20

Gray

Willows Blick schweifte über die fünfzig Gestalten, die noch vor wenigen Augenblicken tot gewesen waren, und nahm den Anblick jeder einzelnen in sich auf. Jene, die ich getötet hatte, um das Siegel zu öffnen, erwiderten ihren Blick, waren sie doch erst kürzlich begraben worden, während Willow sich schlafend von den Anstrengungen ihrer eigenen Wiedererweckung erholt hatte.

Unaufhörlich hatte ich darüber nachgedacht, wie ihre Grüne Magie auf die Kräfte der Totenbeschwörung in ihren Adern reagieren würde. Über die Komplikationen, die sich ergeben könnten, da Willow unerfahren war, was das Abschließen einer der in ihr fließenden Kräfte anging. Sie könnten zwei unabhängige Einheiten bilden, würde Willow sie dazu formen, doch bis dahin … ganz offensichtlich war ihr natürlicher Instinkt, die beiden zu kombinieren und nahtlos miteinander einzusetzen.

Ich hätte es kommen sehen müssen, nachdem sie die Throne so miteinander verschmolzen und etwas Neues erschaffen hatte.

Willow selbst war etwas Neues. Sie war keine Madizza oder Hecate, war weder eine Grüne noch eine Schwarze. Sie war ein Teil von mir, und das war sie schon gewesen, noch bevor sie die ersten leisen Einflüsse der anderen Hexenkräfte auf ihre Seele entdeckt hatte. Um sie zurückzuholen, hatte ich ihr ausreichend von meinem Blut geschenkt, sodass sie nun Zugang zu Kräften besaß, die nicht die ihren waren.

Genau wie der Covenant vor ihr.

Sie waren der Geist dessen, über was ich verfügte, und das war der Grund, warum der Covenant niemals stark genug war, um mich wirklich herauszufordern. Doch Willow besaß bereits die Gaben, die ihr von Geburt aus zustanden, und dann hatte ich wie ein verdammter Idiot noch welche hinzugefügt.

Sie war eine tickende Zeitbombe und es grenzte an ein Wunder, dass sie nicht schon etwas deutlich Schlimmeres getan hatte als das.

»Gray«, sagte Willow und das Lächeln, das über ihr Gesicht zog, schnitt durch mein Herz. Ich wünschte fast, ich hätte doch keines besessen, damit ich nicht das Echo ihres Schmerzes spüren musste, als sie die Wahrheit dessen anerkannte, was sie getan hatte.

Und was sie noch würde tun müssen, um es wiedergutzumachen.

»Sind sie am Leben?«, fragte sie, als könne sie es selbst nicht recht glauben. Sie wusste genug über ihre Erblinie, um zu verstehen, dass die Gestalten eigentlich geistlose Zombies hätten sein sollen, eine Armee von Untoten, die nur existierten, um ihr zu dienen. Stattdessen liefen sie nun auf dem Friedhof umher und grüßten freudig all jene mit Umarmungen, die sie kannten.

Der Coven war kurz nach mir aus dem Tribunal gekommen, doch Willow war zu sehr in ihrer Magie und dem Ruf des Todes verloren gewesen, um das zu bemerken. Sie drehte sich nun um, als ich über ihre Schulter blickte, und sah, wie sie angestarrt wurde. Alles in ihr wurde ruhig und ich griff nach ihrer Hand, um sie zu ermutigen.

Della war die Erste, die auf uns zutrat. Sie ergriff den Stoff ihres Kleides und raffte ihn in einer Faust zusammen, um elegant auf die Knie sinken zu können. Vor Willow auf dem Boden kniend, erhob sie den Blick zu ihr und sprach: »Mihi donum tuum est , Covenant«. Bei diesem Versprechen, ihre magische Kraft an Willow weiterzugeben, presste sie die Hände auf den Boden neben Willows Füßen und beugte sich vor, um mit der Stirn die Erde zu berühren.

