Häufig hatte ich den Eindruck, meine neuen Freunde und ich lebten nicht nur in unterschiedlichen geografischen Regionen, sondern auch in unterschiedlichen Wirklichkeiten. Nach einem Interview fragte ich mich oft, wie denn nun die Fakten tatsächlich aussehen. Im Folgenden führe ich daher Äußerungen an, die ich häufig gehört habe, und stelle sie den Fakten gegenüber, die Rebecca Elliott aufgrund der aktuellsten verfügbaren Daten recherchiert hat (die Quellen sind in den Anmerkungen angegeben).
»Der Staat gibt viel Geld für Sozialleistungen aus.«
Die Vereinigten Staaten wandten 2014 acht Prozent ihres Staatshaushalts für Sozialleistungen auf, die auf Einkommen und Bedürftigkeit basieren.1
»Die Sozialausgaben steigen, und Leute, die Sozialhilfe bekommen, arbeiten nicht.«
Seit Präsident Bill Clinton 1996 »das Ende der Sozialhilfe, wie wir sie kennen«, verkündete, lief das Familienhilfeprogramm Aid for Families with Dependent Children (AFDC) aus und wurde ersetzt durch die Temporary Assistance for Needy Families (TANF, das eine zeitliche Befristung und Arbeitsanforderungen vorsieht). Diese Unterstützung für die ärmsten Familien mit Kindern im Land liegt nun in 35 Bundesstaaten und dem District Columbia zwanzig Prozent unter dem Stand von 1996.2 Doch seit der Wirtschafts- und Finanzkrise 2008 ist die Zahl der Amerikaner, die Lebensmittelmarken (Supplemental Nutrition Assistance Program, SNAP) erhalten, über den Stand von 1995 gestiegen, erreichte 2013 einen Spitzenwert und ist seitdem stark rückläufig.3 Auch die Ausgaben für Medicaid sind gestiegen, sollen aber laut einer Studie der Kaiser Family Foundation 2016 auf den Stand von 1999 zurückgehen.4
Die meisten Sozialhilfeempfänger sind Kinder und alte Menschen. So waren 2013 von den Medicaid-Empfängern 51 Prozent Kinder unter achtzehn Jahren und fünf Prozent Senioren über 65 Jahren. In der Altersgruppe von achtzehn bis 64 Jahren waren nach den Daten für 2010 bis 2012 alle Empfänger bedarfsorientierter Leistungen – also »Wohlfahrtsempfänger« – erwerbstätig.5 Von den Empfängern von Medicaid und des Children’s Health Insurance Program – mit Abstand die größte Empfängergruppe – arbeiten 61 Prozent.6 Von den Beziehern von Lebensmittelmarken gehen 36 Prozent einer Erwerbstätigkeit nach und von den Empfängern der Familienhilfe TANF 32 Prozent. Sämtliche Lohnaufstocker (Earned Income Tax Credit) sind erwerbstätig, allerdings in schlecht bezahlten Teilzeitbeschäftigungen.7 So bezogen 2013 von den Beschäftigten in Fast-Food-Restaurants 52 Prozent Sozialleistungen in irgendeiner Form zur Aufstockung schlecht bezahlter Vollzeitarbeit. Unter den Beschäftigten im Bereich der Kinderbetreuung waren 46 Prozent auf Sozialhilfe angewiesen und im Bereich häuslicher Pflege waren es 48 Prozent.8 Unter diesen Umständen kann man wohl behaupten, dass der Steuerzahler einen Ausgleich für die niedrigen Löhne mancher Unternehmen schafft – manche sagen, das sei eine Form von »Wohlfahrtsleistung für Unternehmen«.
»Sozialleistungsempfänger bestreiten ihren Lebensunterhalt ausschließlich aus Steuergeldern.«
Die ärmsten 20 Prozent der Amerikaner erhielten 2011 nur 37 Prozent ihres Gesamteinkommens vom Staat; den Rest erwirtschafteten sie als Lohn für Erwerbsarbeit.9
»Jeder Arme bekommt Almosen.«
Nicht alle Armen erhalten staatliche Unterstützung. Laut Survey of Income and Program Participation für 2012 (der aktuellste verfügbare Stand) des U. S. Census Bureau erhielten 26,2 Prozent keinerlei Leistungen aus den großen bedarfsorientierten Sozialprogrammen (Medicaid, SNAP, TANF/GA, Housing Assistance und Supplemental Security Income).10 Zudem bestehen erhebliche Unterschiede zwischen den einzelnen Bundesstaaten. In Vermont kommen auf hundert Bedürftige 78 TANF-Leistungsempfänger, in Louisiana sind es vier.11 Außerdem hilft der Staat den oberen Einkommensgruppen mehr, als man sich vorstellen mag. Nach einer Schätzung profitieren die reichsten 20 Prozent der Amerikaner von mehr als der Hälfte aller Steuervorteile.
