt«, meint mein Vater und unterbricht meine zermürbenden Gedanken. Er trinkt einen Schluck und sieht mich über den Kaffeetassenrand hinweg an.
»Wir waren uns einig, dass wir keine Kinder wollten. Unsere Karrieren standen im Vordergrund.« Es klingt wie eine verdammte Ausrede, die ich so oft wiederholt habe, dass ich mir selbst glaube.
»Nun ist sie allerdings von einem anderen schwanger.« Er sagt das lapidar dahin. Ich weiß nicht, ob ich lachen oder heulen soll.
»Ja«, bestätige ich, während sich mein Herz schmerzhaft zusammenzieht.
Ich kann es immer noch nicht glauben. Sie bekommt ein Baby von einem anderen Mann. Elsa hat sich ein neues Leben aufgebaut und mich einfach zurückgelassen. Dabei dachte ich, wir würden eine gute Ehe führen. Vielleicht ein bisschen langweilig und im Bett war auch nichts mehr los … Scheiße, wir hatten seit Jahren keinen Sex und ich habe es nicht gemerkt. Was ist nur mit meiner Libido in all der Zeit passiert?
»Ehrlich gesagt hatten deine Mutter und ich nicht damit gerechnet, dass du ein Mädchen nach Hause bringst.«
»Was soll das denn bedeuten?«, frage ich und verspüre einen Anflug von Panik.
»Na ja, wir … oder genaugenommen deine Mutter, war sich ziemlich sicher, dass wir uns auf einen Schwiegersohn einstellen müssen. Sie hat mir im Vorfeld lange Vorträge darüber gehalten, wie ich mich im Fall der Fälle zu benehmen hätte.«
»Ähm, aber … wie … also, ich verstehe nicht, wie ihr darauf kommt.«
Mein Vater schnaubt.
»Du hast dir doch überhaupt keine Zeit gelassen. Von der Schulbank direkt zum Standesamt. Mama und ich hatten von Anfang an kein gutes Gefühl, aber ihr wart so versessen darauf zu heiraten.«
»Es hat sich richtig angefühlt«, antworte ich nachdenklich. Insgeheim war ich froh, dass ich nicht länger meine Sexualität hinterfragen musste. Mit Elsa schien es so einfach zu sein. Wir hatten ähnliche Ziele und haben alles dafür getan, damit sie in Erfüllung gehen.
Ein hübsches Gesicht drängt sich in mein Gehirn. Süße Sommersprossen, die auf der Nase zu tanzen scheinen wenn er lacht. Bernsteinfarbene Augen, die mit der Sonne um die Wette leuchten und dunkelrote Locken, die wild sein Gesicht umrahmen. Veit … mein junger Arbeitskollege. Er berührt eine Seite in mir, an die ich mich kaum erinnern kann, die ich in meiner Jugend mühsam verdrängt habe.
»Ich schätze, ich bin bisexuell«, platzt es aus mir heraus.
»Besser bi als nie«, posaunt mein Vater lachend. »Dann hat deine Mutter also tatsächlich nicht ganz unrecht.« Er schaut mich aufmerksam an.
Ich winde mich unter seinem Blick, fühle mich befangen und verunsichert.
»Ich habe gedacht, dass es niemals eine Rolle spielen würde«, gebe ich leise zu. »Elsa war keine Tarnung oder so. Ich habe sie geliebt und dachte, wir bleiben für den Rest unseres Lebens zusammen.«
»Junge, ihr habt nicht wirklich gut zusammengepasst. Ich weiß, dass man so etwas nicht von seinen Eltern hören will, aber eigentlich hatten wir viel früher damit gerechnet, dass ihr euch trennt.«
»Weil ihr dachtet, dass ich schwul bin?«, Ich merke einen Anflug von Verärgerung in mir.
»Nein, weil du neben ihr total verschwunden bist. Sie hat ihr Leben gelebt und du hast allenfalls existiert.«
»Wieso sagst du so etwas?«, frage ich und fühle mich verdammt elend.