Wasser sammelte sich auf den Grashalmen und wickelte sich dann zu einem Strang auf, der sich an Willows Beinen nach oben schlängelte. Er wickelte sich über ihr Kleid und wand sich in Kurven wie eine Schlange in Richtung von Willows Brust. Meine Frau erschauderte bei der kalten Berührung, als das Wasser die Haut ihrer Arme und Brust erreichte, in ihren Körper eindrang und eins mit ihr wurde. Della war zu jung, um ein solches Opfer der Gefolgschaft zu bringen, doch ihre Loyalität brachte auch andere Hexen dazu, nach vorn zu treten und auf die Knie zu gehen.

»Warum?«, wollte Willow wissen, als eine der ältesten Hexen sich nur mit Mühe aus ihrer Verbeugung wieder aufrichten konnte. Sie streckte den Arm aus, um der alten Frau zu helfen, und das Gelb ihrer Kleidung strahlte vor dem schwarzen Stoff von Willows Kleid.

»Wir haben keinen Covenant. Wir haben kein Tribunal. Es gibt niemanden, der uns nach Jahrhunderten der Ruhe und Ordnung nun durch dieses Chaos führen könnte«, erklärte die alte Hexe und sah mich über Willows Schulter an. »Wir mögen vielleicht deine Nähe zum Morningstar nicht, aber unsere Vorfahrinnen vertrauten Charlotte. Sie hat uns vor dem sicheren Tod gerettet und uns diesen Ort geschenkt. Sie gab uns etwas, an das wir glauben konnten.«

»Ich bin nicht Charlotte«, sagte Willow und hob ihr Kinn. Sie würde den Mantel der Macht nicht annehmen, wenn man ihn ihr nur überreichte, weil man sie für jemanden hielt, der sie nicht war. Sie würde entweder mit Feuer in ihrem Blut herrschen oder zusehen, wie der Coven in Flammen aufging, doch auf jeden Fall würde sie es voller Ehrlichkeit tun.

»Nein, das bist du nicht. Aber ich denke, du bist für uns jemand, an den wir glauben können«, erwiderte Della und machte einen Schritt zurück, damit die anderen nach vorn treten und die Prozession des Treueschwurs fortsetzen konnten. Die Einzigen, die sich ihr in den Weg hätten stellen können, waren jene, die einst das Tribunal gebildet und sich näher an der Macht befunden hatten als Willow.

Doch um die hatte Willow sich bereits gekümmert, als sie den Coven gegen sie gewendet und sie damit dem Tod in jenem Tribunalraum überlassen hatte, aus dem heraus sie einst geherrscht hatten.

Nachdem die letzten Hexen Willow angeblickt und ihr die Gefolgschaft versprochen hatten, wandte sich Willow zu mir um und sah zu jenen hinüber, die von ihr wiedererweckt worden waren. Die Hoffnung in ihren Augen ließ in mir den Wunsch entstehen zu sterben, da ich wusste, dass ich derjenige sein würde, der ihr diese Zuversicht wieder rauben musste. »Ich weiß, die Dinge sind im Augenblick durcheinander, aber ich muss nach Vermont fahren«, erklärte Willow.

Loralei ging ein paar Schritte auf Willow zu, doch ich ergriff die Hände meiner Ehefrau. »Willow«, hob ich an, machte dann jedoch eine Pause, da ich mit den Worten kämpfte, die ich für die Erklärung brauchte.

»Sie ist ganz allein«, sagte Willow und ein Lächeln erschien, das ihr Gesicht so wunderschön wirken ließ. Tränen brannten in ihren Augen bei dem Gedanken, was sie ihrer Mutter geben konnte, jetzt, da die vom Covenant ausgehende Gefahr gebannt war, der sie in dem Versuch, sie gefügig zu machen, aus ihrem Zuhause vertrieben hatte. »Aber ich kann sie zurückbringen.«

»Kleine Hexe, sie können nicht bleiben.« Ich sah zu, wie ihr Lächeln erstarb. Im nächsten Moment war es ganz verschwunden und ihre Verwirrung zeigte sich in einem Stirnrunzeln. Sie trat einen Schritt zurück und zog an ihren Händen, als ich sie nicht loslassen wollte.

»Wovon redest du?«, fragte Willow und sah mich an, als hätte ich soeben ihre Welt zerstört.