»Schwarze Frauen haben viel mehr Kinder als weiße.«
In den letzten Jahren hat sich die Fertilitätsrate weißer und schwarzer Frauen in den USA einander fast vollständig angeglichen. Die zusammengefasste Fruchtbarkeitsrate schwarzer Frauen im Laufe ihres Lebens lag 2013 bei 1,88 Kindern, die weißer Frauen bei 1,75.12
»Viele Leute – vielleicht 40 Prozent – arbeiten auf Bundes- und Landesebene für den Staat.«
Nach den Angaben des Bureau of Labor Statistics waren Ende 2014 von den 143 Millionen amerikanischen Erwerbstätigen außerhalb der Landwirtschaft 1,9 Prozent im zivilen Sektor des öffentlichen Dienstes auf Bundesebene tätig.13 Ein weiteres Prozent stand im Militärdienst.14 Etwa 3,5 Prozent der Erwerbstätigen waren im öffentlichen Dienst der einzelnen Bundesstaaten unter anderem in Schulen und Krankenhäusern beschäftigt. Außerdem standen 9,8 Prozent der Erwerbstätigen – einschließlich Lehrer an staatlichen Schulen – im öffentlichen Dienst auf kommunaler Ebene.15 2014 gehörten 826 848 Personen – 0,58 Prozent der Amerikaner – den militärischen Reserveverbänden an. Alle zivilen und militärischen Beschäftigten im öffentlichen Dienst auf Bundes-, Landes- und Kommunalebene machten 2014 zusammen weniger als 17 Prozent der Amerikaner aus.
»Die Beschäftigten im öffentlichen Dienst sind völlig überbezahlt.«
Forscher verglichen Beschäftigte im öffentlichen Dienst mit solchen in der Privatwirtschaft, legten die Daten des Annual Social and Economic Supplement of the Current Population Survey für 2006 und 2007 zugrunde und bereinigten sie um Bildungsstand, Erfahrung, Geschlecht, »Rasse«, ethnische Zugehörigkeit, Familienstand, Vollzeit-/Teilzeitbeschäftigung, Zahl der geleisteten Arbeitsstunden und andere Variablen. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass Beschäftigte in der Privatwirtschaft zwölf Prozent mehr verdienen als die entsprechenden Arbeitskräfte im öffentlichen Dienst.16 Frauen mit hohem Studienabschluss verdienen in der Privatwirtschaft 21 Prozent weniger als Männer mit vergleichbarer Qualifikation, im öffentlichen Dienst jedoch nur zwölf Prozent weniger. Frauen sind also in beiden Wirtschaftssektoren unterbezahlt, im öffentlichen Dienst ist die Differenz allerdings geringer. Das Gleiche gilt für Schwarze: Auf allen Qualifikationsstufen verdienen Schwarze im öffentlichen Dienst weniger als Weiße – allerdings nicht so viel weniger wie in der Privatwirtschaft: Im öffentlichen Dienst liegt ihr Einkommen zwei Prozent, in der Privatwirtschaft 13 Prozent unter dem von Weißen.17
»Je mehr Umweltschutzbestimmungen es gibt, umso weniger Arbeitsplätze gibt es.«
Nahezu alle Tea-Party-Sympathisanten, die ich interviewte, verwiesen auf eine Kosten-Nutzen-Abwägung zwischen Arbeitsplätzen und Umweltschutz. Je strenger die Umweltschutzauflagen, umso höher sind die Kosten für Unternehmen, die diese wiederum in Form höherer Preise für ihre Produkte weitergeben, was zu weniger Umsatz und Beschäftigung führt, so lautet die Argumentation.