Mir war das niemals so klar wie meinen Eltern. Ich habe mich eigentlich wohlgefühlt und dachte, es wären einfach nur die typischen Kompromisse, die man eingeht, wenn eine Partnerschaft funktionieren soll. Außerdem haben wir uns auf unsere Jobs konzentriert. Nach langen und harten Arbeitstagen bleibt so etwas wie Zweisamkeit und Zärtlichkeit auf der Strecke. Es hat sich nicht falsch angefühlt. Jetzt jedoch zu erkennen, dass ich ein verdammtes Luftschloss gebaut habe, ist demütigend und entsetzlich.
»Ich will nicht, dass du dich weiterhin vor der Welt versteckst und um etwas trauerst, das schon lange verschwunden ist. Du hast ein Recht darauf, glücklich zu sein. Vermutlich hätte deine Mutter diese Dinge ein bisschen feinfühliger gesagt. Ich hab‘s nicht so mit der Gefühlsduselei, aber vielleicht versuchst du es jetzt mal mit einem Mann. Wo doch beides zur Debatte steht.« Er grinst mich erneut an, während ich vor Verlegenheit im Boden versinken möchte.
»So funktioniert das nicht«, nuschle ich hilflos und spüre zugleich, wie meine Gedanken erneut wegdriften. Ich sollte nicht so viel an Veit denken, aber er ist irgendwie ständig in meinem Kopf.
»Bloß weil es mit Elsa am Ende nicht geklappt hat, kann ich jetzt nicht nach einem Mann suchen.«
»Wichtig ist, dass du überhaupt wieder eine Verabredung hast. Du solltest nicht allein sein.«
»Warum nicht? Es ist eigentlich gar nicht so schlecht. Ich kann machen was ich will, bin niemanden Rechenschaft schuldig und ...«
»Hast niemanden, der sich um dich kümmert.«
»Das klingt furchtbar altmodisch. Ich kann mir meine Wünsche selbst erfüllen. Außerdem hast du doch gerade gesagt, dass das nicht gut für mich war.«
Mein Vater mustert mich eine Weile mit großen Augen und fängt dann schallend zu lachen an.
»Du bist so stur wie deine Mutter. Jetzt begreife ich auch, weshalb sie mich zu dir geschickt hat.«
Er schüttelt den Kopf, trinkt seine Tasse leer und starrt mich erneut an.
»Wir lieben dich, Thomas. Hör auf dich zu bemitleiden und hake die Sache mit Elsa ab. Dein Leben geht weiter und du wirst nicht jünger. Niemand wird das.«
»Danke für den Hinweis«, grummle ich. Zwölf Jahre Altersunterschied machen mir obendrein deutlich, dass meine Schwärmerei absurd ist.
»Wie läuft es denn im Job?«, wechselt mein Vater das Thema.
»Gut. Wir haben für das ehemalige Betriebsgelände neben dem alten Güterbahnhof die Genehmigung bekommen, eine Wohnsiedlung zu planen. Veit und ich sind schon gut vorangekommen und die ersten Interessenten haben sich bereits ebenfalls gemeldet.«
»Auch wenn die Arbeit nicht alles sein sollte, freue ich mich, dass es gut für dich läuft. Mit deinem jungen Kollegen scheinst du einen richtigen Glücksgriff gemacht zu haben.«
»Er ist toll«, stimme ich leise zu und fühle, wie es in meinem Bauch zu kribbeln beginnt.
Ich benehme mich idiotisch, aber ich kann einfach nichts dagegen tun. Seit Elsa weg ist, ist es noch schlimmer geworden. Ich habe Schmetterlinge im Bauch, oder vielleicht sind es eher Schneeflocken, denn sie wirbeln nicht nur wild umher, sondern lassen mich innerlich erstarren, weil es sich so unerhört anfühlt.
