Willow
In einem Moment war da nur Dunkelheit. Nur Leere, wo einst Licht gewesen war. Die verschwommenen Überreste der Flammen brannten hinter meinen Augenlidern und verhöhnten mich, als ob mein Geist sich auf den Scheiterhaufen vorbereitete.
Dann war da Luft, scharf und schmerzhaft, als sie meine Lunge füllte. Ich schlug die Augen auf. Mit einem rasselnden Atemzug setzte ich mich so plötzlich auf, dass mir schwindelig wurde. Mein Brustkorb brannte, als wäre er eingefroren worden und hätte darauf gewartet, dass ich erwache.
Mein Verstand war ein einziges Chaos, ein Labyrinth, aus dem ich nicht mehr herausfand. Meine Brust pumpte vor Anstrengung, als wäre ich gerade eine Meile gelaufen, und mein Atem ging schwer vor Panik, die mich verzehrte. Langsam bewegte ich die Hand zu meinem Hals und krallte sie dort in die Haut, während ich mich bemühte zu entsinnen, wie ich in Grays Bett gelandet war.
In dem Moment, in dem meine Finger meine Haut berührten, explodierte die Erinnerung daran, wie mein Genick gebrochen worden war. Die Dunkelheit, die darauf folgte, und dann der umfassende und blendende Schmerz, der meinen Körper überwältigt hatte.
Ich kletterte aus dem Bett und verhedderte mich in den Laken, als ich meine Beine über die Kante hievte. Mit einem dumpfen Aufprall landete ich auf dem Boden und kämpfte in meiner Panik darum, mich aus dem hartnäckigen Gewirr zu befreien. Ungestüm warf ich den Kopf hin und her, trat und schlug nach der Decke und kroch schließlich zum Badezimmer, das auf der anderen Seite von Grays Zimmer lag.
»Willow!«, rief er, aber ich konnte es nicht ertragen, ihm den Blick zuzuwenden. Ich hielt es nicht aus, ihn anzusehen, selbst als ich spürte, wie er in den Wohnbereich trat. Ich zog eine Grimasse und versuchte aufzustehen, widerstand jedoch dem Drang zu schreien, als ich meine Beine nicht aus der verdammten Decke lösen konnte.
Meine Brust pochte vor Schmerz und ich presste meine Hand darauf, als sich ein erstickter Laut meine Kehle hinaufkämpfte.
Gray bewegte sich und wich meinen Beinen vorsichtig aus, als er die Decke wegzog und sie auf das Bett fallen ließ. Meine Beine waren nackt, nur ein schwarzes Nachthemd bedeckte meinen Unterleib, während ich meine Schenkel zusammenpresste. Er ließ sich neben mir in der Hocke nieder und beugte sich über mich, sodass ich sein Gesicht sehen konnte. »Du bist in Ordnung«, sagte er leise, seine Stimme klang trügerisch und beruhigend. Sie war wie eine sanfte Melodie, eine aufreizende Anspielung auf die Magie, die in seiner Gestalt als Hülle nicht vorhanden gewesen war.
Fleischgewordene Sünde; ein Körper, dazu geschaffen, die Menschen an einen Ort des endlosen Leidens zu locken.
Tränen brannten mir in den Augen, als ich jenen Klang wahrnahm, der mich immer noch an den Mann erinnerte, den ich gekannt hatte. Der Mann, dem ich dummerweise erlaubt hatte, mich zu täuschen, und in den ich mich verliebt hatte.
Der Mann, der gar nicht existiert hatte.
Ich schlang die Arme um mich, durch meinen Kopf tobte ein Wirbelwind. Ich vermochte mir keinen Reim auf das zu machen, was passiert war. Ich war nicht in der Lage zu verstehen, was er getan und wie lange er das wohl geplant hatte.
»Wie bin ich hierhergekommen?«, fragte ich und schluckte, kniff die Augen zusammen. Ich wäre nicht freiwillig in sein Bett gestiegen, nicht nach allem, was er angerichtet hatte. Da war dieses Loch in meinem Gedächtnis, da klaffte eine Lücke, in der keine Erinnerung existierte.
Ich hatte das Siegel geöffnet und Gray wieder in Lucifers Körper geleitet, aber danach wusste ich nicht mehr viel. »Du musst dich ausruhen«, sagte Gray und schob seine Hand unter mein offenes Haar. Seine Finger streiften meine Haut, umfassten mein Kinn, und er drehte mich zu sich. Seine goldenen Augen schimmerten, als er auf mich herabblickte, und mit dem Daumen liebkoste er meine Haut.