Doch hält diese Entweder-oder-Logik den Fakten stand? Nein.18 Eine Studie verglich 1993 die Rangfolge der US-Bundesstaaten in Hinblick auf die Strenge des Umweltschutzes mit Indikatoren einer gesunden Wirtschaft (Wirtschaftswachstum, Zuwachs der Beschäftigungszahl, Zuwachs im Bausektor) über einen Zeitraum von zwanzig Jahren und stellte fest, dass strengere Umweltschutzbestimmungen die relative Geschwindigkeit des Wirtschaftswachstums nicht beeinträchtigten.19 Forscher fanden 2001 in einer Studie zu neuen Luftreinhaltungsbestimmungen für Fertigungsanlagen in Los Angeles und Umgebung keinen Beleg, dass die einschlägigen örtlichen Vorschriften, die zu den strengsten der USA gehören, das Arbeitsplatzangebot erheblich reduziert hätten.20 Eine andere Studie untersuchte 2002 die Auswirkungen von Umweltschutzbestimmungen auf vier Branchen, die beträchtliche Umweltverschmutzung verursachen – und in denen man daher Arbeitsplatzverluste infolge von Umweltschutzvorschriften erwarten könnte. In zwei der vier untersuchten Branchen (Kunststoff- und Erdölindustrie) hatten die Umweltschutzbestimmungen einen kleinen, allerdings positiven Nettoeffekt auf die Arbeitsplätze, während in den beiden anderen (Zellstoff- und Papierindustrie sowie Eisen- und Stahlindustrie) keine statistisch signifikante Auswirkung festzustellen war.21 Und 2008 fand eine Studie schließlich heraus, dass Umweltschutzinvestitionen einige Arbeitsplätze schaffen und andere verdrängen können, jedoch einen positiven Nettoeffekt auf die Beschäftigung haben. Tatsächlich ist Umweltschutz selbst ein wichtiger Wirtschaftszweig, der Umsatz generiert und Arbeitsplätze schafft. In einem Vergleich von Florida, Michigan, Minnesota, North Carolina, Ohio und Wisconsin kamen zwei Forscher zu dem Ergebnis, dass eine strengere Umweltschutzpolitik das Beschäftigungswachstum nicht behinderte.22
Führen überzogene Auflagen staatlicher Umweltschutzbehörden zu Massenentlassungen? Nach den Massenentlassungs-Statistiken des Bureau of Labour Statistics23 standen von 1987 bis 1990 nur 0,1 Prozent der Entlassungen »mit Umwelt oder Sicherheitsaspekten in Zusammenhang«.24 Nach den aktuellsten Daten von 2012, die 6500 Entlassungen von Privatunternehmen ohne landwirtschaftliche Betriebe umfassten, waren 45 Fälle oder 0,69 Prozent der gesamten Entlassungen mit »Katastrophen oder Sicherheit« verknüpft, darunter auch solche, die auf »gefährliche Arbeitsbedingungen« oder »Naturkatastrophen« zurückzuführen waren. Nur 18 Fälle, also 0,28 Prozent, gingen auf »staatliche Regulierung/Intervention« zurück.25
»Wirtschaftliche Anreize und lockerere Vorschriften sind nötig, um Öl- und Gasunternehmen anzulocken, die sich sonst anderswo ansiedeln könnten und würden.«
Forscher untersuchten 2004 die Auswirkungen lokaler Fiskalpolitik auf die Standortentscheidungen von 3763 Betrieben, die sich zwischen 1993 und 1995 in Maine angesiedelt hatten, und stellten fest, dass Unternehmen Gemeinden bevorzugen, die hohe Aufwendungen für öffentliche Einrichtungen und Dienstleistungen tätigen, selbst wenn diese Ausgaben durch höhere Abgaben finanziert werden. Das legt den Schluss nahe, dass eine lokale Fiskalpolitik, die zum Ausgleich von Steuersenkungen die Ausgaben der öffentlichen Hand kürzt, möglicherweise weniger neue Unternehmen anlockt, als eine Politik, die mehr Aufwendungen und höhere Steuern beinhaltet.26 Aktuellere Belege lassen vermuten, dass Bundesstaaten und Kommunen, die auf Anreize setzen, möglicherweise mit negativen Folgen rechnen müssen, ganz gleich, ob sie damit tatsächlich Unternehmen anlocken oder nicht. Anhand einer Analyse von nationalen Erhebungen unter 700 bis 1000 Kommunen aus den Jahren 1994, 1999 und 2004, die den Einsatz von Wirtschaftsanreizen über einen längeren Zeitraum hinweg verfolgten, stellte eine Studie 2010 fest, dass Kommunen, die besonders stark auf Anreize setzen, sich einem schärferen Wettbewerb mit anderen Kommunen ausgesetzt sehen und mit einer stagnierenden oder rückläufigen Wirtschaft und geringeren Steuereinnahmen konfrontiert sind. Wirtschaftsanreize können für solche Kommunen zu einer Abwärtsspirale destruktiven Wettbewerbs beitragen.27
»Staatliche Subventionen für die Industrie tragen zur Schaffung von mehr Arbeitsplätzen bei.«
In The Advocate, Louisianas größter Tageszeitung, erschien 2014 ein achtteiliger investigativer Artikel mit der Überschrift: »Louisiana wird verschenkt«.28 Die Autoren fragten sich: Wenn Louisiana jährlich etwa 1,1 Milliarden US-Dollar an Steuergeldern als »Anreize« an Unternehmen verschenkt, bekommen die Bürger den Gegenwert ihres Geldes in Arbeitsplätzen zurück? Ihre Antwort lautete: »Nein.«
Für jeden Arbeitsplatz, den die Industrie schafft, zahlt Louisianas Steuerzahler enorme Summen. Gordon Russell schreibt: »Als Valero eine Expansion seiner Norco-Werke und die Schaffung von 43 Arbeitsplätzen ankündigte, versprach Louisiana, 10 000 000 US-Dollar der Kosten zu übernehmen oder annähernd eine Viertelmillion Dollar pro Arbeitsplatz.« Selbst wenn tatsächlich in Louisiana Arbeitsplätze geschaffen werden, steht keineswegs fest, dass dies aufgrund von Subventionen erfolgt. So räumte der Bundesstaat 2013 Fracking-Unternehmen Steuerbefreiungen in Höhe von 240 000 000 US-Dollar ein, doch Russel stellt fest: »Es gibt kaum Belege, dass Steuererleichterungen die Bohrtätigkeit stimulieren.« Die Förderung steigt und sinkt je nach Verfügbarkeit und Preis von Öl und Gas, nicht mit der wechselnden Höhe staatlicher Subventionen. Zudem sind die staatlichen Subventionen schneller gestiegen als das Wirtschaftswachstum Louisianas.