»Ich fahre jetzt in den Schachclub.« Mein Vater steht abrupt auf. »Willst du mitkommen? Wir haben schon lange keine Partie mehr gespielt.«
»Nein, nicht heute«, antworte ich. »Aber danke für die Einladung und dass du hergekommen bist.«
»Ich danke dir für dein Outing«, erwidert er mit einem breiten Grinsen. »Deine Mutter wird ausflippen, wenn ich ihr davon erzähle. Seitdem sie diese Bücher entdeckt hat …« Mein Vater winkt mit einem theatralischen Seufzen ab. »Sie liest quasi in jeder freien Minute.«
»Immerhin weiß ich, was ich ihr zu Weihnachten schenken kann.«
»Füttere ihre Sucht noch«, brummt er mit einem scherzhaften Unterton.
»Ich will doch ein guter Sohn sein.«
»Das bist du«, entgegnet mein Vater und legt mir eine Hand auf die Schulter. »Du hast vielleicht in den letzten Jahren ein bisschen die Orientierung verloren, aber ich weiß, dass du dein Leben wieder auf die Reihe bekommst.«
»Danke, Papa«, flüstere ich ergriffen, während er mich für eine überaus männliche Umarmung heranzieht.
Erst als die Tür hinter ihm ins Schloss fällt, erinnere ich mich an das Bier, das er mitgebracht hat. Für einen Moment erwäge ich, ihm hinterherzulaufen, aber vielleicht sollte ich mir lieber ein oder zwei Flaschen vor dem Fernseher gönnen.
Die plötzlich eintretende Stille macht mir erneut bewusst, wie allein ich bin. Das Haus fühlt sich leer an. Mir fällt regelrecht die Decke auf den Kopf.
Die Arbeitstage sind erträglich. Ich verbringe dermaßen viel Zeit im Büro, dass ich abends nur noch todmüde ins Bett falle. Aber die Wochenenden sind furchtbar lang und zäh.
Leider hat mein Chef angeordnet, dass wir den Dezember ruhiger angehen lassen sollen. Keine Wochenendarbeit und nur Überstunden, wenn es nötig ist. Die anderen waren froh und dankbar, während mein Brustkorb sich vor Panik zusammenzog und ich kaum Luft bekam. Zu viele Stunden allein in diesem halbleeren, unwohnlichen Haus.
Ganz abgesehen davon, dass Elsa schon vor einer Woche die Räume weihnachtlich geschmückt hätte. Morgen ist der erste Advent. Sie wäre jetzt bereits voll in Weihnachtsstimmung gewesen oder vielmehr im Weihnachtsstress, denn die eigentlich gemütliche Zeit war eher nervenaufreibend und anstrengend. Immerhin bleibt mir das Theater erspart. Das ist allerdings nur ein kleiner Trost.
Im vergangenen Jahr ging es mir auf die Nerven, die vielen Kartons vom Dachboden zu holen und die unzähligen Lichterketten anzubringen. Ich habe mich über alberne Weihnachtswichtel und grinsende Rentiere aufgeregt. Überall leuchteten und glänzten Kugeln, dazu der weiße, künstliche Baum, den sie anstatt einer echten Tanne haben wollte. Das Ding war sauteuer und verbreitete eine Gemütlichkeit, die eher an eine Gefriertruhe erinnerte. Immerhin hat sie ihn und das meiste andere Zeug bei ihrem Auszug mitgenommen.
Trotzdem wünsche ich mir, ich könnte die Zeit zurückdrehen. Nur ein paar Wochen, bis vor den Punkt, an dem wir entschieden haben, dass unsere Ehe keinen Sinn mehr macht. Damals, als ich noch nicht wusste, dass sie sich bereits eine Weile mit einem anderen Mann traf. Bevor ich erkennen musste, dass unser gemeinsames Leben für immer vorbei sein würde.
Ich bin von meiner bequemen, wattenweichen Heileweltwolke direkt auf den harten Boden der Realität gestürzt. Dass ich mich seit geraumer Zeit allein dort oben befand, ist mir erst nach dem zerschmetternden Aufprall bewusst geworden.
Offenbar haben es alle anderen gesehen, nur ich nicht.
