Lucifer Morningstar
Fünfzig Jahre zuvor
Loralei Hecate lief durch die Gänge und ihr dunkles, tiefschwarzes Haar wogte bei jeder Bewegung um ihren Kopf. Das Stück Onyx, das sie in der Hand hielt, würde sie nicht vor der Kreatur beschützen können, die sie verfolgte, doch das hielt Loralei nicht davon ab, sich am Onyx wie an einer Rettungsleine festzuklammern, während ich ihr in die Schatten folgte. Ihre beste Freundin war eine Weiße Hexe, die Loralei den Edelstein als Schutz gegen das nagende Gefühl, verfolgt zu werden, überreicht hatte. Die quälende Sorge konnte sie jedoch nicht abschütteln.
Ihr einziger Schutz wäre die Gruppe gewesen, doch Loralei war leichtsinnig genug gewesen, ihr sicheres Bett mitten in der Nacht zu verlassen. Ich hatte mich nicht sonderlich anstrengen müssen, um sie herauszulocken, ein gehauchter Ruf hatte genügt, so fein, dass er das Amulett um ihren Hals nicht aktivierte.
Ich folgte ihr und hielt mich dabei im Schatten, um nicht aufzufallen. Sie musste am richtigen Ort sterben, denn auch wenn ihr Tod zu meinem Plan gehörte, so lag mir doch nichts daran, sie leiden zu lassen. Ich verspürte kein Bedürfnis, ihre letzten Atemzüge mit Angst und Dunkelheit zu erfüllen.
Ihr Tod hatte nichts Persönliches. Er war vielmehr ein Opfer, das alles andere zur Erfüllung bringen würde.
Jahrhunderte der Planung hingen von diesem Moment ab und bauten darauf auf, dass Loralei ihren letzten Atem aushauchte, doch die Rolle, die sie über die letzten Jahre hinweg in dieser Geschichte gespielt hatte, hatte mir Respekt für sie beigebracht.
Unvermittelt blieb Loralei stehen, drehte sich um und sah mich an. Das helle Blau ihrer Augen leuchtete im Dunkeln auf, es schimmerte wie Mondlicht mit einem weichen Violett, das an ihre Vorfahrin Charlotte erinnerte. Ihre Stirn legte sich in Falten und ihr Mund öffnete sich für einen stummen Schrei, während sie den Onyxkristall auf den Boden fallen ließ.
Der Schutz des Steins war vergessen, als sie erkannte, dass ich ihr folgte. Sie wusste nicht sicher, wer ich war, oder was ich unter dieser Schicht aus Fleisch war, die ich meine Heimstatt nannte, doch von einer Hülle, die ihre Beute in der Nacht verfolgte, war nichts Gutes zu erwarten.
Ich machte einen Schritt auf sie zu, hielt aber ganz plötzlich in meiner Bewegung inne, als mich ein Blick aus nicht zusammenpassenden Augen traf. Ein Frau trat in das Dämmerlicht, das durch die Fenster hereinfiel, und ging zögerlich auf Loralei zu. Ihr Körper hatte etwas Unwirkliches, als wäre sie hier und doch auch wieder nicht, und ich war nicht sicher, ob ich, hätte ich meine Hand nach ihr ausgestreckt, wirklich Fleisch berühren würde oder nur den leisesten Hauch einer halb vergessenen Erinnerung.
Loralei rannte los und stürmte auf eine Biegung im Flur zu, während die Frau die Schatten absuchte, in denen ich mich aufhielt. Sie sah nichts und ihr unheimlicher, mehrfarbiger Blick huschte suchend hin und her, als könnte sie mich spüren , wenn auch nicht sehen.
Dafür sah ich sie.
Ich spürte sie. In dem Augenblick, in dem diese violetten und bernsteinfarbenen Augen die meinen gefunden hatten, wusste ich genau, was sie war – wer sie war. Das mahagonifarbene Haar fiel in sanften Wellen auf ihre Schultern und erinnerte mich mit seinen leicht rötlich schimmernden Spitzen an den besten Merlot. Ihr Körper war kurvig und weich, sie hatte kräftige Oberschenkel, von denen ich mir gut vorstellen konnte, wie sie um meinen Kopf geschlungen waren, und Brüste, die schaukeln würden, während ich sie fickte.
Meine Absichten für die Tochter der Zwei waren nie gewesen, sie zu besitzen. Es war mir nie darum gegangen, sie an mich zu binden, sondern immer nur darum, sie für das zu nutzen, was ihre einzigartige Kombination von Magie mir zu bieten hatte.