»Du weißt am besten von uns allen, wie empfindlich das Gleichgewicht ist. Du hast dem Tod etwas genommen«, erklärte ich und neigte den Kopf zur Seite. Ich kämpfte so stark dagegen an, mir das aufsteigende Gefühl, Willow fortzustoßen, nicht ansehen zu lassen, dass es mir im Gesicht wehtat. Es traf mich wie ein Schlag auf die Brust und bohrte sich tief in mein Herz, als wären es tausend Klingen. »Du musst ihm auch etwas zurückgeben.«

»Du hast mich gerettet!«, rief sie, befreite sich aus meiner Berührung und stolperte zurück. »Und du hast mich auch nicht zurückgegeben!«

»Ich war bereit, den Preis zu zahlen, den es kostete, dich hier zu behalten! Ich war bereit, jeden anderen zu ermorden, den das Gleichgewicht von mir forderte, wenn das bedeutete, dass ich dich behalten durfte, und ich werde diese Entscheidung keinen einzigen Moment bereuen. Wen würdest du im Gegenzug für sie anbieten?«, wollte ich wissen und ging auf Willow zu, die den Kopf schüttelte. Sie sah zu der Gruppe Hexen hin, die hinter ihr stand, und das Ausmaß der Tode, die sie für die Wiedererweckten zahlen musste, ließ ihre Brust erbeben.

So sehr mein Hexenmädchen auch vorgeben wollte, unbarmherzig zu sein, so sehr lagen ihr doch andere am Herzen. Sie lagen ihr so verdammt am Herzen, dass sie keine Unschuldigen zum Tode verurteilen konnte, um jene zu retten, die bereits ihre Chance gehabt und verloren hatten.

»Ich kann meine Mutter nicht aufgeben«, sagte Willow und ihre Unterlippe zitterte. »Mir ist egal, wen es trifft, ich werde …«

»Dir niemals selbst vergeben«, fuhr ich dazwischen und ging auf sie zu, um ihr Gesicht in die Hände zu nehmen und zu ihr hinabzuschauen. »Was, wenn das Gleichgewicht Ash verlangt, um an die Stelle deiner Mutter zu treten?«

Sie wurde bleich und schüttelte wild den Kopf, während ihre Nasenflügel bebten. »Was ist der Sinn dieser Macht, wenn ich sie verdammt noch mal nicht einsetzen kann?!«, brüllte Willow. Sie vergrub das Gesicht in den Händen, bevor sie sie frustriert in ihre Haare schob.

»Der Sinn, dass du diese Macht besitzt«, erklärte ich und steckte die Hände in die Taschen, damit ich sie nicht nach Willow ausstreckte, »liegt darin, dass andere dir so am Herzen liegen, dass du die Macht nicht missbrauchst.« Ich lächelte traurig. Sie würde in der Stille unseres Zimmers später meinen Trost brauchen, wenn sie ohne die Beobachtung anderer zusammenbrechen konnte.

Jetzt brauchte sie meine Stärke.

Bei allen anderen hätte ich nie geglaubt, dass sie durch ihr Leben gehen würden, ohne jemals das Gleichgewicht aus eigennützigen Gründen zu stören. Willow jedoch würde mit dem Leben anderer niemals Gott spielen wollen.

»Es ist okay«, sagte Loralei und trat nun doch an Willows Seite. Sie ließ nichts von ihrem Hass auf mich erkennen und nichts von ihrer Erinnerung an mich, der sie getötet hatte. Sie hatte nur Augen für ihre Nichte und wollte sie verstehen. Sie ergriff Willows Hände und führte sie zum Waldrand. Ich wusste, was zwischen diesen Bäumen wartete: die Gruft, von der viele von uns nichts ahnten. »Bette uns zur Ruhe. Gib uns endlich unseren Frieden.«

Loralei war die Einzige, die mit Willow in den Wald ging, aus Respekt vor der Heiligkeit der Hecate-Gruft. Dort ruhten zwar nicht die Knochen, die die Macht kanalisierten, doch in ihr lagen die Knochen, die nicht in den Beutel passten, den die meisten Hecate-Hexen an ihren Hüften getragen hatten.