Frustriert lasse ich mich im Wohnzimmer aufs Sofa fallen. Abgesehen vom Fernseher und Bücherregal gehört es zu den wenigen Möbelstücken, die sie nicht mitgenommen hat. Natürlich hätte ich nicht so nachgiebig sein müssen. Wir haben die meisten Sachen gemeinsam angeschafft und keine Gütertrennung in unserer Ehe vereinbart. Ich war jedoch viel zu geschockt von der Trennung. Vermutlich sollte ich ihr dankbar sein, dass sie die Reißleine gezogen hat.
Wie mein Vater gerade gesagt hat, haben wir nur ein Leben. Niemand sollte es mit dem falschen Partner vergeuden. Nur war ich unwissend, während sie sich den Schritt lange überlegt hatte. Es tut verdammt weh. Nach fünfzehn Jahren Ehe fühlt es sich an, als wäre mir ein wichtiges Körperteil amputiert wurden. Zurückgeblieben sind dieser seltsame Phantomschmerz und die Frage, wie ich mein Privatleben wieder in den Griff bekommen soll.
Elsa hat mir einige unangenehme Wahrheiten an den Kopf geknallt, die ich nur schwer verdauen kann. Mir war nicht bewusst, wie erbärmlich meine Existenz ist. Allerdings konnte ich davon nichts meinem Vater erzählen. Ein peinliches Geständnis reicht vollkommen. Da muss er nicht noch hören, was für eine Niete ich im Bett anscheinend bin. Ich schlage die Hände vor mein Gesicht. Eine Welle von Scham und Panik rollt über mich hinweg. Es ist, als würde ich darin ertrinken.
Ich sollte meinen Kopf aus dem Arsch ziehen und den Rat meines Vater befolgen. Neue Möbel müssen her. Der Fernseher steht auf einer dunkelgrünen Plastikkiste, was wirklich nicht besonders attraktiv ausschaut. Ich schlafe auf einer Matratze auf dem Boden und meine Klamotten hängen an einer fahrbaren Garderobenstange.
Gelangweilt zappe ich durch das Fernsehprogramm. Bei mehr als einhundert Sendern ist nichts dabei, was mir gefällt. Auch bei Netflix finde ich weder eine Serie noch einen Film. Selbst auf meine Lieblingsserien habe ich keine Lust.
Komm vorbei, wenn dir die Decke auf den Kopf fällt . Der Satz schießt plötzlich durch mein Gehirn. Ich höre Veits Stimme derart deutlich, als würde er neben mir sitzen. Vermutlich hat er die Einladung nur so daher gesagt. Eine freundliche, aber nicht ernst gemeinte Reaktion auf mein peinliches Gejammer.
Seit ich ihn als Lehrling unter meine Fittiche genommen habe, arbeiten wir zusammen. Zum Glück hat unser Chef ihn nach der Ausbildung eingestellt. Jetzt sind wir schon seit insgesamt fünf Jahren ein ausgesprochen gutes Team. Er ist jung, lebendig und voller Zuversicht. Ich mag ihn … vielleicht ein bisschen mehr als ich sollte, was verstörend ist.
Trotzdem möchte ich auf einmal das Risiko eingehen und ihn besuchen. Im Grunde kann doch nicht viel passieren. Eventuell hat er keine Zeit oder ist nicht Zuhause. Dann verbuche ich es zumindest als Spaziergang. Ein bisschen frische Luft kann nicht schaden.
Ich nehme mein Handy vom Tisch und entsperre den Bildschirm. Vielleicht sollte ich Veit zuerst eine Nachricht schreiben und ihm die Möglichkeit geben, abzusagen. Ich öffne den Chat und spüre, wie sich meine Mundwinkel nach oben biegen. Er hat mir mit seinen lustigen Kommentaren, Bildern und Emojis schon einige Abende gerettet. Dabei texten wir erst, seitdem Elsa ausgezogen ist. Ich weiß nicht genau, wie es passiert ist.