Das änderte sich, als sich ein Grollen in meiner Brust ausbreitete und meinen gesamten Körper durchflutete. Der Boden unter meinen Füßen wurde von dieser Gewalt zum Erzittern gebracht und die Fenster klapperten, als sich diese Schichten des Schicksals wie in einer endlosen Sinfonie zusammenfügten, die klang wie im Wind klappernde Knochen.
Loralei packte den Beutel mit den Knochen, den sie an ihrer Hüfte trug, noch fester, als sich die junge Hecate-Hexe abwandte und ihrer Tante folgte. Ihr geisterhaftes Gesicht flackerte im Mondlicht und ihr Blick fiel auf den Knochenbeutel, als könnte sie dessen Ruf hören, als würde ein Teil von ihr erkennen, dass er eines Tages ihr gehören sollte.
Sie verlangte nach den Knochen und ich verlangte nur danach, mir das zu nehmen, was mir gehörte.
Sie.
»Ich habe nicht, was du suchst«, rief Loralei ins Nichts hinein. Sie sah mich unverwandt an und ihr Körper wich bei jedem meiner Schritte weiter zurück. Die Gänge pulsierten, als sie erkannten, was sich durch sie bewegte, denn ich hatte ein klein wenig der Macht offenbart, über die ich in dieser Form verfügte. Ich erfüllte die Universität mit meiner Gegenwart.
Die jüngere Hecate-Hexe, die Frau, die noch nicht einmal geboren war, schwankte und stützte sich mit einer Hand an der Wand ab. Der Atem der beiden Hexen bildete Wolken vor ihren Gesichtern, da die Temperatur in den Gängen so tief gefallen war, dass sie brannte.
»Loralei!«, rief die jüngere Hexe panisch. Loralei warf rasch einen Blick zur Seite, als hätte auch sie die seltsame Hexe gesehen, und ihre Augen weiteten sich, sobald sie sie erkannte. Sie ließ den Knochenbeutel los, der ihr Kraft verlieh, und ihr Körper versteifte sich, während sich zwischen den beiden Frauen etwas aufbaute.
»Lauf, Charlotte. Lauf!«, schrie sie, als die andere Hexe herankam, um ihrer Tante zu helfen.
Charlotte .
Etwas an ihr kam mir vertraut vor, strahlte von ihr in Wellen ab, die mich an die erste Hexe erinnerten. An die Frau, die mich in jener Nacht in den Wäldern angerufen und um die Mittel gebettelt hatte, die sie für ihre Rache brauchte.
Doch der Name passte nicht zu der jungen Hexe, als würde jener Teil von ihr, der sich gegen die Vertrautheit wehrte, auch gegen die Vorstellung rebellieren, fest an ihre Vorfahrin gebunden zu sein, mit der alles angefangen hatte.
Ich schlug zu. Eine Krallenhand, die so schnell aus dem Dunkel hervorschoss, dass ich stark bezweifelte, ob die neue Hexe mich überhaupt gesehen hatte. Loraleis Brust färbte sich rot und aus den drei tiefen Schnittwunden spritzte das Blut ins Gesicht der jüngeren Hexe. Loralei streckte die Hand aus, während sie zusammensackte, und ergriff ihre Nichte am Arm. Der Boden unter ihr erbebte. Ich trat näher und machte mich bereit, mir das zu nehmen, was mir gehörte, auch wenn ich damit alles ruinieren würde.
Mein Körper bewegte sich wie in Trance, als würde sie die Knochen, die sie nicht besaß, nutzen, um meinen Körper zu steuern.
»Wach auf, Willow«, flüsterte Loralei und ihre Augen rollten zurück.
Willow .
Dieser Name passte. Ich ging noch näher heran und meine Aufmerksamkeit richtete sich nicht auf die Hexe, die zu töten ich gekommen war, sondern auf jene, die ich eines Tages besitzen wollte.
Ich zog meine Krallen in drei scharfen, schnellen Bewegungen über ihre Schulter. Willow schrie auf und ihr Blut sammelte sich unter meinen Nägeln, bedeckte meine Finger und gab mir zum ersten Mal seit Jahrhunderten das Gefühl, komplett zu sein. Ich führte meine Finger an den Mund und schmeckte ein erstes Mal meine Zukunft.
Willow drehte sich zu mir und ich überlegte, ob dieses seltsame Wesen mich wohl sehen konnte. Ich überlegte, ob sie bereits mir gehörte, während ich mich vorbeugte und meine Nase in das Haar auf ihrem Hinterkopf vergrub, um ihren Duft einzuatmen.
»Wach auf!«, schrie Loralei.
Der Boden erbebte unter mir, so sehr wuchs mein Zorn, dass die verblutende Hexe alles in ihrer Macht Stehende tat, um mir mein Hexenmädchen wegzunehmen. Willow sank zu Boden und ihr Knie würden gleich auf den Steinboden aufschlagen.
Doch dann verschwand sie.