Das Geräusch, wie mein Genick abermals brechen würde, hämmerte durch meinen Verstand und ließ mich zurückweichen, fort von dem Teufel persönlich.
Ich atmete tief und zitternd ein und versuchte, die aufsteigende Übelkeit in meinem Magen niederzuringen, die mit dieser Erkenntnis einherging.
»Ich bin gestorben«, sagte ich, meine Stimme kaum mehr ein Flüstern. Ich starrte Gray – Lucifer – an, zwang mich, mein Hirn zu nutzen und ihm den Namen zu geben, den er schon immer getragen hatte. Ich trennte das Wesen, das vor mir stand, von dem, das ich zu kennen geglaubt hatte.
»Nur kurz«, erwiderte er, als ob ihn das von jeglicher Schuld entbinden würde. Sein Dämon hatte mir das Genick gebrochen und mich aus der Welt gerissen, die ich gerade erst kennengelernt hatte. Aber die Bestätigung reichte aus, um zu wissen, dass er etwas noch weit Schlimmeres getan hatte, um mich zurückzubringen.
»Was hast du getan?«, keuchte ich und schlug mir die Hand vor den Mund, als meine Übelkeit immer heftiger wurde.
»Komm zurück ins Bett, Liebes. Dein Körper braucht mehr Ruhe«, sagte er und ignorierte meine Frage komplett.
Ich stöhnte auf und eilte ins Bad, als mich die Schuldgefühle in meiner bereits vor Schmerz pochenden Brust trafen. Meine Beine rutschten unter mir weg, es fühlte sich an, als ob sie gar nicht zu mir gehörten. Irgendetwas stimmte nicht mit dem Körper, der immer der meine gewesen war; etwas war so seltsam an dem einzigen Zuhause, das ich auf dieser Ebene hatte.
»Willow«, wiederholte Gray und folgte mir mit langsamen, gemessenen Schritten. Er legte seinen Arm um meine Taille und half mir, das Gleichgewicht zu halten, als er mich ins Bad brachte und mich gerade noch rechtzeitig vor der Toilette auf die Knie sinken ließ, damit mein Magen sich entleeren konnte.
Mit sanften Fingern strich er mir die Haare seitlich aus dem Gesicht und dort, wo sie nach vorne zu fallen drohten, während ich mich übergab, hielt er sie im Nacken zusammen. »Du bist in Ordnung«, murmelte er. Ich fragte mich, ob er mich damit überzeugen wollte oder sich selbst.
Mein Magen war noch geraume Zeit, nachdem ich mich übergeben hatte, in Aufruhr, und mein Körper krampfte, als er das loswerden wollte, was längst nicht mehr da war. Ich wischte mir mit dem Handrücken über den Mund, bevor ich eine Hand auf jede Seite der Toilette legte und mich mühselig aufrichtete. Ich spülte den Inhalt hinunter und versuchte, beim Anblick der roten Flüssigkeit im Klo nicht in Panik zu geraten, sondern ging zum Waschbecken, um meinen Mund auszuspülen.
»Keine Sorge, kleine Hexe. Das ist nicht dein Blut«, erklärte Gray hilfsbereit, während sich das Waschbecken rosa färbte. Als ob das Erbrechen von Blut im Moment meine größte Sorge darstellte.
Als ich endlich den Blick hob, sah mein Spiegelbild genauso aus, wie ich es in Erinnerung hatte. Es gab keine Spur davon, dass ich mich so drastisch verändert hatte. Der einzige gravierende Unterschied befand sich auf meiner Brust am oberen Rand meines Dekolletés, wo ein schwarzer Kreis meine Haut befleckte. Ranken aus Dunkelheit schlängelten sich von der Mitte aus weg und kerbten meine Haut wie Risse in einer geborstenen Fensterscheibe.
Mein Amulett hing direkt darüber, das Roségold hob sich deutlich von dem schwarzen Turmalin und dem Mal ab. Mit zitternder Unterlippe starrte ich es an und vermied es, den Fleck mit den Fingern zu berühren. »Wird es wieder verschwinden?«, fragte ich und bohrte die Zähne in meine Unterlippe. Es war so dumm, sich darüber Gedanken zu machen, wenn doch die Alternative war, in der Hölle zu verrotten.
Aber ich wollte nicht den Rest meines Lebens von der Tatsache gebrandmarkt sein, dass er sich geopfert hatte, um mich zu retten.
»Nein«, antwortete er ruhig und reichte mir eine Flasche Mundwasser. Ich ergriff sie zwar, bedankte mich allerdings nicht, nahm dann einen Schluck und spülte meinen Mund gründlich aus.