Gedankenverloren scrolle ich durch unsere Unterhaltungen. Das Foto von ihm mit roter Zipfelmütze und einem wirklich schrägen Weihnachtsanzug, das er mir vor zwei Tagen geschickt hat, lässt mich innehalten. Das Rot beißt sich heftig mit seiner Haarfarbe, aber dieses Lächeln ... Es berührt eine Seite in mir, die ich lange Zeit vergessen hatte. Erneut höre ich die Stimme meines Vaters, dass ich es mal mit einem Mann versuchen sollte. Ich lache bitter auf, denn Veit ist vermutlich auch kein geeigneter Partner für mich. Oder vielmehr ich für ihn.
Es ist jedoch nicht so, als würde mir Veits Präsenz erst in den letzten Wochen auffallen. Eigentlich stand er immer in meinem Fokus. Ich habe beobachtet, wie aus einem unsicheren Jungen, der frisch von der Schule kam und es dort nicht besonders leicht hatte, ein selbstbewusster Mann wurde. Sein Körper hat mehr Kontur bekommen. Aus einem schlaksigen Jugendlichen wurde ein attraktiver Mann. Sogar der rote Bartschatten, wenn er mal keinen Bock zum Rasieren hat, wirkt sexy.
Natürlich habe ich nichts davon jemals verlauten lassen. Seine Entwicklung zu beobachten und zu wissen, dass ich einen winzigen Anteil daran trage, ist mein süßes Geheimnis. Ich will mich nicht mit den seltsamen und unangebrachten Gefühlen auseinandersetzen, sondern nur ein bisschen in seinem sonnigen Optimismus baden.
Es ist nicht nur seine äußere Hülle. Wir verstehen uns wirklich gut, so dass ich den Altersunterschied manchmal vergesse.
Allerdings haben wir uns noch nie in der Freizeit getroffen, abgesehen von betrieblichen Veranstaltungen. Im Büro ist er ein wunderbarer, kluger und witziger Mann. Ich schätze, er sieht in mir lediglich einen Arbeitskollegen.
Es gibt verdammt viele Gründe, weshalb ich damit zufrieden sein sollte. Allen voran die Tatsache, dass er nicht weiß, dass ich bisexuell bin. Immerhin war ich 15 Jahre mit einer Frau verheiratet. Ich bin niemals fremdgegangen, habe nie an unserer Verbindung gezweifelt. Nur die kleine Schwärmerei für Veit habe ich mir erlaubt.
Ich springe auf und tigere nervös durch das leere Wohnzimmer. Am Fenster bleibe ich stehen und schaue hinaus in den Garten. Obwohl erst kurz nach fünf, ist es bereits stockdunkel. Alles wirkt trostlos und düster. Der Herbst bricht mir in diesem Jahr echt das Genick.
Mein Gesicht spiegelt sich in der Scheibe. Der Anblick gefällt mir nicht. Ich will mich nicht dermaßen verloren fühlen und im Selbstmitleid baden.
»Hör auf zu jammern«, motze ich mich an und strecke mir kindisch die Zunge heraus.
Ich drehe mich um, zögere und gehe dann schnurstracks ins Schlafzimmer. Ohne nachzudenken ziehe ich die schwarze Jeans mit den Cut-outs an. Die Löcher sind dermaßen groß, dass meine Knie herausgucken. Elsa hat mich ausgelacht, als ich sie gekauft habe. Sie meinte, ich würde allmählich in eine Midlife-Crisis fallen, dabei fand ich sie einfach nur schick und cool. Vermutlich werde ich mir damit den Arsch abfrieren.
»Nicht grübeln«, ermahne ich mich und begebe mich in den Flur.
Ich schlüpfe in Sneakers, ziehe meine dicke Winterjacke an und hole Vaters Beutel mit dem Bier aus der Küche. Im Spiegel der Flurgarderobe, den Elsa freundlicherweise dagelassen hat, mustere ich mich noch einmal kritisch. Immerhin ist aus mir kein alter, fetter Sack geworden. Wenige graue Strähnen, kein Bauch und nicht mal Anflug einer kahlen Stelle.