Die Beobachtergruppe Good Jobs First, die den Zusammenhang zwischen staatlichen Wirtschaftssubventionen und Arbeitsplätzen erforscht, merkt zwar an, dass die fünfzig von ihr untersuchten Bundesstaaten ihre Daten in unterschiedlichem Maße offenlegen, unter diesem Vorbehalt stellt sie jedoch fest, dass Louisiana pro Kopf mehr Steuergelder verschenkt als jeder andere Bundesstaat der USA.
»Öl stimuliert die restliche Wirtschaft.«
Bleibt das vom Öl generierte Geld in Louisiana oder verlässt es den Bundesstaat letztlich in Form von Managergehältern und Renditen für Aktionäre, die außerhalb leben? Um diese Frage zu beantworten, verglichen wir Louisianas Bruttoinlandsprodukt (BIP) mit der Gesamtsumme der persönlichen Einkommen. Je mehr Geld aus dem Bundesstaat »abfließt«, umso größer ist die Differenz zwischen BIP und der Gesamtheit der persönlichen Einkommen. Anders ausgedrückt: Wenn die Summe aller persönlichen Einkommen höher ist als das BIP, muss das Geld anderswo hinfließen, da es nicht zum Bruttoinlandsprodukt beiträgt. Aufgrund von Daten des Bureau of Economic Analysis von 2012 berechneten wir den »Abfluss« in Prozent des Einkommens von 1997 bis 2012. In den meisten Jahren lag der Einkommensabfluss aus Louisiana zwischen 20 und 35 Prozent.29 (Er variierte von Jahr zu Jahr und war beispielsweise 2003 gering und 2005 hoch.) Die Gewinne örtlicher Firmen fließen tendenziell nicht in andere Bundesstaaten ab, während dies bei großen multinationalen Konzernen, die Betriebe und Hauptverwaltung an anderen Standorten haben, eher der Fall ist.
»Der Wirtschaft geht es unter einem republikanischen Präsidenten immer besser.«
In dem Zeitraum von 1949 bis 2009 war unter demokratischen Präsidenten die Arbeitslosigkeit geringer und das Bruttoinlandsprodukt höher.30 Der Politikwissenschaftler Larry Bartels wies zudem nach, dass die Ungleichheit unter republikanischen Präsidenten erheblich zunahm und unter Demokraten leicht zurückging.31 Kürzlich bestätigten Wirtschaftswissenschaftler der Princeton University, dass die Wirtschaft der Vereinigten Staaten unter demokratischen Präsidenten schneller wuchs, mehr Arbeitsplätze entstanden, die Arbeitslosenrate sank, höhere Unternehmensgewinne und Investitionen generierte und höhere Aktienrenditen erzielte. Allerdings führen sie dies auf den Zeitpunkt von Ölpreisschocks und die Entstehung wichtiger Technologien zurück, die positive wirtschaftliche Auswirkungen hatten (zum Beispiel das Internet unter Clinton) – mit anderen Worten: Diese Korrelation geht teilweise auf Faktoren zurück, die sich der Kontrolle eines Präsidenten entziehen.32 Unter republikanischen Präsidenten stieg zudem die Staatsverschuldung in Prozent des BIP weitaus stärker als unter Demokraten; für den größten Anstieg der Staatsverschuldung prozentual zum Bruttoinlandsprodukt seit 1945 sorgte Ronald Reagan: nämlich um 60 Prozent. Dagegen gelang es den Präsidenten Truman, Kennedy, Johnson, Carter und Clinton, den Prozentanteil der Staatsverschuldung am BIP zu reduzieren.33