Als ich fertig war, schaute ich Gray im Spiegel an und hielt seinen unheimlichen goldenen Blick fest. Sein Haar war so zerzaust, wie ich es noch nie gesehen hatte, sein Oberkörper immer noch nackt. Eine einzelne Narbe zog sich weiß von seinem Handgelenk bis zum Ellbogen und ich war mir sicher, dass sie noch nicht da war, bevor ich …
Ich schluckte.
»Wer?«, fragte ich und drehte mich zu ihm um. Er trat näher und sperrte mich zwischen seinem Körper und dem Waschbecken ein, während er sich nach vorne beugte.
»Das spielt keine Rolle«, erwiderte er schlicht und zuckte leicht mit den Schultern, während er mit einem Finger die Dunkelheit berührte, die auf meiner Brust erblühte.
Ich schluckte und versuchte abzuschätzen, wie ich am besten vorgehen sollte. Gray war stark, als ich ihn noch für eine Hülle gehalten hatte, aber in dieser Gestalt musste er über unendlich viel Macht verfügen. Er war derjenige, der meine Vorfahrin erschaffen hatte. Er hatte ihr die Magie gegeben, die sie dann mit allen Hexen teilte. Diese Art von Macht ließ das, was mir zur Verfügung stand, wie harmloses Geplänkel aussehen. »Für mich schon«, sagte ich und wusste nicht, wie ich weitermachen sollte.
Mein Instinkt riet mir, ihm gegen die Kehle zu boxen, ihm das Knie in die Eier zu rammen, ihn schlichtweg in die Vergessenheit zu schicken – und seinem Grinsen nach zu urteilen, wusste der Scheißkerl das auch.
»Sieh mich nicht so an, wenn ich dich nicht über das Waschbecken beugen und dich daran erinnern kann, was du wirklich willst, kleine Hexe«, knurrte er. Er fasste mich bei der Hand und führte mich aus dem Bad. Meine Schritte waren unkoordiniert und ich stolperte über meine eigenen Füße. Er riss die Laken zurück, die er auf das Bett geworfen hatte, als er mich daraus befreit hatte.
»Alles, was ich will, ist dir die Kehle aufzuschlitzen«, fauchte ich und zuckte zusammen, als er in die Nachttischschublade griff und ein Messer herauszog.
Gray reichte es mir, indem er mir den Griff präsentierte, die flache Seite der Klinge hielt er zwischen zwei Fingern. »Dann tu es, Liebes. Schauen wir, ob es etwas bringt«, sagte er und seine Stimme ging in ein herablassendes Lachen über.
Ich nahm das Messer, umklammerte den Griff, und fand doch keinen Trost darin. Ich könnte ihm die Kehle aufschlitzen, aber ich wusste, dass es nichts nützte. Er würde den ganzen Boden vollbluten, eine Fleischwunde könnte ihn allerdings nie aus dem Leben reißen. »Du weißt ganz sicher, dass das für keinen von uns gut ausgehen wird. Wie, stellst du dir vor, soll das enden«, fragte ich und stieß die Spitze des Dolches in den Nachttisch neben dem Bett.
Gray hielt inne und legte einen Finger unter mein Kinn. »Enden?«, gab er zurück; er klang verwundert. Als ob ich diejenige wäre, die den Verstand verloren hätte und einen Realitätscheck bräuchte. »Für dich und mich gibt es kein Ende, kleine Hexe.«
Ich trat einen Schritt zurück, die Matratze hinter mir drückte gegen meine Oberschenkel und ließ mir keinen Ausweg. Es sei denn, ich wollte mich angreifbar machen, indem ich darüber kletterte. Ich hielt inne, reckte das Kinn und starrte ihn an. »Alles hat ein Ende, Lucifer. Sogar du«, sagte ich und zwang meine Unterlippe dazu, nicht zu zittern. Diese Aufgabe schien entmutigend, unmöglich sogar, aber ich würde einen Weg finden.
»Erinnerst du dich noch, als ich dir sagte, dass ich es mir leisten kann, geduldig zu sein? Eines Tages wird alles, was du kennst, jeder, den du liebst, aufhören zu existieren. Dann bin nur noch ich da, an den du dich wenden kannst«, gab er zurück und die Worte trafen mich mitten in die Brust. »Es wäre so schade, wenn du gegen das – uns – kämpfen würdest. Das würde mich vielmehr dazu motivieren, dem natürlichen Lauf von Leben und Tod nachzuhelfen und all jene loszuwerden, die du um Hilfe bittest.«
Ich schluckte und starrte ihn mit gerunzelter Stirn an, versuchte, die Bedeutung seiner Worte zu erfassen. Ganz bestimmt würde er nicht …
Bei der Erinnerung daran, wie er die zwölf anderen neuen Schülerinnen und Schüler, die sich Hollow’s Grove anschließen wollten, schnell und effizient tötete, kniff ich die Augen zu.