Ich weiß nicht, was ich erwarten darf, aber ich hoffe, der verdammten Einsamkeit für einen Abend zu entfliehen. Damit wäre ich vollkommen zufrieden. Für mehr würde mir ohnehin der Mut fehlen.
Eiskalter Wind bläst mir ins Gesicht, sobald ich die Haustür öffne. Einen Moment zaudere ich, bevor ich mich auf den Weg mache.
Theoretisch wäre es mit dem Auto komfortabler, aber dann kann ich nichts trinken. Außerdem wohnt Veit nicht sehr weit entfernt. Eine halbe Stunde zu Fuß ist kein Weltuntergang. Ganz zu schweigen davon, dass frische Luft und Bewegung dabei helfen, einen kühlen Kopf zu bewahren.
Die meisten Gärten der kleinen Einfamilienhaussiedlung sind bereits geschmückt. Überall blinken Lichter, stehen Rentiere, Weihnachtsmänner und Laternen herum.
Ich versuche mich daran zu erinnern, wann Elsa und ich den letzten romantischen Spaziergang gemacht haben. Am Anfang haben wir die Zweisamkeit genossen, aber irgendwann war es einfach vorbei. Schleichend wie ein Geschwür, das man erst erkennt, wenn es zu spät ist, haben wir uns voneinander entfernt. An das Wir -Gefühl kann ich mich gar nicht mehr erinnern. Ich hätte nicht gedacht, dass ich mal in einer Zweckgemeinschaft leben würde. Nun ist sie zu Ende, nur leider bin ich dabei auf der Strecke geblieben.
Als ich das Gebäude erblicke, in dem Veit wohnt, beginnt mein Herz vor Aufregung schneller zu schlagen. Was mache ich hier nur? Ich sollte umkehren, aber meine Füße weigern sich, den Befehl auszuführen. Ebenso, wie mein Zeigefinger von allein den Klingelknopf neben Veits Namen drückt. Ich halte die Luft an, weiß nicht, ob ich darauf hoffe, dass er da ist oder erleichtert wäre, wenn die Tür verschlossen bleibt.
»Hallo?« Veits seltsam verzerrte Stimme schallt mir entgegen.
Mit flatterndem Herzen weiche ich einen Schritt zurück und räuspere mich.
»Hier ist Thomas«, sage ich in peinlich quietschender Tonlage und komme mir idiotisch vor.
»Wer?«
Ein Anflug von Panik erfasst mich. Wie konnte ich nur glauben, dass er das Angebot ernst gemeint hat?
»Hallo?«, ruft Veit. »Ich drücke mal auf den Summer, denn die blöde Anlage funktioniert mal wieder nicht richtig.« Bevor sich die Tür mit einem dunklen Brummen öffnet, höre ich noch ein paar Flüche, die mich trotz des mulmigen Gefühls zum Grinsen bringen.
Das Licht geht automatisch an, sobald ich den Hausflur betrete. Geblendet von der plötzlichen Helligkeit, schlängle ich mich an Fahrrädern und Kinderwagen vorbei und steige die Stufen nach oben. Veit wohnt in der zweiten Etage.
Nervös bleibe ich auf dem letzten Absatz stehen und versuche, gesenkten Blickes einen letzten Rest Mut zusammenzukratzen.
Als ich den Kopf hebe, schaue ich direkt in Veits Gesicht. Im ersten Moment runzelt er die Stirn und scheint nicht zu begreifen, wen er vor sich hat. Verlegen ziehe ich die Unterlippe zwischen die Zähne.
»Thomas?«, fragt er in ungläubigem Tonfall. Jedoch sorgt sein breites Lächeln dafür, dass meine Knie weich werden.
»Ich dachte, vielleicht hast du Zeit für ein Bier oder so.« Ungelenk halte ich den Beutel in die Luft.
»Das … oh, mein Gott … das ist …«
»Schatz, wo bleibst du denn?«, ruft eine männliche Stimme von drinnen.
Verdammt! Entsetzt starre ich ihn an und möchte am liebsten im Boden versinken. Ich wusste nicht, dass er einen Freund hat.