Ich sah zu, wie sie mit ihrer Tante zwischen den Bäumen verschwand und wusste, dass dies etwas war, das sie selbstständig entdecken musste. Ich konnte die Emotionen spüren, die in ihr hochschlugen, auch wenn ich sie nicht sehen konnte, und wusste, um was Loralei sie gebeten hatte. Durch was sie Willow führte, wenn ich es nicht konnte.

Der Coven sah zu und alle blickten sich ernst an, während Willow die Aufgabe erledigte, die keine andere übernehmen konnte. Sie legte die letzten der Hecate-Knochen zur ordentlichen Ruhe und nahm, was Loralei versagt geblieben war. Loralei war die erste Hexe gewesen, der man ihre Bestattungsrechte verweigert hatte, auch wenn dies heimlich geschah, als der Coven noch nicht wusste, was sich ereignete.

Es war nur gerecht, dass Loralei die Erste war, die Frieden finden sollte.

Willow taumelte aus dem Wald heraus, eine angespannte Miene auf dem Gesicht, die Lippen fest zusammengepresst. In ihrer Hand bewegte sie einen Fingerknochen, umschloss ihn mit ihren eigenen Fingern, bevor sie ihn in die um ihre Hüfte baumelnde Kette einfügte. Der Knochen ihrer Tante hatte den Platz eingenommen, der ihm zustand, und ließ sich gerade in dem Moment an ihrer Hüfte nieder, als Willows Blick den meinen traf.

»Kleine Hexe«, begrüßte ich sie vom Friedhof aus und machte einen Schritt auf sie zu. Willow wandte sich von mir ab, trat in die Mitte und rief nach den Weißen. Alle, die zu diesem Haus gehörten, rückten vor und erlaubten es Willow, sie zu den Kristallklippen am Meer zu führen. Meine Frau ging den steinigen Weg den Hügel hinunter und die Reihe Weißer Hexen folgte Willow. Ihre weiten weißen Kleider ließen sie wie Gespenster wirken, und auch wenn sie eine körperliche Gestalt besaßen, so hätten sie doch auch Gespenster sein können, wie sie Willow so wortlos folgten. Sie blieb am Rand der Klippe stehen und sah den weiß gekleideten Hexen zu, die sich über die Kristalle verteilten.

Die Szene spiegelte sich im Mondlicht und es strahlte eine schillernde Menge an Farben durch die Nacht und von ihren weißen Roben. Als die jüngste der Hexen ihren Körper über einen violetten Kristall gelegt, sich auf dem Rücken ausgebreitet und ihr Kleid zu Boden fallen gelassen hatte, hob Willow eine Hand in ihre Richtung.

Sie sah mich kurz an, der ich oben auf der Klippe stand, und ich erkannte eine einzelne Träne, die über ihre zitternden Lippen lief, nachdem sie die Augen geschlossen hatte.

Ihr Mund öffnete sich.

Willow nahm einen tiefen Atemzug, hielt ihn in ihrer Lunge und saugte damit das Leben zurück in sich hinein. Ihre Haut leuchtete auf, als sie es trank, sie schimmerte golden. Auf den Kristallen kehrten die Hexen, ohne die Magie, die Willow ihnen verliehen hatte, in ihren natürlichen Zustand zurück.

Fleisch schmolz von den Knochen und der Geruch nach Verwesung hing in der Luft. Er kroch über die Kristalle und verteilte das Blut und die Essenz der Magie zurück in die Quelle, aus der sie gekommen waren.

Willow schluckte, ihre Züge verzerrten sich unter der Konzentration, bis sie es schließlich wagte, ihre Hexenkraft völlig loszulassen.

Langsam öffneten sich ihre Augen wieder und sie blickte auf das Blutbad der Toten, die zu retten sie gehofft hatte. Sie drehte ihnen nun den Rücken zu, das Gesicht vor Anstrengung ganz bleich, als sie die Klippe heraufkam.

Sie war mit vier Hexen an ihrer Seite hinabgestiegen, aber wie ich nun erkannte, kehrte Willow immer allein zurück.