Er würde. Er würde und er konnte.
»Lucifer«, sagte ich und angesichts des leisen Flehens in meiner Stimme fühlte ich mich so schwach. Ich hasste ihn dafür, dass er mich dazu brachte, um das Leben der wenigen Freunde zu betteln, die ich hatte.
»Das bin ich nicht. Nicht für dich«, entgegnete er scharf, umfasste dann sanft mein Gesicht und strich mir mit dem Daumen über die Wange.
»Gray.« Das Wort drang erstickt heraus. Ich wollte nicht mehr, dass er Gray war. Ich wollte eine Mahnung daran, dass das Böse unter seiner Haut lauerte.
»Es muss so nicht laufen«, sagte er und erinnerte mich daran, wie es für kurze Zeit zwischen uns gewesen war. Ich erwiderte nichts, weil ich keine Worte fand, um ihn daran zu erinnern, dass er es so hatte laufen lassen. Niemand hatte ihn gezwungen, mich zu manipulieren, mich für seine Zwecke zu benutzen. Er beugte sich vor und seine Lippen streiften sanft meine. Noch bevor ich protestieren konnte, zog er sich zurück. Sein Mund war warm, wo ich sonst nur Kälte gewohnt war. »Ruh dich aus.«
Ich schaute über meine Schulter auf das Bett und schüttelte den Kopf. Ich musste nach Della und Iban sehen, ob sie in Sicherheit waren. »Ich muss …«
»Du musst schlafen. Dein Körper ist vom Tod zurückgekehrt, egal wie kurz er auch war. Schlaf, meine Willow«, sagte er und übte so lange Druck auf meine Schultern aus, bis ich keine andere Wahl mehr hatte, als mich auf den Rand der Matratze zu setzen.
»Nein. Ich muss wissen, wer den Preis für mich bezahlt hat. Wen du an meiner Stelle getötet hast, um einen Ausgleich zu schaffen«, protestierte ich und versuchte aufzustehen.
»Möge die Hölle mir helfen, kleine Hexe. Du wirst dich ausruhen, auch wenn ich dich in dieses Bett legen und dich eigenhändig festhalten muss«, widersprach er, die Warnung hing schwer zwischen uns in der Luft. Ich wollte ihn nicht bei mir im Bett haben, nicht, wenn ich mir in seiner Nähe selbst nicht trauen konnte.
Obwohl ich ihn hasste und ihn für das, was er mir angetan hatte, am liebsten ausgeweidet in die tiefsten Höllengruben zurückgeschickt hätte, erinnerte sich ein Teil von mir daran, wie er sich angefühlt hatte, als ich glaubte, ich würde ihn mögen. »Ich werde mich ausruhen«, sagte ich und unterbreitete ihm ein vorübergehendes Friedensangebot.
Eine Schlacht nach der anderen , erinnerte ich mich.
»Wenn du mir erzählst, wer es ist«, fuhr ich fort und sah, wie er frustriert mit den Zähnen knirschte.
»Eine Hexe. Ich weiß nicht, wie sie heißt, und es ist mir auch egal. Beelzebub hat es schnell und schmerzlos erledigt, genau wie bei dir«, erklärte er, wobei sich diese nüchterne Aussage wie die Wahrheit anfühlte. Gray machte sich nicht die Mühe, die Hexen kennenzulernen, die ihm keine Gegenleistung bieten konnten.
Ich nickte und hoffte, dass er wenigstens Della, Margot oder Nova als meine Mitbewohnerinnen erkannt hätte. Ich wünschte mir inständig, dass sie meinetwegen nicht zu Schaden gekommen waren, denn das konnte ich nicht mit meinem Gewissen vereinbaren.
Langsam hievte ich die Beine ins Bett und ignorierte den Schmerz in meinen Knochen, der sich anfühlte, als würde sich mein ganzes Wesen mit dieser Bewegung versetzen. Als könnte sich mein Körper nicht daran gewöhnen, wie fremdartig es sich anfühlte, von den Toten zurückgekehrt zu sein. Ich ließ mich unbeholfen zurücksinken, wünschte mir, ich hätte mehr Kleidung und hasste den Gedanken, dass Gray mich umgezogen hatte, während ich bewusstlos gewesen war. Sobald mein Kopf das Kissen berührte, deckte Gray mich zu und ließ sich auf dem Stuhl neben dem Bett nieder.
Ich seufzte und starrte an die Decke.
Wer konnte schon schlafen, wenn der Teufel ihn beobachtete?